Meinung

Die Visionen des Micheil Saakaschwili: Putin verleibt sich Teile von Schweden oder Finnland ein

Wäre es nicht in einem angesehenen politischen Medium und wäre der Autor nicht ein ehemaliger Staatspräsident, könnte man den Artikel als Satire belächeln und einfach vergessen. So aber ist es eine gefährliche Hetzschrift, die nicht ganz zufällig zum jetzigen Zeitpunkt erschienen ist.
Die Visionen des Micheil Saakaschwili: Putin verleibt sich Teile von Schweden oder Finnland einQuelle: AFP © Remko de Waal

von Zlatko Percinic

Im renommierten Magazin Foreign Policy veröffentlichte der ehemalige georgische Staatspräsident Saakaschwili einen Artikel, der die Atmosphäre zwischen dem Westen und Russland noch weiter vergiften und vielen Kommentatoren sehr viel Gesprächsstoff liefern dürfte. Mit dem Titel "Russlands nächste Landnahme wird nicht in einem ehemaligen Sowjetstaat sein. Es wird in Europa sein", setzte er die Stoßrichtung klar fest.

Zuerst kam er wegen Georgien, dann wegen der Ukraine. Wladimir Putins nächstes Ziel dürfte eine Nicht-NATO-Nation in der EU sein.

Warum eine Nicht-NATO-Nation in der EU? Diese Frage beantwortet der durch abenteuerliche Aktionen staatenlos gewordene und mittlerweile in den Niederlanden lebende Ex-Präsident wie folgt:

Putin ist beides, vorhersehbar und logisch: Einen schwächeren Nachbarn zu überfallen ist ein billigerer und schnellerer Umfrageschub als beispielsweise das dystopische russische Gesundheitssystem zu verbessern. Es ist kein Zufall, dass Putins Zustimmungswerte 2015 nach der Annexion der Krim auf dem Höchststand waren. Als die russische Wirtschaft später im selben Jahr sank, sorgte die Intervention in Syrien für die Erhöhung des Patriotismus. Russlands Aktionen in Syrien markierten Putins Graduierung von militärischem Abenteuertum in den ehemaligen Sowjetstaaten zur Machtprojektion außerhalb Russlands 'nahem Ausland'.

Und da aus Saakaschwilis Sicht die bisherigen angeblichen russischen "Aggressionen" in Georgien und der Ukraine – vor denen er nach eigener Aussage westliche Regierungen immer wieder im Vorfeld gewarnt hatte – nur mit "müden Klischees" beantwortet wurden, während gleichzeitig die Umfragewerte des russischen Präsidenten jeweils steil nach oben zeigten, kann es deshalb nur in diese Richtung weitergehen. Nur könne der "Status Quo nicht mehr länger halten".

Gemäß aktuellen Umfragewerten liegt die Zustimmung für Putin bei 32 Prozent, so schlecht wie seit 2006 nicht mehr, hält Saakaschwili fest. Doch die letzten "Provokationen" des Kremlchefs, wie der Kertsch-Vorfall im November 2018, hätten nicht zur Steigerung der Popularität Putins bei der russischen Bevölkerung geführt. Gemäß der Logik des ehemaligen georgischen Präsidenten wird Wladimir Putin in den Augen der Russen nur dann als starker Präsident wahrgenommen, wenn er vom Westen attackiert wird. Und das wiederum geschehe nur, wenn Russland weiterhin seine "neoimperialen Ambitionen" durch "Landnahmen" befriedigt.

Damit also Putin seine Umfragewerte wieder aus dem Keller holen könne – weshalb er das tun sollte, nachdem erst im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahlen in Russland waren und Putin seine letzte Amtszeit angetreten hat, bleibt offen –, müsse er vom Westen scharf angegriffen werden. Das wiederum würde nur geschehen, wenn es eine "russische Aggression" gäbe, und zwar nicht irgendwo, sondern im Westen.

Nur ist Putin nicht so dumm und riskiert einen Krieg gegen die NATO, argumentiert Saakaschwili weiter. Nein, er wird sich deshalb ein anderes Land aussuchen.

Ich hatte das Pech, Putin besser kennenzulernen als die meisten anderen Menschen. Ausgehend von diesem Wissen aus erster Hand sage ich eine andere Richtung der Eskalation voraus. Russlands höchstwahrscheinliches Ziel in der nahen Zukunft ist entweder Finnland oder Schweden. Obwohl beide Mitglieder der EU sind, sind sie keine Mitglieder der NATO. Durch einen Angriff auf ein Nicht-NATO-Land riskiert Putin nicht eine proportionale Antwort in Übereinstimmung mit dem Artikel 5. Doch indem er ein europäisches Land ins Visier nimmt, kann er die Belohnung der öffentlichen Zustimmung von Wählern zu Hause ernten, die verzweifelt nach einem Sieg suchen.

Natürlich erwartet der im Exil lebende Georgier nicht, dass "russische Panzer ohne Gegenwehr in Helsinki oder Stockholm einrollen". Aber es wäre "für Moskau relativ einfach, eine Landnahme in einer entfernten arktischen Enklave oder auf einer kleinen Insel auszuführen, wie Schwedens Gotland". Wer würde denn schon wegen "einer gefrorenen baltischen Insel oder einem Stück von Finnlands Tundra" in den Krieg ziehen, fragt sich Saakaschwili. Die NATO nicht, aber dafür Putin, "weil es bei ihm um mehr geht".

Micheil Saakaschwili ist zu einer schillernden Politik-Persönlichkeit geworden. In Europa und den USA ausgebildet, kehrte er Mitte der 1990er Jahre zurück in seine Heimat Georgien und stieg in die Politik ein. Als Oppositionsführer nahm er an der Rosenrevolution teil und ließ seine Anhänger das georgische Parlament in Tiflis stürmen, wo sie sich am 22. November 2003 Zugang zum Plenarsaal verschafften und den Präsidenten Eduard Schewardnadse zum Rücktritt zwangen.

Bei der Wahl nach dem geglückten Putsch am 4. Januar 2004 wurde Saakaschwili mit einer absoluten Mehrheit von 96 Prozent zum Präsidenten gewählt. Schnell holte er sich Daniel Kunin als "Berater" zur Hand, dem Direktor der ersten NDI-Niederlassung (National Democratic Institute – außenpolitischer Arm der Demokratischen Partei in den USA) in Tiflis und Sohn von Madelaine Kunin, Gouverneurin des US-Bundesstaates Vermont und Bill Clintons Botschafterin in Bern/Schweiz. So sicherte sich der neue Präsident von Georgien geschickt die Unterstützung des Weißen Hauses in Washington, um seine eigenen Pläne in die Tat umzusetzen.

Ein weiterer "Berater" der ersten Stunde war Randy Scheunemann, der schon einige Jahre zuvor für den mittlerweile verstorbenen US-Senator John McCain gearbeitet hatte und der später im Rahmen von McCains Präsidentschaftswahlkampf 2008 wieder für den Senator aus Arizona tätig wurde. Randy Scheunemanns Unternehmen verlängerte auch während der Beratertätigkeit des Inhabers Scheunemann für John McCain den Vertrag mit der georgischen Regierung. Bei einem Zwei-Mann-Unternehmen dürften in diesem Zusammenhang ernsthafte Interessenkonflikte entstanden sein, die alle Beteiligten natürlich bestritten.

Randy Scheunemann war zudem Direktor des berüchtigten neokonservativen Think Tanks "Project for a New American Century" (PNAC) und auch Berater des Exil-Irakers Achmed Tschalabi, der sich der US-amerikanischen Regierung bereits vor 2003 als Heilsbringer für den Irak präsentiert hatte und auf eine US-Invasion drängte. Nach dem Sturz von Saddam Hussein wechselte er zum mächtigen American Enterprise Institute (AEI), wo er sich auch für einen US-Angriff auf den Iran stark machte.

Nach nur wenigen Jahren im Amt erblasste der einst so leuchtende Stern des Micheil Saakaschwili bereits. Massenproteste gegen ihn ließ er im November 2007 brutal niederknüppeln und verhängte daraufhin den Ausnahmezustand in Georgien. Um den Protesten und Vorwürfen gegen ihn ein Ventil zu verschaffen, erklärte er sich für Neuwahlen bereit. Mit 53,4 Prozent wurde er am 5. Januar 2008 zwar wiedergewählt, allerdings lag die Wahlbeteiligung mit 59 Prozent auf einem historisch niedrigen Niveau.

Im August 2008 tat er schließlich etwas, was er heute dem russischen Präsident Wladimir Putin vorwirft: Er zettelte einen Krieg gegen die abtrünnige Provinz Südossetien an, um einerseits die Zustimmungswerte zu erhöhen und andererseits den von ihm verfolgten Gang in die EU und die NATO zu beschleunigen.

Die georgische Staatsanwaltschaft fing noch während der letzten Amtsmonate im Mai 2013 mit Ermittlungen gegen den Präsidenten an. Ihm wurden Korruption, Machtmissbrauch, seine Rolle bei der Niederschlagung der Massenproteste von 2007 und auch die Provokation in Südossetien vorgeworfen. Doch bevor es zu einem Urteil kommen konnte, verließ Saakaschwili nach seiner Amtszeit Georgien und ließ sich in den Vereinigten Staaten von Amerika nieder. Im August 2014 erließ dann die Staatsanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl gegen den Ex-Präsidenten, um ihn zur Anhörung vor ein Gericht in seinem Heimatland zu bringen. Im Jahr 2018 folgte schließlich das Urteil gegen ihn: drei Jahre Haft in Abwesenheit.

Bereits im Februar 2015 nahm Saakaschwili ein überraschendes Angebot eines anderen Präsidenten an, der ebenfalls nach einem Putsch an die Macht kam. Petro Poroschenko holte sich den Georgier als Berater mit der Hoffnung ins Land, dass er durch seine Kontakte in den USA wirtschaftliche Investitionen in die Ukraine bringen könnte. Doch schon nach drei Monaten ernannte ihn Poroschenko zum Gouverneur des Bezirks Odessa am Schwarzen Meer und gewährte ihm dafür eigens die ukrainische Staatsbürgerschaft. Das wiederum führte schließlich dazu, dass Saakaschwili seine georgische Staatsbürgerschaft im Dezember 2015 entzogen wurde.

Die Zusammenarbeit zwischen dem neuen ukrainischen Staatsbürger und dessen Präsidenten in Kiew verschlechterte sich hingegen rapide. Sie wurde sogar so schlecht, dass ihm die Staatsbürgerschaft durch Poroschenko im Juli 2017 wieder entzogen wurde, weil er angeblich bei seinem Antrag verschleiert hatte, dass er in Georgien per Haftbefehl gesucht wird. Was dann folgte, war ein politisches Katz-und-Maus-Spiel zwischen den ukrainischen Behörden und dem einstigen Hoffnungsträger aus Georgien. Der Verhaftung und Ausweisung folgte im September 2017 ein gewaltsames Eindringen in die Ukraine, unterstützt von Oppositionspolitikern wie der gegenwärtigen Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko. Schließlich wurde Micheil Saakaschwili am 13. Februar 2018 wie ein Verbrecher in einem Restaurant in Kiew festgesetzt und nach Polen deportiert.

Ein unrühmliches Ende für einen Mann, der Präsident Georgiens und Berater und Gouverneur in der Ukraine war und von beiden Ländern jeweils die Staatsbürgerschaft für seine politischen Handlungen entzogen bekam. Doch Saakaschwili denkt gar nicht ans Aufgeben. In seinem Exil in den Niederlanden, wo er sich wie ein Flüchtling aufgrund seiner Ehe mit einer Niederländerin niederlassen durfte, plant er bereits den nächsten Coup: Am 1. April, einen Tag nach der Präsidentschaftswahl in der Ukraine, will er wieder nach Kiew reisen. Und mit einem solchen Artikel wie den in der Foreign Policy bringt er sich schon mal in die Schlagzeilen und erhofft sich politische Rückendeckung von seinen ehemaligen Weggefährten.

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