Erfindung der Russen? Deutsche Freunde des Baltikums schauen bei Problemen der Region lieber weg
von Wladislaw Sankin
"North Stream 2, digitale Trollarmeen, die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine sowie die versuchte Einflussnahme auf Wahlen in der gesamten westlichen Welt: Putins Russland stellt Europa immer wieder aufs Neue vor Zerreißproben." – so fängt der Teaser für eine Podiumsdiskussion der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema "Russland, Deutschland und das Baltikum: Freunde, Partner oder Feinde?" an.
Man könnte dabei denken, der Teaser leitet zu einer gewöhnlichen Propaganda-Veranstaltung einer deutschen Politstiftung ein. Antirussisches Narrativ, faktendünn und dennoch fest in den Köpfen des Politmainstreams verankert, müsste wieder neu diskutiert werden. Diesmal anhand des Baltikums, wie die Fragestellung weiter verdeutlichte: "Welche Ziele verfolgt Russland im Baltikum und darüber hinaus? Welche Rolle erhoffen sich die Balten von Deutschland? Und wie entwickelt sich das Verhältnis der sehr unterschiedlichen Länder zueinander?"
Die Erwartung täuschte, zunächst. Der Chef des Moskauer Büros der Stiftung, Julius von Freytag-Loringhoven, bemühte sich in seinem Impuls-Vortrag um eine differenzierte, faire Diskussion. Unkonventionell und anregend für weitere Debatten war z. B. sein Deutungs-Mosaik zu Zielen der aktiv betriebenen russischen Außenpolitik. Machistisch, größenwahnsinnig oder doch realistisch und spiegelverkehrt soll sie sein – Deutungsmuster, die zu je unterschiedlichen Implikationen auf der westlichen Seite führen sollten:
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Von Freytag-Loringhoven, der Nachfahre eines deutsch-baltischen Adelsgeschlechts, fand auch grassierende Russophobie unter baltischen Eliten verstörend. Nach seiner Meinung sollte die Region mit ihrem starken historischen Russland-Bezug nicht wieder zu einem Cardon sanitaiere degradiert werden, sondern zu einem Transfer-Gebiet werden, das sowohl eine verbindende als auch eine durchaus eigenständige Rolle und Funktion im gesamteuropäischen Kontext spielt.
Der FDP-Mann konnte jedoch nicht erklären, inwieweit die inzwischen berühmt-berüchtigte "Angst der Balten vor Russen" mit Fakten einer unmittelbaren Bedrohung gedeckt ist. Es war während der Veranstaltung auch immer wieder zu hören, dass eine EU-Armee angesichts der "Bedrohungen" gestärkt werden sollte. Die Frage von RT, warum russisches Bemühen um eine kollektive und ungeteilte, gesamteuropäische Sicherheit in EU- und NATO-Staaten nicht diskutiert werden dürfte, konnte der Experte nicht beantworten.
Ebenso vermochten die geladenen Baltikum-Experten keine Stellung zur Menschenrechtslage in den EU-Staaten Litauen, Lettland und Estland zu nehmen. Das lettische Komitee für Menschenrechte alarmiert seit Jahren alle Gremien in UNO und EU über die Verschlechterung der Menschenrechtslage in den baltischen Staaten. Konkret heißt es, dass die Schritte zur Liquidierung der russischsprachigen Bildung in Lettland und Estland die Rahmenkonvention zum Schutz der nationalen Minderheiten und die Konvention über Kinderrechte verletzten.
Nach einem langen Schweigen folgte im Februar die erste Reaktion aus der EU. So äußerte der Kulturausschuss des EU-Parlaments in einem Schreiben an den lettischen Premier Arturs Krišjānis Kariņš Besorgnis über die Pläne, Bildung in den Sprachen der Minderheiten auf allen Ebenen des Bildungssystems zu liquidieren.
Das Schreiben weist darauf hin, dass die Resolution des EU-Parlaments über Schutz und Nicht-Diskriminierung von Minderheiten in der EU direkte Anweisungen beinhaltet, wonach die EU-Mitgliedsländer das Recht auf Nutzung der Minderheitssprachen und den Schutz der Sprachenvielfalt gewährleisten sollen.
Im Lettland, wo bis zu einem Drittel der Bevölkerung russische Muttersprachler sind, finden regelmäßig Proteste gegen die Schließungen der russischen Schulen statt, es häufen sich Berichte über Assimilationsdruck der Behörden. Auf diese Problematik von RT angesprochen, konnten die Historiker und Baltikumexperten Martin Pabst und Detlef Henning vom Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e. V. an der Universität Hamburg weder Assimilationsdruck noch Probleme mit der russischen Bildung in Lettland und Estland bestätigen. Der Alarm der russischen Aktivisten sei maßlos übertrieben, so Henning.
Auch die hochumstrittenen Einbürgerungsgesetze, wonach derzeit etwa 330.000 sogenannte Nichtbürger in Lettland und Estland leben, blieben von den Experten unerwähnt. Die Nichtbürger sind ehemaligen Sowjetbürger und ihre Kinder, die nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 einen Sonderstatus erhielten und später in einem aufwendigen Einbürgerungsverfahren "naturalisiert" werden sollten. Sie haben sich, aus anderen Sowjetrepubliken kommend, in dem Land in den Jahren nach 1940 im Züge der Industrialisierung der baltischen Republiken niedergelassen und haben im Jahr 1990 ebenso wie die alteingesessene Bürger für die Unabhängigkeit gestimmt.
Es ist nicht so, dass die deutschen Medien dieses Problem komplett verschweigen. "In Estland und Lettland werden Ex-Sowjetbürger systematisch benachteiligt, vor allem russischsprachige. Die 'Nichtbürger' stehen unter Generalverdacht, die Diskriminierung trifft auch Neugeborene.", schreib z. B. der Spiegel im Jahr 2017. Und das anschaulichste Beispiel für Assimilationsdruck ist die Zwangslettisierung der russischen Namen und Vornamen in den Pässen, selbst bei den "Nichtbürgern". Dies führt zu erheblichen Verzerrungen der Namen und erfolgt automatisch, in der Regel gegen den Willen der Betroffenen. Eine rückwirkende Änderung kann man nur im Züge eines langwierigen Gerichtsverfahren erwirken.
Die beiden Experten haben sich vielmehr um ein positives Bild der baltischen Staaten bemüht. Weder die systematische Ehrung der Nazi-Kollaborateure und Verfolgung der Andersdenkenden – Menschen, die z. B. die offizielle Version der Geschichte nicht unterstützen – noch Probleme wie der Bevölkerungsrückgang konnten dieses Bild trüben – sie blieben ebenso unerwähnt.
Dabei ist der Bevölkerungsschwund das Problem, das die Regierungen seit Jahren beschäftigt. Nach fast 30 Jahren der Unabhängigkeit verloren die drei baltischen Staaten 22 Prozent der Bevölkerung – im Jahr 1990 betrug die Gesamteinwohnerzahl in den drei UdSSR-Republiken 7,78 Millionen Menschen. Jetzt sind es nur noch 6,03 Millionen. Besonders dramatisch ist die Lage in Litauen – dem Land mit dem schnellsten Bevölkerungrückgang in Europa. Aufgrund der nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 verstärkt eingesetzten Abwanderung und niedrigen Geburtenraten verlor das Land fast eine Million Einwohner.
Ein anderes Problem, das die Gesellschaften aller baltischen Staaten spaltet, ist die von den ethnokratischen Eliten angetriebene Auslegung der Sowjet-Periode als Okkupation. Diese Umdeutung der Geschichte gipfelte in der estnischen Hauptstadt Tallinn in den Unruhen, die im April 2007 ausbrachen, infolge eines Beschlusses, das Denkmal "Bronzener Soldat" (Symbol des Sieges der Roten Armee über Nazi-Deutschland) zu demontieren und vom Gedenkort im Zentrum der Stadt zu entfernen. Bei den darauf folgenden heftigen Protesten der Russischstämmigen wurde ein Mensch getötet und mehrere Dutzend verletzt.
Die Kette der Ereignisse um die Demontage des Denkmals interpretierte die Vorsitzende des Kulturausschusses des Rates der Stadt Lüneburg, Birte Schellmann, jedoch als "Nadelstichpolitik" vonseiten Russlands. Damals waren laut Schellmann viele Esten davon ausgegangen, dass Putin aus Rache "im Land einmarschiert".
In der lettischen Hauptstadt Riga wird im Moment wieder ein neuer Anlauf unternommen, die Demontage des Denkmals an die Befreier der Stadt im Park des Sieges durch einen Parlamentsbeschluss zu erwirken. An diesem Ort treffen sich Tausende Rigaer am Tag des Sieges und die Proteste sind damit vorprogrammiert. Und es ist wieder möglich, dass die deutschen Freunde des Baltikums diese Russland als ein weiteres Beispiel der sogenannten Nadelstichpolitik anheften.
Bei der Podiumsdiskussion der Friedrich-Naumann-Stiftung für Freiheit war viel von Werten wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie die Rede. Der Westen vertrete sie und trage sie mithilfe der Moskauer Büros der politischen Stiftungen nach Russland hinein. Das solle den Zivilgesellschaften dort helfen, sich gegen das immer repressiver werdende "Regime" zu behaupten. Die Sorgen der Zivilgesellschaften in Litauen, Lettland und Estland, allesamt EU-Länder, die sich den genanten Werten verschrieben haben, werden dagegen als übertriebene "russische Erfindungen" abgetan und daher nicht ernst genommen. So war der Eindruck nach der Veranstaltung in Lüneburg, einer Region, wo die deutschen Verbindungen zum Baltikum historisch am stärksten sind.
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