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Scheinrückzug: Wie die USA mit einer neuen Strategie Syrien balkanisieren wollen

Die USA bleiben in Syrien - schließlich haben sie ihr Ziel noch nicht erreicht, Syrien und den weiteren Nahen Osten zu balkanisieren. Der NATO-Staat Türkei kann in Kooperation mit Russland und dem Iran den Unterschied machen und die USA herausfordern.
Scheinrückzug: Wie die USA mit einer neuen Strategie Syrien balkanisieren wollenQuelle: AFP

von Murat Kilic

Trotz der Versprechen von Präsident Donald Trump, US-amerikanische Truppen aus Syrien abzuziehen, hat das Weiße Haus nun beschlossen, die Präsenz vor Ort mit einer "kleinen Friedensgruppe" für einen unbestimmten "Zeitraum" aufrechtzuerhalten. Sarah Sanders, Sprecherin des Weißen Hauses, sagte, ohne weitere Informationen zu liefern:

Eine kleine Friedenstruppe von etwa 200 Personen wird für einen gewissen Zeitraum in Syrien bleiben.

Fakt ist, Russland, Iran und die Türkei dulden die USA, die einem politischen Frieden im Weg stehen, nicht mehr in Syrien. Die USA unterminieren mit ihren Aktivitäten die drei Staaten. Auch deshalb reichte Moskau Präsident Erdoğan beim jüngsten Treffen im russischen Sotschi die Hand und gab Ankara die Option, nicht nur die YPG, sondern zwangsläufig auch gemeinsam die USA in die Defensive zu drängen. 

Russland hat der Türkei erklärt, dass sie eine "Sicherheitszone" innerhalb Syriens etablieren dürfe, wenn sie die Zustimmung von Präsident Baschar al-Assad erhält. Was im ersten Moment Spannungen signalisiert, ist eine Chance für eine einvernehmliche Lösung, die alle Parteien des Konflikts, ausschließlich der USA, zufrieden stellt.

Der russische Präsidentensprecher Dimitri Peskow erklärte bei einem Exklusiv-Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet am 18. Februar:

Gemäß des Adana-Abkommens kann die Türkei grenzüberschreitende Operationen durchführen, und dies gilt als legal. Folglich ist die Rechtsgrundlage offensichtlich, und es besteht keine Notwendigkeit für einen neuen Grund.

Präsident Wladimir Putin, einer der engsten Verbündeten Assads, moderierte am 14. Februar einen trilateralen Gipfel im Schwarzmeer-Ort Sotschi, um mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani über die Zukunft Syriens zu diskutieren.

Was alle drei Staaten verbindet, ist die Einigkeit, die Zukunft des kriegsgeschüttelten Landes ohne die USA bestimmen zu wollen. Putin betonte, dass sich die drei Staats- und Regierungschefs einig sind, dass der Rückzug der USA aus Nordostsyrien "ein positiver Schritt zur Stabilisierung der Situation in dieser Region sei".

Putin unterstrich, dass Russland keine großen Veränderungen gesehen habe, die darauf hindeuten, dass die USA den Abzug ihrer Truppen aus Syrien anstreben. Allerdings versuche US-Präsident Donald Trump, so Putin, Wahlkampfversprechen zu erfüllen, indem er den Truppenabzug anordnete, aber er könne es nicht, weil er einem innenpolitische Druck ausgesetzt sei.

Das ist eine wichtige Zwickmühle, auf die die Astana-Garantiestaaten ein Auge haben. Sowohl Moskau als auch Teheran als auch Ankara wollen die Initiative solange nicht ergreifen, bis es Klarheit bezüglich des Verbleibs von rund 2.000 illegal stationierten Angehörigen der US-Truppen in Syrien gibt.

Da auch die militärische Führung und führende Kreise des US-Außenministeriums gegen den Abzug sind, bleibt fraglich, ob sich Trump mit seinem Wahlversprechen durchsetzen kann.

Wenn es nach dem CENTCOM geht, dem Zentralkommando der Vereinigten Staaten, ist die US-Mission in Syrien noch lange nicht am Ziel. Sollte sich Trump durchsetzen, würde die Entscheidung der Beendigung einer fast hundertjährigen US-Hegemonialpolitik gleichkommen.

Der US-Präsident strebt eine Isolationspolitik wie zur Zeit der Monroe-Doktrin im 19. Jahrhundert an. Sollte jedoch das Militär und damit der militärisch-industrielle Komplex der USA die Überhand haben, wie sich allmählich zu bewahrheiten scheint, wird man in Syrien Zeuge eines raffinierten Scheinrückzugs der US-Armee. Schon unter Präsident Obama erwiesen sich Rückzugsverkündungen für Afghanistan als Farce. Neueste Erhebungen weisen darauf hin, dass die USA ihre Truppenzahl, offiziell zur "Unterstützung des Abzugs", der im April abgeschlossen sein soll, deutlich erhöht hat.

"Astana den Stecker ziehen"

Der Abzug aus Syrien dient auch der Homogenisierung einer inkohärenten Politik zwischen NATO-Partnern. Denn die spätestens seit 2016 bestehende, enge und in Ankara als "langfristige strategische Partnerschaft" angesehene türkisch-russische Kooperation, dazu die konstruktive Zusammenarbeit in Syrien im Rahmen des Astana-Abkommens, in dem auch der Iran als dritte Garantiemacht mitwirkt, hat die USA und ihre europäischen Verbündeten, Großbritannien und Frankreich, zuletzt geopolitisch in die Enge getrieben. 

Einige Tage vor Trumps Ankündigung des Truppenrückzugs hatte der US-Syriensonderbeauftragte James Jeffrey vor einem Türkei-Besuch erklärt, dass es Zeit sei, "Astana den Stecker zu ziehen". Mit anderen Worten, man will Ankara aus der Moskau-Teheran-Achse "herausreißen". Der politische Friedensprozess, den die drei Garantiemächte ohne den "Westen" vorantreiben wollen, würde so ins Stocken geraten und der ins Abseits geratene Transatlantikbund wäre wieder im Spiel.

Diese Aussagen sorgten in diesen Tagen für Empörung in Ankara. Als Antwort darauf hat Ankara schweres Militärgerät an die syrische Grenze verlegt und mit einer Militäroffensive in Nordostsyrien gegen den US-Alliierten YPG gedroht, der die sogenannten "Demokratischen Kräfte Syriens" anführt.

Dass es sich hier nicht um bloße Rhetorik handelt und man es ernst meint, hatte Ankara in den letzten Jahren mit zwei Interventionen in Nordsyrien gezeigt. Ein Zeichen dafür, dass Ankara kein Interesse an einen Pakt mit den USA mehr hat, ist der Wille Ankaras, die al-Kaida-nahe Extremisten-Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) zu neutralisieren. Die jüngsten Aggressionen von HTS, mehrere pro-türkische Rebellen-Milizen zu zerschlagen, stehen ganz im Zusammenhang mit der westlichen Ablehnung der türkischen Kooperation mit Russland. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kritisierte:

Einige westliche Staaten unterstützen HTS, um die Idlib-Vereinbarung zu sabotieren.

Für die Astana-Mitglieder ist die Neutralisierung von Idlib von größter Bedeutung, denn diese Region ist, abgesehen von den permanenten Angriffen auf die russische Hmeimim-Luftwaffenbasis in Latakia, die Achillesferse für den Zusammenhalt der Syrien-Allianz. Alle drei Staaten wissen, dass eine Eskalation in Idlib alle drei Staaten durchaus wieder auseinanderreißen und die politischen Errungenschaften Astanas zunichte machen kann.

Bei der Waldai-Konferenz am 19. Februar gab der renommierte russische Nahost-Wissenschaftler Witali Naumkin preis, dass die Türkei, Russland und Iran eine gemeinsame Offensive gegen die al-Kaida-nahe HTS-Miliz in Idlib erwägen. Das würde ein Novum darstellen, wenn ein NATO-Staat mit Russland und Iran einen Angriff koordiniert.

Ein noch wichtigerer Erfolg war, dass mit der sogenannten demilitarisierten Region in Idlib die Astana-Garantiemächte auch die USA aus Westsyrien ausschlossen. Seitdem ist es den USA nicht mehr erlaubt, Aufklärungsflüge in Idlib durchzuführen. Was die USA, aber auch Westeuropa dazu veranlasste, sich auf die Manbidsch-Region und die YPG-Gebiete östlich des Euphratflusses zu konzentrieren.

"Golfstaatenkoalition" vs. "Astana-Achse"

Hinzu kommt, dass Washington eine neue Achse, oder besser gesagt eine "arabische Golfstaatenkoalition" gegen die "Astana-Achse" in der Region aufzubauen versucht, um vor allem auch gegen den Einfluss Irans vorzugehen.

Die Vereinigten Staaten setzen sich dafür ein, dass die Golfstaaten die Wiederherstellung der Beziehungen zu Syrien verzögern, einschließlich der Vereinigten Arabischen Emirate, die ihre diplomatischen Beziehungen zu Damaskus wiederhergestellt haben, um dem Einfluss ihres Konkurrenten Iran entgegenzuwirken.
"Die Saudis sind sehr hilfreich, um die anderen zu drängen. Katar tut auch das Richtige", sagte ein US-Beamter auf die Frage nach dem diplomatischen Druck. Der Beamte fügte hinzu, dass die Vereinigten Staaten erfreut seien, dass "einige Golfstaaten die Bremse ziehen".

Um ihren Rückzug möglichst gut neu zu strukturieren und letztlich vorzutäuschen, versuchen die USA, die Türkei zu neutralisieren, die ihre eigene Präsenz in Ostsyrien mit Russland koordinieren wird. Deshalb versuchte Washington, die Türkei zur Akzeptanz einer Sicherheitszone zu zwingen, die im Grunde von Frankreich, Großbritannien und Australien im syrisch-türkischen Grenzgebiet gehalten wird. Das Ziel ist die Isolierung der YPG und damit die Wahrung eines starken lokalen Stellvertreters, um Assad den Zugriff auf Ostsyrien zu verweigern. Langfristig spekulieren die USA dann auf den Rücktritt von Baschar al-Assad.

Die türkische Reaktion war entschieden. Hinweise deuten darauf hin, dass Ankara bereit ist, soweit zu gehen, dass es Russland und damit Assad die Einnahme von Manbidsch eher erlauben würde als die Akzeptanz der US-Pläne, die den türkischen Erzfeind YPG auf unbestimmte Zeit stärken würden.

Die Türkei vertraut den USA nicht, insbesondere seitdem sich US-Präsident Donald Trump mit einem Post auf Twitter einschaltete, wo er der türkischen Regierung drohte, die Wirtschaft des Landes in den Ruin zu treiben, sollte die Türkei dem US-Alliierten YPG schaden.

Ankara und Damaskus gegen Stärkung von YPG

Geradezu selbstentlarvend wirkt dabei die Erklärung des State Departments vom 19. Februar. Der Pressesprecher des US-Außenministeriums Robert Palladino räumte ein, dass es sich beim US-"Abzug" lediglich um einen "taktischen Wandel, aber keinen Wandel in unserer Mission" handele.

Der türkische Präsidentensprecher Ibrahim Kalın machte deutlich, dass die Türkei nicht mehr zu Verhandlungen bereit sei:

Die Hinhaltetaktik nütze keinem.

Er fügte hinzu, dass man in Manbidsch bereits mit Russland militärisch koordiniert. Das weist auch darauf hin, dass man auf Verständnis in Bezug auf die YPG-Miliz stößt, die von Ankara als syrischer PKK-Ableger wahrgenommen wird. Die Haltung der al-Assad-Regierung schafft zusätzliche Zuversicht und im Gegenzug räumte der türkische Präsident Erdoğan geheimdienstliche Kontakte zum syrischen Staat ein – Aussagen, die Baschar al-Assad neue Legitimität verleihen.

"Autonomie bedeutet die Teilung Syriens. Wir geben keine Möglichkeit, Syrien zu teilen", sagte Bouthaina Schaaban, eine führende Beraterin von Baschar al-Assad, der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag bei einer Konferenz in Moskau.

Damit scheinen die Würfel gefallen zu sein. Die YPG wird ihren mit Hilfe der USA aufgebauten separatistischen Autonomiestatus nicht behalten können. Für die Türkei ist eine Kooperation im Rahmen von Astana eine Garantie, dass kein weiteres halbstaatliches Gebilde wie im Norden des Irak entsteht.

Wie zu Zeiten des ersten Golfkrieges soll auch dieses Mal eine US-amerikanische Flugverbotszone dazu dienen, in letzter Konsequenz eine Zentralregierung zu sprengen und damit die regionale Balkanisierung zu vervollständigen. Wie im Irak würde Syrien langfristig zum Rückzugs- und Aufmarschgebiet der PKK werden und die territoriale Integrität der Türkei wäre umso mehr in Frage gestellt.

Um eine Balkanisierung des Nahen Ostens zu verhindern, sind alle drei Astana-Garantiemächte, vor allem die Türkei, bereit, gegenseitig Kompromisse einzugehen und gemeinsam im Rahmen des Adana-Abkommens von 1998 gegen jegliche US-Destabilisierungsprojekte, wenn es sein muss auch militärisch, vorzugehen.

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