Das Kapital hat Lust auf Regime Change: Wer regiert eigentlich Griechenland?
von Timo Kirez
Nein, sie hat es so nicht gesagt – die Rede ist von der berühmt berüchtigten Formulierung "marktkonforme Demokratie", die Bundeskanzlerin Angela Merkel zugeschrieben wird. Vielmehr sagte die Kanzlerin anlässlich eines Besuchs des portugiesischen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho im September 2011 auf die Frage, ob sie um die Schlagkraft des Rettungsschirms fürchte, wenn der Bundestag und alle anderen nationalen Parlamente in Europa bei wichtigen Entscheidungen vorab mitbestimmen wollen:
Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.
Wirtschaftsliberale Kommentatoren bemühten sich angestrengt, einer Interpretation im Sinne "marktkonforme Demokratie" von Merkels Worten entgegenzuwirken. Mit zum Teil akrobatischen Wortverrenkungen. Merkel habe damit genau das Gegenteil von "marktkonformer Demokratie" gemeint, schrieb zum Beispiel die FAZ. Gemeint sei, "dass sich der Bundestag mit Entscheidungen der Regierung, die den Rettungsschirm betreffen, so beschäftigt, dass die Absicht, nämlich eine Stabilisierung und Beruhigung der Märkte, nicht konterkariert wird."
Und weiter im Artikel heißt es: "Mit 'marktkonform' war also nicht etwa gemeint, dass die Demokratie zum Spielball der Märkte wird, sondern im Gegenteil, dass die Arbeit des Parlaments so ausgerichtet wird, dass sie die Möglichkeit hat, die Märkte überhaupt zu beeinflussen." Man muss wahrlich kein Meister der Spitzfindigkeit sein, um aus der "Verteidigungsschrift" der FAZ eine "Anklageschrift" zu formulieren. Der Artikel bestätigt ungewollt, was viele nach dem Statement Merkels intuitiv richtig verstanden hatten: demokratisch gewählte Volksvertreter haben heutzutage vor allem die Aufgabe, nicht die Gunst "der Märkte" zu verspielen. In diesem Sinne kann man über das Zitat "marktkonforme Demokratie" mit Giordano Bruno sagen: "Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden."
Wie selbstverständlich es mittlerweile geworden ist, dass die "Märkte" in die nationale Souveränität eines Landes eingreifen, zeigt ein Artikel in der Welt vom Freitag. Unter der apokalyptischen Überschrift "Der Euro-Zone droht ein neuer Griechenland-GAU" warnt die Autorin des Beitrags vor "Wahlgeschenken", mit anderen Worten sozialen Wohltaten, des amtierenden griechischen Premiers Alexis Tsipras. Der Tenor dabei: "Ökonomen schlagen Alarm". In der Tat droht der amtierenden Syriza-Regierung unter Tsipras bei den für die zweite Jahreshälfte 2019 anvisierten Parlamentswahlen eine Niederlage. In aktuellen Umfragen liegt die liberal-konservative Nea Dimokratia mit gut zehn Prozent Vorsprung vor der Regierungspartei.
Kein Wunder also, dass bei Tsipras das Staatsportemonnaie etwas locker sitzt. Der Artikel in der Welt zählt die Wohltaten eifrig auf: Rund 1,5 Millionen einkommensschwache Familien erhielten pünktlich zum Weihnachtsfest eine Einmalzahlung von bis zu 1.200 Euro, in Einzelfällen gar über 1.300 Euro. Beamte durften sich über eine Entschädigung für frühere Kürzungen von Bezügen freuen. Es gibt Zuschüsse für Heizöl und Treibstoff, Nachlässe auf Sozialbeiträge von Selbstständigen, eine Reduktion bei der Immobiliensteuer, einen höheren Mindestlohn. Die Wein-Sondersteuer wird abgeschafft, Hirten und Schäfer in entlegenen Regionen bekommen einen Zuschuss. Vor allem aber hat Griechenland jüngst beschlossen, die auf Druck der Gläubiger geplante Rentenkürzung aufzuschieben.
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Wie nicht anders zu erwarten, stößt so viel "Mildtätigkeit" bei "den Märkten" auf wenig Gegenliebe. "Wenn Tsipras nun anfängt, im Vorfeld der Parlamentswahlen Wahlgeschenke mit der Gießkanne zu verteilen, setzt er damit die Erfolge des harten Reformkurses der vergangenen Jahre aufs Spiel", zitiert die Welt den EU-Abgeordneten Markus Ferber von der CSU. Auch die ehemalige IWF-Beraterin Miranda Xafa kritisiert die Spendierhosen von Tsipras laut der Welt scharf. Es gefährde die Erholung der Wirtschaft, dass die Regierung den Sozialausgaben den Vorrang vor Investitionen und Steuererleichterungen gebe. Auch der Analyst bei der Bank of America Merrill Lynch, Athanasios Vamvakidis, ist laut dem Bericht nervös. Er fürchte ein "verlorenes Jahr" für Griechenland: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass wegen der Wahlen keine größeren Reformen angegangen werden."
Doch der eigentliche Knaller kommt noch. Die Welt schreibt:
Wolfango Piccoli, Präsident des Beratungsunternehmens Teneo Intelligence, wünscht sich gar eine Vorverlegung der Wahlen auf den 26. Mai, den Tag der Europawahl. 'Dann müsste wenigstens die zweite Jahreshälfte nicht abgeschrieben werden.'
Sie haben richtig gelesen: Der Co-Präsident eines global tätigen Privatunternehmens wünscht sich die Vorverlegung von Parlamentswahlen in Griechenland. Dieser ungeheuerliche Vorgang wird von der Welt-Autorin im Teaser-Text, der dem Artikel vorausgeht, übrigens mit folgenden nonchalanten Worten angekündigt:
Griechenlands Premier Alexis Tsipras will den Machtverlust bei den nächsten Wahlen verhindern. Deshalb verteilt er teure Wahlgeschenke und dreht wichtige Reformen zurück. Ökonomen sind alarmiert – und machen einen ungewöhnlichen Vorschlag.
Ein ungewöhnlicher Vorschlag? Das wäre vermutlich der Fall, wenn die Regierung Tsipras ein neues Gesetz erlassen würde, das alle Abgeordneten dazu zwingt, ab jetzt nur noch im Pyjama zu erscheinen. Doch bei dem Vorschlag von Piccoli handelt es sich vielmehr um Regime-Change-Gelüste. Das wird aus dem zweiten Teil seines Statements klar, das die Welt leider nicht bringt:
Ein wahrscheinlicher Wahlsieg der Nea Dimokratia hat das Potenzial, das Interesse der Investoren zu wecken, aber der anfängliche Enthusiasmus könnte sich schnell verflüchtigen, wenn die neue Regierung in der ersten Amtszeit einige unternehmensfreundliche Maßnahmen nicht beschließt …
So nachzulesen auf ekathimerini.com, einer griechischen Zeitung, die der Nea Dimokratia als nah gilt. Teneo Intelligence ist ein Albeger der Teneo Holding, einer internationalen Beratungsgesellschaft und Investmentbanking-Plattform. Die Teneo Holding ist ein Unternehmen, das schon immer gern seine Fühler in Richtung Politik ausgestreckt hat, wie ehemalige und aktuelle Beratertätigkeiten diverser Politiker, darunter auch Bill Clinton und Tony Blair, belegen. Die Division Teneo Intelligence, zu der Piccoli gehört, wurde laut einem Artikel in Business & Finance zunächst von einem ehemaligen Mitarbeiter der CIA und des US-Verteidigungsministeriums geführt und hat sich zum Ziel gesetzt, "Krisenherde auf der ganzen Welt zu identifizieren und ihre möglichen Auswirkungen auf die globalen Märkte zu analysieren."
Zwar hat man sich im Zuge der Griechenlandkrise daran gewöhnt, dass nationale Souveränität in ungefähr so existent ist wie der Weihnachtsmann, dennoch überrascht die kritiklose Hinnahme neoliberaler Dogmen hierzulande immer wieder aufs Neue. Das mag auch daran liegen, dass Deutschland zu den Gewinnern der Eurozone gehört. Doch sollte die "unsichtbare Hand" des Marktes irgendwann auch mal Deutschland abwatschen, dürfte es für viele ein unangenehmes Erwachen geben. Doch dann ist es vermutlich schon zu spät.
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