Meinung

"Von Armeepanzern überrollt": Claas Relotius verkaufte seine Geschichten nicht nur an den Spiegel

Die gesamte Journalistenzunft in Deutschland ist mit dem Fall Relotius beschäftigt. Zu Recht. Dennoch wird meistens an den Ursachen des Skandals vorbeigeredet. Hat der Relotius-Skandal weniger mit Journalismus als mit politischen Narrativen zu tun?
"Von Armeepanzern überrollt": Claas Relotius verkaufte seine Geschichten nicht nur an den SpiegelQuelle: www.globallookpress.com

von Wladislaw Sankin

"Wir stehen für herausragende literarische Reportagen", schreibt das Redaktionsteam des unabhängigen Magazins Reportagen und verspricht hinter einer Paywall spannende, gut recherchierte Artikeln aus "dieser Welt". Von herausragenden Autoren, zu denen neben Ernest Heminguay, George Orwell oder Peter Scholl-Latour auch Claas Relotius gehört.

Allerdings werden nun nach dem Skandal um die erfundenen Protagonisten beim Spiegel fünf seiner Texte einer Faktenprüfung unterzogen. Alle wurden im Zeitraum zwischen 2014 und 2016 eingereicht. Einer dieser Artikel heißt "Bestechen verboten: Die Ukraine ersetzt korrupte Polizisten durch Amateure. Echte Reform oder Imagekampagne?" Claas Relotius hat ihn nach seinem Besuch in Kiew im Frühjahr 2016 verfasst, zwei Jahren nach dem gewaltsamen Maidan-Umsturz.

Bevor die Nacht anbricht und ihr Dienst beginnt, an einem eisigen Frühjahrsabend in Kiew, kniet die Hoffnung der Ukraine vor brennenden Kerzen auf dem Maidan. Dimitri, ein junger Mann mit Vollbart und Gewichtheberschultern, und Valerya, eine junge Frau mit geflochtenen Haaren und Perlenohrringen, wie treue Kameraden sehen sie auf zu einem Altar für die Gefallenen, beten für deren Seelen und die Zukunft ihres Landes. Es ist ein Ritual wie vor einer Schlacht, sie bekreuzigen sich, schieben Schlagstock und Pistole unter ihre Jacken, dann skandieren sie den Kampfruf der Revolution: 'Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!'

'Die Revolution ist noch nicht vorbei, unser Kampf geht weiter', sagt Dimitri und startet den Motor des Streifenwagens.

So beginnt die als "herausragend" geadelte Reportage von Claas Relotius. Kitschig? Kommt darauf an, aus wessen Sicht. Neue, nicht korrupte Polizisten, junge Menschen wie aus dem Bilderbuch, die jede Nacht, vor jeder Schicht "für gefallene Helden und ihr Land" beten und das Gebet mit einem Ruf der Nationalisten beenden, sind das neue Gesicht der Ukraine. Sie haben auf dem Maidan gegen eine korrupte Regierung gekämpft. Seit Ende 2013 gab es in deutschen Medien haufenweise solcher Porträts.

Besonders machen die Reportage von Relotius nur ein paar Details. Janukowitsch, der "verhasste Herrscher", der "Geschäfte lieber mit Russland machte als mit der Europäischen Union", ließ sein Land "mit Milliarden von Schulden" zurück, lebte aber "wie ein Pharao in einem prunkvollen Palast, mit Treppengeländern und Badewannen aus purem Gold". Stopp. Hier hat der deutsche Reporter offenbar ein populäres Meme der Post-Maidan-Zeit aufgegriffen und kreativ erweitert, nämlich, dass Janukowisch eine goldene Toilettenschüssel besaß. In Wirklichkeit gab es weder goldene WC-Schüsseln noch Treppengeländer, obwohl die Ausstattung des Hauses in der Tat mehr als nur luxuriös war.

Das ist womöglich halb so schlimm, es geht schließlich nur um ein paar Gegenstände, und Relotius hat nicht gelogen, als er sagte, dass Janukowitsch im Luxus lebte. Richtig gruselig wird es aber, wenn der Autor über die Kämpfe auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit, kurz Maidan, schreibt. Es lohnt sich, diesen Abschnitt in voller Länge zu zitieren:

Dimitri und Valerya waren dabei, Schulter an Schulter demonstrierten sie mit denen, die bald danach getötet wurden. Sie sehen noch immer alles vor sich, Szenen wie im Krieg, brennende Häuser und blutüberströmte Gesichter, Bilder, die um die Welt gingen. Die Schreie ihrer Freunde und den Geruch der Leichen, nichts haben sie vergessen. Hier der alte Brunnen, an dem ein Vater mit Kind auf dem Arm erschossen wurde. Dort die zerstörte Mauer, vor der Dutzende zu Boden sanken, von Scharfschützen ermordet, von Armeepanzern überrollt. 

Was fällt hier besonders auf? Vor allem die Episode mit dem Vater am "alten Brunnen", der getötet wurde. Diese "Erschießung", die sonst das Zeug dazu hätte, zum berühmtesten Maidan-Meme zu werden, gab es schlicht nicht. Die Proteste auf dem Maidan waren insgesamt keine Veranstaltung für Kinder. Niemand nahm Kinder dorthin mit, zur Zeit der bewaffneten Kämpfe schon gar nicht. Im Netz ist nicht einmal eine Fälschung dazu zu finden, nicht einmal ein Fake, wie es im Falle der Toilettenschüssel der Fall war. Dieses Bild ist ganz und gar der Fantasie des Schreibers entsprungen.

Genauso wie die Panzer, die die Aufständischen "dutzendweise" niedergewalzt haben sollen. Es ist bekannt, dass der "brutale Herrscher" Janukowitsch trotz massivster Unruhen und vielfacher Gewaltanwendung seitens der Maidan-Milizen NICHT den Ausnahmezustand ausgerufen und NICHT die Armee gegen die Aufständischen eingesetzt hat. Und doch, wir haben es noch einmal geprüft: In der namentlich geführten, bekannten Liste der Maidan-Opfer gibt es kein einziges Opfer, das von einem Panzer überrollt wurde. Aber das ist trotzdem kein Grund für diesen "Autor", auf "überrollende Panzer" im Zentrum von Kiew zu verzichten!

Der Faktencheck zu all diesen erfundenen Fakten sollte nicht allzu schwer fallen. Dazu braucht man nicht einmal Kenntnisse des Russischen oder Ukrainischen. Dennoch, man verzichtete auch in der Reportage-Redaktion darauf. Vielleicht war diese Geschichte gerade deshalb so glaubwürdig, weil sie eben mit diesen Details übersät war? Man hat doch das alles irgendwo gehört, nicht wahr? Schließlich titelte die Bild damals über den ukrainischen Noch-Präsidenten: "Tyrann schlachtet sein Volk ab". Das gleiche Framing über edle Rebellen und die böse Staatsmacht wurde auch von den restlichen sogenannten Qualitätsmedien betrieben, wenn auch nicht so plakativ. Bezeichnend, dass der jetzige Präsident, der auch im fünften Jahr schwere Waffen gegen Zivilisten einsetzt und damit mehrere Tausend Tote zu verantworten hat, von ebenjenen Medien mit keinem Wort für "unverhältsmäßige Anwendung von Gewalt" gerügt wird.

Nun, nachdem Claas Relotious aufgeflogen ist, ist das Raunen in der ganzen deutschen Presselandschaft groß. Es gibt auch Versuche, "Relotius-Gate" nicht nur als Einzelfall zu sehen, sondern in ihm auch systematische Fehler zu erkennen. So beklagt beispielsweise der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Deutschlandfunk "den Exzess des Kommentierens und des Meinens", bei dem das "Investigative" zu kurz komme. Er räumt auch ein, dass Relotius  "gängige Erwartungen" bedient habe, was es ihm möglich machte, seine Leser "zu verführen". Er schlägt zudem vor, mit der Tradition des "subjektiven Storytelling" zu brechen.

Das mag zwar alles stimmen. Aber das Wesentliche dabei ist, dass die Lügen des Journalisten einen starken politischen Hintergrund haben. Syrische Kinder, die sich nach Europa sehnen. Brutale Trump-Anhänger, die Migranten jagen. Junge Ukrainer, die von Europa Good Governance lernen möchten, während prorussische Kräfte sie daran hindern.

Sind diese Framings nur unsere Erwartungen oder große politische Narrative, die dazu da sind, die Politik der herrschenden Eliten mit passenden Bildern zu rechtfertigen? Zunehmend werden durch selektive oder "alternative Fakten" nur Narrative bedient. Dabei werden nur wenige Fakes aufgedeckt, vielmehr pflegt man die Narrative stillschweigend einfach weiter.

Deswegen wird der Fall Skripal womöglich nicht als Fake-Skandal in die Geschichte eingehen, sondern als versuchter Mord vonseiten Russlands, obwohl dies nach wie vor nur "höchstwahrscheinlich" ist. Niemand unter westlichen Journalisten, nicht mal die britischen, hat beispielsweise von ihren Behörden verlangt, in unserer bildüberstömten Welt endlich mal das eigentliche Opfer Sergei Skripal zu zeigen: Es gab bislang nicht mal ein Foto von ihm. Warum fragt niemand danach? Vielleicht aus Angst, dass er etwas nicht Genehmes erzählen könnte, das dem politischen Narrativ von der russischen Schuld nicht entspräche?

Oder warum zeigte auch der Spiegel kein Interesse daran, einen echten Jungen aus dem syrischen Duma zu zeigen, der Journalisten im holländischen Den Haag mit mehreren Männern von einer Giftgas-Inszenierung der Weißhelme erzählte, statt von einem halb-erfundenen syrischen minderjährigen Tagelöhner zu erzählen? 

Eine Behandlung ist ohne richtige Diagnose nicht möglich. Es wird unmöglich, die Journalisten zu einer faktenbasierten Berichterstattung zu motivieren, wenn sie darin keinen (politischen) Sinn sehen – ob es ihnen gefällt oder nicht. Und was, wenn man ihnen sagte, eine Demokratie bräuchte tatsächliche Fakten, um ein realistisches und kein propagandistisches Bild der Lage anfertigen zu können? Wird wenigstens dieses Argument bei all den Verfechtern der Demokratie verfangen? Oder werden sie dann weiterhin den anderen Propaganda vorwerfen und den Splitter im fremden Auge sehen, nicht aber den Balken im eigenen? 

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