Meinung

Warum Merkels Flüchtlingspolitik die Union noch lange beschäftigen wird

Angela Merkel hat ihren Rückzug vom Parteivorsitz angekündigt, doch ihre Flüchtlingspolitik wird die CDU weiter begleiten. Ein Ende der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung in dieser Frage ist nicht in Sicht - auch wegen des Versagens der Linken.
Warum Merkels Flüchtlingspolitik die Union noch lange beschäftigen wirdQuelle: Reuters

von Andreas Richter

Im Juli hatte RT Deutsch in einem Kommentar die Asylpolitik als die Agenda 2010 der Union bezeichnet. Mittlerweile haben führende CDU-Vertreter diese Einschätzung bestätigt. Annegret Kramp-Karrenbauer, Generalsekretärin und Kandidatin für die Nachfolge Angela Merkels für den Parteivorsitz, zog den Vergleich vergangene Woche in einem Interview mit dem Focus. Jens Spahn, Gesundheitsminister und ebenfalls Kandidat für den Parteivorsitz, warnte vor einigen Tagen in einem Gastbeitrag in der FAZ, der als Bewerbungsrede verstanden werden kann, dass die Flüchtlingspolitik zur Agenda 2010 der Union werde, wenn man sie nicht zu Ende diskutiere.

Das zeigt vor allem eines: Die Union wird das Thema Flüchtlingspolitik nicht los, obwohl etwa die Kanzlerin und Noch-Vorsitzende Merkel vor der Hessen-Wahl geradezu flehentlich darum gebeten hatte, das Thema ruhen zu lassen. Das Thema verfolgt die Union, es wird eine zentrale Rolle bei der anstehenden Wahl ihres Vorsitzenden, bei der künftigen inhaltlichen Ausrichtung und den möglichen Koalitionen der Partei spielen.

Hauptursache für die anhaltende Bedeutung des Flüchtlingsthemas für die Union und darüber hinaus ist, dass es eine moralische Aufladung erfahren hat, die nicht wieder rückgängig zu machen ist. Die Flüchtlingsdebatte hat sich zu einer Art Kulturkampf entwickelt, in dem die politische Korrektheit des liberalen Mainstreams kritische Stimmen als extremistisch zu delegitimieren versucht.

Das hat zu einer scharfen gesellschaftlichen Polarisierung und auch zu einer parteipolitischen Zuspitzung geführt. Eine sachliche Diskussion der realen Probleme ist unter diesen Verhältnissen unmöglich. Von der Polarisierung in der Gesellschaft, das haben die jüngsten Wahlen gezeigt, profitieren ausschließlich die Parteien mit einer klaren Positionierung in der Flüchtlingsfrage: Die Grünen und die AfD. Alle anderen verlieren oder stagnieren.

Die gesellschaftliche und politische Polarisierung ist letztlich Folge der offiziellen Darstellung der Merkelschen Grenzöffnung 2015 als humanitäre Maßnahme. Weder die Unterstützer dieser Flüchtlingspolitik noch ihre Kritiker stellen diese moralische Deutung in Frage. Dabei liegt es auf der Hand, dass Politik auf dieser Ebene nicht moralischen, sondern Nützlichkeitserwägungen folgt. In diesem Fall dürfte es darum gegangen sein, der deutschen Wirtschaft ohne politische Debatte ein paar Hunderttausend Arbeitskräfte für den Niedriglohnsektor zu schenken und die Union näher an das liberale städtische Bürgertum zu rücken und so kompatibel mit den Grünen zu machen.

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Jede Kritik, die nicht die Motive der damaligen Flüchtlingspolitik anspricht, kann zwar einzelne Probleme aufdecken, greift aber letztlich zu kurz. Es ist das Dilemma der "Linken", dass sie an diesem Punkt völlig versagt. Es sollte für eine linke Deutung der Politik Merkels auf der Hand liegen, ihre Migrationspolitik als Element ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verstehen, die natürlich negative Folgen für das untere Drittel der Gesellschaft hat. Dies offen auszusprechen und zu diskutieren, könnte wenigstens einen Ansatz zur Überwindung der Polarisierung bieten. Man könnte wieder über konkrete Interessen und Probleme reden, statt nur über Gut und Böse.

Stattdessen geht das "linke" Lager fast geschlossen unter dem Motto "unteilbar" auf die Straße – und übersieht, dass die "offene Gesellschaft" die Ideologie der Gated Communitys ist und der Überbau eben der neoliberalen Politik, die immer mehr Lebensbereiche der Menschen den Regeln des Marktes unterwirft. Die "Linke" bleibt so lange Geisel der Merkelschen Politik, wie sie sich nicht selbst durch eine klare Analyse und einer daraus folgenden linken Kritik der Migration daraus befreit.

Auch für die Union ist und bleibt die gesellschaftliche Polarisierung ein Problem. Es kann unter diesen Umständen keinen Ansatz geben, mit dem sich verlorengegangene Wähler von der AfD und den Grünen zurückgewinnen ließen. Es ist für die Union auch keine Option, auf die Arbeitsmigration im jährlich sechsstelligen Bereich zu verzichten, die seit Jahrzehnten zum Geschäftsmodell der deutschen Eliten gehört, aber von den Parteien eher unter dem Teppich gehalten wird. Klar ist, dass die künftige Flüchtlingspolitik restriktiver sein wird und es Abenteuer wie das von 2015 mit der Union nicht mehr geben wird.

Von welcher Rhetorik diese Politik begleitet sein wird, wer die Partei anführen und welche Bündnispräferenzen sie haben wird – all das entscheidet sich in diesen Wochen. Es zeichnet sich ab, dass eine Partei unter Kramp-Karrenbauer mit Armin Laschet im Hintergrund relativ nahe an der Linie Merkels bleiben würde, und damit anschlussfähig für die Grünen. Ein Jens Spahn oder Friedrich Merz an der Spitze würde die Partei wenigstens von ihrem Auftreten her nach rechts verschieben und sie wohl punktuell für eine Zusammenarbeit mit der AfD öffnen. Wirkliche inhaltliche Differenzen muss es dabei zwischen den Lagern in der Migrationsfrage gar nicht geben.

Spannender noch als die Frage, wer im Rennen um den CDU-Vorsitz obsiegen wird, bleibt die Frage, ob es mit einer neuen Parteiführung eine Abkehr von der Post-Politik der Merkel-Ära geben kann, die politische Entscheidungen ausschließlich moralisch begründet, und von der dieses Land in den letzten Jahren mehr bekommen hat, als es vertragen kann.

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