Meinung

Leben in einer zerfallenden Welt – Teil 3: Gefährliche Gewöhnung an den Frieden

Die heutige Weltordnung steht vor schweren Erschütterungen, vergleichbar mit der Situation im 20. Jahrhundert, die zu zwei Weltkriegen führte. Eine Analyse russischer Experten im Rahmen des diesjährigen Internationalen Waldai-Diskussionsklubs – Teil 3 von 5.
Leben in einer zerfallenden Welt – Teil 3: Gefährliche Gewöhnung an den FriedenQuelle: www.globallookpress.com © Global Look Press

von Fjodor Alexandrowitsch Lukjanow et al.

(Teil 1 und 2 können Sie hier beziehungsweise hier nachlesen)

Als Ergebnis der vielseitigen Konkurrenz, bei der alle gegen alle antreten, wird die globale Stabilität geschwächt, die das System wie ein Ring zusammenhält. Der Konflikt, unter anderem auch der bewaffnete Konflikt, bleibt ein Mittel zur Steuerung der internationalen Beziehungen. Doch dieser Konflikt trägt einen komplexen Charakter: Er ist asymmetrisch, verläuft nicht geradlinig und spiegelt das kolossale Ungleichgewicht der Staaten hinsichtlich verschiedener Machtkomponenten wider.

Ein harter Wettbewerb um die richtungsweisenden Technologien und um die Herrschaft auf den Märkten der Zukunft ist im Gange. Massive Investitionen und ein erhöhtes Interesse der staatlichen Regelungsgremien sind in den folgenden wichtigsten Wettbewerbssphären zu verzeichnen, die die globale Lage gegen Mitte des Jahrhunderts bestimmen werden:

- die Art und Geschwindigkeit der Datenübertragung

- die "Abschottung" der Märkte durch staatliche Regelungen

- die Begrenzung des Zugangs zu Nutzerdaten

- die Einschränkung des Zugangs zu Finanzmärkten

- die Beschleunigung der Digitalisierung diverser Prozesse

- das Tempo der Einführung von Algorithmen künstlicher Intelligenz

- die Erhöhung der Arbeitsleistung und die Einführung von Robotertechnik

- die Synthese neuer Materialien und die Produktionslokalisierung

- Informationsmanipulationen zur Lenkung von politischen Prozessen

In diesen Bereichen trägt die Konkurrenz der Großmächte einen verdeckten, doch besonders scharfen Charakter. Bislang gehen die Länder keine offene, anerkannte Konfrontation ein: Im Grunde genommen ist ein vielschichtiger Kampf im Gange, dessen Ziel bessere Bedingungen für das eigene Land und vorteilhafte Positionen auf den Zukunftsmärkten sind.

Doch bezüglich des Kriegswesens gilt, dass sich die Verteidigungsministerien der führenden Länder der Welt nach wie vor auf einen potentiellen Konflikt der Zukunft vorbereiten. Das Ziel des Krieges ändert sich aber: von der Vernichtung der Streitkräfte und der Produktionsmittel des Gegners zur Ausschaltung seiner modernen digitalen Infrastruktur, der Blendung und Betäubung seiner digitalen Sensoren und Steuerungssysteme. Die Aufgabe besteht darin, den Gegner in das 20. Jahrhundert zurückzuwerfen.

Als "Soll" dieser Situation kann Folgendes verzeichnet werden: Wir leben in einer sichereren Welt als vor 100 oder 50 Jahren. Die physische Vernichtung von Menschen hat selbst für professionelle Soldaten keine Priorität. Ein großer Krieg wird unmöglich oder zumindest weniger katastrophal sein als jene beiden, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen. In der Welt sinkt die Zahl der Konflikte, als deren Lösung ein Krieg betrachtet wird. Obwohl es solche Konflikte nach wie vor gibt: im Südkaukasus, im Nahen Osten und in Afrika.

Ungleichgewicht im Handel

Die Besorgnis über die globale Verlangsamung des Wirtschaftswachstums wurde ab 2017 zusehends geringer. Das geht mit der Tendenz zur Beschleunigung des Weltwirtschaftswachstums vor dem Hintergrund der guten Kennzahlen von Australien, den USA und China einher. Dennoch weisen viele Beobachter mit Recht auf die grundlegenden Probleme der Weltwirtschaft hin, die das niedrige Wachstumstempo des vorherigen Jahrzehnts bedingt haben. In erster Linie handelt es sich dabei um das hohe Maß an Ungleichheit innerhalb der Länder und zwischen den Ländern.

Mehr noch, diese Ungleichheit wird durch die wachsende Kluft hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration der Länder verstärkt, nämlich bei deren Teilnahme an Freihandelsabkommen und anderen regionalen Handels- und Investitionsverbänden. Am weitesten von der fieberhaften Schaffung von Wirtschaftsverbänden sind ausgerechnet die am wenigsten entwickelten Länder sowie Entwicklungsländer ohne Zugang zum Meer entfernt. Daher rührt das Paradox, mit dem die globale Wirtschaft nach wie vor konfrontiert ist: Die meisten Länder, die eine wirtschaftliche Integration am bittersten nötig hätten, werden bei der Teilnahme an regionalen und globalen Wirtschaftsverbänden und "Clubs" am stärksten benachteiligt.

Um die "Ungleichheit bei der Integration" einzuschätzen, genügt es, die durchschnittliche Zahl der Integrationsabkommen bei den wirtschaftsschwachen Ländern (also denen ohne Zugang zum Meer und denen mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen) und den starken Ökonomien zu vergleichen. Werfen wir also einen Blick auf die Zahlen. Beim Vergleich der Kennziffern der am wenigsten entwickelten Länder und der gut entwickelten Ökonomien (nach Definition der Weltbank) ist ein beeindruckender Unterschied zu sehen: Die Durchschnittszahl der Freihandelszonen liegt bei den wirtschaftsschwächsten Ländern bei 0,3 Abkommen, bei den höchstentwickelten Ökonomien bei 14,7 (mehr als vierzigmal so viel).

Wenn noch andere Integrationsabkommen mit berechnet werden, betragen die entsprechenden Zahlen 1,6 und 16,8 – die Kennziffern der beiden Gruppen unterscheiden sich also mehr als ums Zehnfache.

Eine weitere Möglichkeit, die Ungleichheit bei der wirtschaftlichen Integration einzuschätzen, ist die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO). Von den 21 Beobachterländern, die immer noch nicht zur Organisation gehören, hat ein Drittel keinen Zugang zum Meer, darunter Serbien und Weißrussland in Europa (letzteres ist die größte Wirtschaft Europas ohne Zugang zum Meer), Usbekistan in Asien und Äthiopien in Afrika (das bevölkerungsstärkste Land ohne Zugang zum Meer). Vor fünf Jahren gab es unter den Volkswirtschaften, die außerhalb des WTO-Rahmens geblieben waren, erheblich mehr Länder ohne Zugang zum Meer. Unter den WTO-Beobachterländern entfielen fast 40 Prozent auf solche Länder, was mit deren zwanzigprozentigem Anteil an der Weltwirtschaft vergleichbar ist.

Um die Kluft zwischen den reichen und den weniger reichen Ländern abzubauen, ist ein anderer Ansatz für die wirtschaftliche Integration notwendig, in dem Nachhaltigkeit und Gleichgewicht zwischen den Ländern vorgesehen sind. Das neue Paradigma soll auf neuen Integrationsmechanismen beruhen, die stärker auf die Entfaltung der für die Entwicklungsländer vorrangigen Bedürfnisse orientiert sind.

Um uns herum existiert eine Welt des Überflusses, nicht des Mangels, und die Technologieentwicklung verspricht weiter zu florieren. Außerdem setzt die gegenseitige Abhängigkeit alle Protagonisten ins gleiche Boot und verleiht allen ein Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung der Weltwirtschaft und der Bewahrung der globalen Stabilität. Wenn sich das Wachstumstempo einer Reihe der bedeutendsten Ökonomien verlangsamt, spürt das die gesamte globalisierte Weltwirtschaft.

Als "Haben" sehen wir die Kehrseite. Das Sicherheitsnetz aus Wirtschaftsentwicklung und technologischen Innovationen gibt den Staaten ein trügerisches Sicherheitsgefühl, das ihnen mehr Experimente und Härtetests erlaubt. Die Technologien schaffen neuen Raum für solche Experimente und gleichzeitig ein Risiko, sich mit der Entwicklung zu verspäten und zu den Verlierern abzurutschen, was den Spieleifer noch stärker anspornt. Unter dem Vorwand eines unfairen Wettbewerbs werden internationale Regelungen revidiert, in erster Linie beim Handel und bei der Rüstungsbegrenzung. Politische Provokationen sind wieder gang und gäbe geworden.

Ein anderes Merkmal ist das Bestreben zu einer Ideologisierung der internationalen Prozesse, was in der Praxis in massive Kampagnen zur Verunglimpfung und Delegitimierung des Partners im Falle einer Verschärfung der Beziehungen ausartet. Insgesamt bewegen sich die internationalen Beziehungen hin zu immer weniger verpflichtenden Wechselwirkungen. Alle gehen davon aus, dass der Friede selbst unter den Bedingungen eines politischen Konflikts zwischen den Ländern gesichert ist. Und deswegen könne man sich erlauben, nicht miteinander zu verkehren und "Trolling" als Kommunikationsmittel zu benutzen.

Während die führenden Weltmächte stark genug sind, um diese Stresstests auszuhalten, führen derartige Experimente in vielen Regionen, unter anderem an Russlands Grenzen, katastrophale Folgen herbei, nämlich die Zerstörung der Staatlichkeit und die Ausbreitung der Zone von Chaos und Anarchie.

Somit stärkt der Unglaube an einen großen Krieg die "Gewohnheit an den Frieden" und fördert infolgedessen eine leichtfertige Einstellung zu riskanten Situationen. Doch dafür macht es eine Wiederholung des Szenarios der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts weniger realistisch, als der Weltkrieg zum Mittel wurde, den Gordischen Knoten der unversöhnlichen Widersprüche zu zerschneiden. Deshalb wird unsere Welt nicht zusammenstürzen, wie es mit der europäischen Welt im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschehen war. Sie wird in allen für Menschen und Staaten wichtigen Erscheinungsformen langsam bröckeln und sich verformen. Dieser Prozess wird ausnahmslos alle betreffen, denn die Ausmaße der gegenseitigen Abhängigkeit sind momentan unvergleichlich größer als jemals in der Geschichte der Menschheit, und der Begriff des "globalen Allgemeinguts" (Global Commons) erstreckt sich mittlerweile auf Dinge, die früher nie dazu gerechnet worden waren.

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Der Artikel wurde verfasst von:

Fjodor Alexandrowitsch Lukjanow

Leiter der Autorengruppe, wissenschaftlicher Direktor der Stiftung für die Entwicklung und Unterstützung des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Chefredakteur des Magazins "Russia in Global Politics", Präsidiumsvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, Professor und Forscher an der Nationalen Forschungsuniversität "Higher School of Economics".

Dr. habil. pol. Oleg Nikolajewitsch Barabanow

Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Professor an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professor am Moskauer Staatlichen Institut für internationale Beziehungen unter der Schirmherrschaft des russischen Außenministeriums (MGIMO).

Dr. rer. pol. Timofej Wjatscheslawowitsch Bordatschow

Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien der Nationalen Forschungsuniversität "Higher School of Economics".

Dr. habil. econ. Jaroslaw Dmitrijewitsch Lissowolik

Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Mitglied des Expertenrates der russischen Regierung, Mitglied des Bretton-Woods-Komitees.

Dr. rer. pol. Andrej Andrejewitsch Suschenzow

Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Leiter des Analysebüros "Außenpolitik", Dozent am Lehrstuhls für angewandte Analyse der internationalen Probleme des Moskauer Staatlichen Instituts für internationale Beziehungen unter der Schirmherrschaft des russischen Außenministeriums (MGIMO).

Dr. rer. pol. Iwan Nikolajewitsch Timofejew

Programmdirektor des internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Programmdirektor des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten. 

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