Entspannungskritik ganz leicht gemacht: Die "Süddeutsche" und die geistigen Erben von Egon Bahr

Die Ehefrau des verstorbenen Egon Bahr hat einen Reader veröffentlicht, der für eine Entspannungspolitik 2.0 plädiert. Bislang wurde er nur in einem Mainstreammedium besprochen. Ob dies ein Nachteil ist, darf nach der Rezension getrost bezweifelt werden.
Entspannungskritik ganz leicht gemacht: Die "Süddeutsche" und die geistigen Erben von Egon Bahr

von Leo Ensel

Hand aufs Herz: Woran denken Sie, wenn Sie die Worte "Frieden", "Freundschaft" und "Russland" hören? Für Renate Nimtz-Köster von der Süddeutschen ist die Sache sofort klar: "Flatternde Fahnen, Spruchbänder und das schwungvolle FDJ-Lied"!

Nun liegt, wie die Schönheit, bekanntlich auch die DDR-Assoziation in den Augen des Betrachters – pardon: der Betrachterin! Derart eingestimmt, wissen Leserinnen und Leser jedenfalls bereits nach dem ersten Satz, was sie laut Wissenschaftsjournalistin von dem letzte Woche erschienenen Band "Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen – Ein Aufruf an alle" zu erwarten haben.

"Entspannung ganz leicht gemacht" ist überschrieben, was offenbar eine Rezension sein soll. Aber Hand aufs Herz: Woran denken Sie jetzt? Yoga? Wellness? Work-Life-Balance? Doch nicht gar an Sachen, die hier ganz bestimmt nicht hingehören? Der Untertitel präzisiert: "Egon Bahrs Witwe hat Putin-Versteher zu einem Appell versammelt, die Botschaft lautet: Seid endlich freundlicher zu Moskau! Kritikwürdiges wird dabei ausgeblendet." In der Printausgabe der Süddeutschen heißt der letzte Satz statt dessen: "An guten Argumenten mangelt es aber."

Da es an guten Argumenten vor allem der Rezensentin mangelt, könnte man sich den nun folgenden knapp 3.600 Zeichen langen Artikel getrost schenken. Mit Überschrift, Untertitel und dem ersten Satz hat Frau Nimtz-Köster ihr Pulver bereits verschossen. Da aber niemand umsonst lebt, weil man ihn ja immer noch als schlechtes Beispiel benutzen kann, lohnt eine Lektüre, so gesehen, dennoch. Zeigt die Pseudorezension doch beispielhaft, auf welch erbärmlichem Niveau die Kritik sich bewegt, die allen, die sich dem Mainstream zum Trotz immer noch um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen, postwendend um die Ohren geknallt wird.

Das Elend beginnt spätestens im Untertitel mit dem üblichen, das wunderschöne deutsche Wort "Verständnis" verballhornenden Spottbegriff, ohne den heutzutage kein Qualitätsmedium mehr auszukommen scheint. (Früher wären analoge peinliche Neologismen im Kulturteil der FAZ noch einer ätzenden, aber zutreffenden Sprachkritik unterzogen worden. Zumindest wenn es sich um Kampfbegriffe der Gegenseite gehandelt hätte ... Tempi passati!) Da aber auch eine Journalistin wie Renate Nimtz-Köster gelernt hat, ein Ass nur einmal auszuspielen, wird Gabriele Krone-Schmalz im folgenden zur Abwechselung mal als "Putin-Verteidigerin" apostrophiert. Auf dieses Attribut, verbunden mit dem Hinweis, Frau Krone-Schmalz habe mit ihrem Beitrag zugleich den Buchtitel vorgegeben, beschränkt sich die Auseinandersetzung mit der langjährigen ARD-Russlandkorrespondentin.

Ähnlich leicht macht es sich die studierte Slawistin mit dem Beitrag von Adelheid Bahr, der Ehefrau des verstorbenen Architekten der Entspannungspolitik der Siebzigerjahre: "Eine neue Entspannungspolitik ist das Gebot der Stunde!!!, so schallt es nun auch im Vorwort von Erziehungswissenschaftlerin Bahr, in memoriam ihres 2015 gestorbenen Mannes." Das reicht bereits für die Herausgeberin des Bandes und liefert die willkommene Überleitung zu zwei dem Reader vorangestellten Reden von Egon Bahr. Mit diesem setzt sich Nimtz-Köster für ihre Verhältnisse geradezu minutiös auseinander: Zitiert sie doch nicht nur dessen Begriffe "Verantwortungspartnerschaft" und "Vorleistungen", auch zwei Halbsätze zur Krim und zu Minsk II dürfen diesmal nicht fehlen! Dann ein kleiner Seitenhieb, Bahr sei mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung "auch nicht unfehlbar gewesen" – und damit sind auch diese Kapitel abgehakt.

Und so geht es munter weiter. Aus den Beiträgen der Co-Autoren Friedrich Dieckmann, Mathias Bröckers, Peter Gauweiler wird hier mal ein Halbsatz, dort ein Begriff, im Falle Wolfgang Bittners sogar ein vollständiger Satz zitiert. Justus Frantz mutiert flott zum "Musikus"; das reicht, um ihn in Sachen "Russlandverständigung" zu disqualifizieren. Dass Ex-Außenminister Gabriel, der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki und Antje Vollmer ebenfalls mit von der Partie sind, wird gerade noch summarisch erwähnt. (Zum Ausgleich dafür werden Persönlichkeiten wie der Ex-Diplomat und Genschervertraute Frank Elbe oder der Generalinspekteur der Bundeswehr a.D. Harald Kujat einfach ausgeblendet.) Kurz: Die Wissenschaftsjournalistin bedient sich bei den Texten, wie es ihr gerade passt! 

Jetzt noch schnell je ein Zitat des Historikers Heinrich August Winkler und (dem Autor dieses Verrisses zerreißt es das Herz!!) des Osteuropaverführers Karl Schlögel drüber gegossen – fertig ist die Qualitätsrezension.

Nein, fast fertig. Denn irgendwie muss ja selbst eine Renate Nimtz-Köster noch begründen, warum Frieden und Freundschaft mit Russland schließlich gaga ist. Der Grund: Merkel und Putin hätten seit Sommer 2013 mindestens vierundfünfzigmal miteinander telefoniert, sich in dieser Zeit fünfzehnmal getroffen – einmal sogar, wie ihr noch deutlich in Erinnerung steht, "mitsamt Putins Hund" –, außerdem hätten die Gespäche in Minsk "mit siebzehn Stunden zu den längsten Verhandlungen" gehört, "die Merkel je geführt" habe. Gebracht aber – so steht es zwischen den Zeilen – hätte alles nichts!

Auseinandersetzung mit den Thesen der Autorinnen und Autoren? Fehlanzeige! Statt dessen dominiert ein süffisanter Unterton. Das reicht offenbar!

Kurz und schlecht: Es darf getrost bezweifelt werden, ob die "Rezensentin" – das Wort kann hier nur in Anführungsstrichen verwendet werden – außer dem Inhaltsverzeichnis auch nur einen einzigen Beitrag des von ihr besprochenen Bandes gelesen hat. So bespricht man ein Buch, ohne es zu besprechen! Dass man für solch ein Opus Romanistik und Slawistik studieren und Wissenschaftsjournalistin werden musste, ist beeindruckend.

Andererseits, und das ist wiederum tröstlich: Niemand lebt umsonst – man kann ihn, pardon: sie!, immer noch als schlechtes Beispiel benutzen!

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Über den Autor:

Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.

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