Die Bild am Sonntag schreibt Jens Spahn zum Kanzlerkandidaten hoch
von Andreas Richter
Gesundheitsminister Jens Spahn wurde von der Bild am Sonntag für kanzlertauglich befunden. Spahn sei die neue "Hoffnung der Union", heißt es schon in der Überschrift des Artikels von Miriam Hollstein. Der Artikel zeichnet ein sehr wohlwollendes Bild von Spahns Karriere und Persönlichkeit und führt gleich drei Gewährsleute für die angebliche Kanzlertauglichkeit Spahns an: den früheren Finanzminister und heutigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, den CSU-Ehrenvorsitzenden Edmund Stoiber und den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Anlass für die Adelung Spahns durch das Springer-Blatt war die Vorstellung seiner Biografie am Montag. Das dem CDU-Mann offenbar ebenfalls sehr wohlwollend ausgefallene Buch wurde von Michael Bröcker verfasst, dem Chefredakteur der Rheinischen Post. Vorgestellt wurde es, auf den ersten Blick etwas überraschend, von Dietmar Bartsch, dem Fraktionsvorsitzenden der Linken. Spahn und seine Biografie wurden auch von der Welt, der FAZ und dem Merkur mit deutlicher Sympathie behandelt.
Hintergrund dieser politisch-medialen Manöver ist der zunehmende Autoritätsverlust von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre Koalition aus Union und SPD hat die Querelen um die Personalie Hans-Georg Maaßen und die sogenannte Hetzjagddebatte zwar gerade noch einmal überstanden, ist aber in einem erbärmlichen Zustand und dürfte die Legislaturperiode nicht überstehen. Merkels Stellung in der eigenen Fraktion ist mittlerweile prekär, es herrscht Unmut über ihren als zu "links" wahrgenommenen Kurs und vor allem über ihre Migrationspolitik. Bizarrerweise scheint die Kanzlerin mittlerweile mehr Sympathien bei Grünen und SPD zu genießen als im eigenen Lager.
Spahn hatte sich schon früh als Kritiker Merkels und ihrer Flüchtlingspolitik profiliert. Gegen ihren Willen drängte sich der damals 34-Jährige 2014 in den CDU-Parteivorstand, 2018 wurde er auf Druck der Parteirechten Gesundheitsminister. Weichen musste beide Male der Merkel-Vertraute Hermann Gröhe. Spahn gilt als Hoffnung der Konservativen in der Union. Allerdings ist er erst seit einem halben Jahr Minister, und um tatsächlich als ernsthafte Option für das Kanzleramt gelten zu können, muss er sich in seinem Amt noch bewähren.
Allerdings ist die personelle Lage der Union so prekär, dass der Weg an die Spitze kürzer ausfallen könnte als in der Zeit vor Merkel. Die Kanzlerin hat nicht nur keine potenziellen Nachfolger aufgebaut, sondern mögliche Rivalen in ihrer Zeit als Parteivorsitzende reihenweise aus dem Weg geräumt. CSU-Chef Horst Seehofer spricht in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund vom "Friedhof hinter dem Kanzleramt". Neben Spahn gelten derzeit nur noch die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer als ernsthafte Kandidaten für die Nachfolge für Merkel in Partei und Kanzleramt.
Von der Leyen wurde zwar Ende Juli schon vom Spiegelhofiert und für größere Aufgaben ins Spiel gebracht, gegen sie sprechen allerdings ihre anhaltende Unbeliebtheit in der Partei und ihre zweifelhafte Bilanz als Verteidigungsministerin. Kramp-Karrenbauer kann als Merkels Wunschkandidatin gelten, womit auch schon gesagt ist, was gegen sie spricht.
Bleibt Jens Spahn, der nicht nur die Unterstützung alter und neuer Merkelgegner wie Schäuble, Stoiber und Kurz genießt, sondern nun auch die der Springer-Presse, die sich nicht nur im Fall Maaßen bereits vorsichtig von Merkel abgesetzt hatte. Springer vertritt nicht nur einen bedeutenden Teil des Establishments, sondern insbesondere auch die Fraktion der Transatlantiker. Dazu passt, dass Spahn das "Young Leader Program" absolviert hat, ein Nachwuchsförderprogramm des American Council on Germany, und im vergangenen Jahr an einer Bilderberg-Konferenz teilnahm. Spahn verfügt auch über sehr gute Verbindungen zum US-amerikanischen Botschafter in Berlin, Richard Grenell. Darüber allerdings schweigt sich der BamS-Artikel aus; Verbindungen zu Trump-Leuten passen bei der Werbung für Spahn offenbar nicht ins Konzept.
Die US-Verbindungen Spahns geben einen Hinweis darauf, was eine mögliche Regierung unter Führung Spahns bedeuten würde. Außenpolitisch dürfte die starke Bindung Deutschlands an die USA trotz der derzeitigen Turbulenzen nicht in Frage stehen. Dies beinhaltet grundsätzlich die fortgesetzte Beteiligung am Kalten Krieg gegen Russland, auch wenn Berlin und Washington auch künftig nicht in allen Einzelfragen übereinstimmen werden. Spahns europapolitische Äußerungen lassen auch auf Kontinuität in diesem Politikfeld schließen. Der Umbau der Europäischen Union von einem Verbund gleichberechtigter Staaten zu einem Instrument deutscher Hegemonie könnte sich unter ihm fortsetzen, solange die anderen Europäer es geschehen lassen.
Schlüsselthema einer Spahn'schen Kanzlerschaft wäre die Migrationsfrage, die ja auch im Zentrum der Krise Merkels steht. Hier wäre von einer Regierung Spahn eine Art Doppelstrategie zu erwarten. Einerseits dürfte sich Spahn von Merkels Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 distanzieren, wie er es damals schon getan hatte. Möglicherweise werden auch migrationsbezogene Sicherheitsprobleme thematisiert. Eine neue Regierung dürfte in jedem Fall eine klar migrationskritischere Rhetorik pflegen, von Begrenzung und Kontrolle sprechen, um so die skeptische Stimmung in der Bevölkerung aufzunehmen.
Andererseits dürfte sich die Migrationspolitik selbst nicht grundlegend ändern. Es ist im deutschen Establishment Konsens, dass die deutsche Wirtschaft jährlich Zuwanderung im sechsstelligen Bereich benötigt. Wahrscheinlich soll diese Zuwanderung künftig weniger in Form von Flüchtlingen erfolgen, sondern wie bisher schon über die Anwerbung von Fachkräften aus Osteuropa und anderen Regionen. Die katastrophalen Folgen für diese Länder werden dabei auch künftig keine Rolle in der Debatte spielen, ebenso wenig wie das demographische Kernproblem einer zahlenmäßig abnehmenden deutschen Bevölkerung.
Ob mit einer solchen migrationspolitischen Wende die Unzufriedenheit im Land eingedämmt werden kann, muss sich zeigen. Dies wäre nur möglich, wenn sich etwas an den realen Problemen der Leute änderte. Und diese betreffen vor allem die Sicherheit: soziale Sicherheit und Alltagssicherheit.
Wie genau die Politik einer Regierung Spahn aussehen würde, hängt natürlich von der konkreten Parteienkonstellation ab, die sich zusammenfindet. Und hier dürfte aus Sicht des Establishments der größte Vorteil Spahns liegen. Er ist quasi universell anschlussfähig. Mit seiner offen gelebten Homosexualität, seinen teilweise liberalen gesellschaftspolitischen Ansichten und seiner prinzipiellen Offenheit gegenüber der Migration finden sich leicht Anknüpfungspunkte mit den Grünen.
Und interessanterweise auch mit den Linken. Wie bereits erwähnt, wurde Spahns Biografie von Dietmar Bartsch vorgestellt, mit dem sich Spahn duzt. Bartsch betonte zwar, er wünsche sich einen Kanzler aus dem linken Lager, aber ein Signal ist ein solches gemeinsames Auftreten allemal. Mit Merkel oder Kohl wäre so etwas undenkbar gewesen.
Gleichzeitig dürfte Spahn mit seinem zur Schau gestellten Konservatismus, seiner zumindest rhetorisch migrationsskeptischen Haltung und seinem wirtschaftsfreundlichen Position auch nach rechts koalitionsfähig sein. Zum einen lässt sich die Union selbst relativ leicht hinter diesen Positionen sammeln, dann ist da die FDP, deren Chef Christian Lindner ohnehin freundschaftlich verbunden ist. Und dann gibt es da noch die AfD. Mittelfristig dürften auch Bündnisse der Union mit ihr oder wenigstens mit einer Art AfD-Realo-Flügel realistisch sein. Das wahrscheinlichste Bündnis für den Fall eines vorzeitigen Endes der Großen Koalition dürfte allerdings zunächst einmal Jamaika sein.
Noch ist längst nicht sicher, dass Jens Spahn Merkels Nachfolger wird. Die hier ausgebreiteten Szenarien beschreiben nur Möglichkeiten, die sich aber aus heutiger Sicht alles andere als unwahrscheinlich ausnehmen. Das Land ist im Umbruch, ebenso das Parteiensystem. Die schlechte Nachricht ist: Mit Spahn oder ohne ihn, es ist derzeit keine Konstellation in Sicht, die eine Politik im Sinne der Bevölkerungsmehrheit verträte.
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