Die Stunde der Hebammen: Pressekonferenz der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen"
von Timo Kirez
Hebammen, vom althochdeutschen "Hev(i)anna" (Ahnin/Großmutter, die das Neugeborene aufhebt/hält), auch lateinisch "Obstetrix" (obstare, beistehen), sorgen dafür, dass bei einer Geburt alles glatt läuft. Auch während des Wochenbetts und danach stehen sie mit Rat und Tat zur Seite. Wer diesen Dienstagvormittag bei der Vorstellung der neuen linken Sammlungsbewegung "Aufstehen" dabei war, bekam eine Gratislektion darin, was gute Hebammen ausmacht - salopp formuliert: Es geht um das Baby, Baby!
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Zu fünft stellte sich die Sammlungsbewegung der Öffentlichkeit vor und beantwortete die Fragen im Saal der Bundespressekonferenz. Dabei waren: Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, Ludger Volmer, ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt und Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen, Simone Lange (SPD), amtierende Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, Bernd Stegemann, Autor und Dramaturg sowie Hans Albers, Kommunikationsexperte.
Wer steckt hinter "Aufstehen"?
Bevor es um die Programmatik der neuen Sammlungsbewegung geht, ein kurzes Porträt der Protagonisten.
Sahra Wagenknecht ist eine deutsche Volkswirtin, Publizistin und Politikerin. Ab den frühen 1990er-Jahren hatte sie maßgebliche Funktionen in verschiedenen Vorstandsgremien der ehemaligen PDS inne. Nach der 2007 erfolgten Vereinigung der PDS mit der WASG konnte sie ihren Einfluss in der Nachfolgepartei Die Linke erweitern. Dort gilt die lange Zeit als Kommunistin auftretende Wagenknecht als Protagonistin des linken Parteiflügels. Sie ist zudem Mitglied der Gewerkschaft ver.di.
Von 2010 bis 2014 war sie eine der stellvertretenden Parteivorsitzenden. Davor vertrat sie die PDS bzw. Die Linke von 2004 bis 2009 als Mandatsträgerin im Europäischen Parlament. Seit September 2009 ist Wagenknecht Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Ab 2011 war sie dort stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion. Am 13. Oktober 2015 löste sie zusammen mit Dietmar Bartsch, einem Vertreter des als gemäßigt geltenden Parteiflügels, den bis dahin amtierenden Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi ab und rückte damit zur Oppositionsführerin des 18. Bundestags auf.
Bernd Stegmann ist ein deutscher Autor und Dramaturg. Stegemann studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Er promovierte bei Manfred Brauneck mit einer Systemtheoretischen Dramaturgie "Die Gemeinschaft als Drama", die 2001 erschien. Von 1999 bis 2002 war er Chefdramaturg am Frankfurter TAT. Von 2004 bis 2007 war er Dramaturg am Deutschen Theater Berlin. 2005 wurde er zum Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch berufen.
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Von 2008 bis 2017 war er Dramaturg (2009 bis 2011 Chefdramaturg) an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Seit 2018 arbeitet er als Dramaturg am Berliner Ensemble. Stegemann mischte sich mit Publikationen immer wieder in das aktuelle politische Tagesgeschehen ein. So unter anderem mit seinem Buch "Das Gespenst des Populismus: Ein Essay zur politischen Dramaturgie" aus dem Jahr 2017.
Ludger Volmer war Mitbegründer der Partei "Die Grünen". Er vertrat sie 18 Jahre lang als Mitglied des Bundestages und je vier Jahre als Parteivorsitzender und Staatsminister im Auswärtigen Amt. Seinem Studium zum Diplom-Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Uni Bochum folgte ein Promotionsstudium der Philosophie in Gießen und die Promotion auf dem Gebiet Internationale Politik, Zeitgeschichte und Soziologie in Bochum.
Nach seiner Zeit in der Bundespolitik arbeitete Volmer als freiberuflicher Publizist, Dozent und Politikberater. Dabei zeigte er sich von den Grünen enttäuscht und sagte: "Den Grünen heute geht es nicht mehr um die Bekämpfung struktureller Armut, sondern um die Verschönerung des bürgerlichen Lebens."
Simone Lange ist eine ehemalige Abgeordnete im Landtag von Schleswig-Holstein und seit dem 15. Januar 2017 Oberbürgermeisterin von Flensburg. Im April 2018 kandidierte sie für das Amt der Bundesvorsitzenden der SPD gegen Andrea Nahles. Sie wuchs im thüringischen Rudolstadt auf, damals eine Kreisstadt im Bezirk Gera in der damaligen DDR, und machte 1995 ihr Abitur am Gymnasium Fridericianum.
Nachdem sie ihr Studium an der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Altenholz 1998 als Diplom-Verwaltungswirtin (FH) im Fachbereich Polizei abgeschlossen hatte, war sie von 1999 bis 2012 als Sachbearbeiterin bei der Kriminalpolizei in Flensburg beschäftigt.
Hans Albers ist ein Kommunikationsexperte mit Schwerpunkt Digitale Medien und PR. Er war unter anderem bei den Kommunikationsagenturen Jung von Matt, fischerAppelt Kommunikation und bei DDB Tribal Hamburg tätig. Mittlerweile führt Albers die Kommunikationsagentur achtung! GmbH als Chefkreativer. Das Hauptaugenmerk seiner Arbeit liegt in der kreativen Verknüpfung von Social Media, PR und Digitalmarketing.
Warum soll man "Aufstehen"?
Die Vorstellung der neuen Sammlungsbewegung begann mit einer imposanten Zahl: "Aufstehen" zählt mittlerweile über 100.000 Mitglieder. In der Gründungserklärung der Sammlungsbewegung unter dem Titel "Gemeinsam für ein gerechtes und friedliches Land" finden sich erste programmatische Ansätze zur Sozial-, Wirtschafts-, Umwelt- und Außenpolitik.
Dabei steht die soziale Frage klar im Vordergrund. Nach dem Motto "Sichere Jobs, gute Löhne, gerechte Steuern und ein erneuerter starker Sozialstaat" möchte "Aufstehen" Leiharbeit, Missbrauch von Werkverträgen und Scheinselbständigkeit bekämpfen.
Die Digitalisierung soll zu einer Umverteilung von Arbeit führen - mit "weniger Stress für alle statt Arbeitslosigkeit für die einen und Überarbeitung in zunehmend prekären Jobs für die anderen" als Resultat. Zudem soll Altersarmut durch höhere Renten bekämpft werden und "eine echte Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die Lebensleistung schützt, statt Absturz durch Hartz IV" den Druck aus dem sozialen Kessel nehmen.
Untere und mittlere Einkommen sollen steuerlich entlastet, große Vermögen und Konzerne stärker besteuert werden. Zudem sollen Steuertricks durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen der Boden entzogen werden.
Wagenknecht sprach während der Präsentation von einer "handfesten Krise der Demokratie", da es nicht zu akzeptieren sei, dass sozialpolitische Verbesserungen, die in Deutschland von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert würden, keinen Niederschlag in der Politik der Bundesregierung fänden. Hier soll "Aufstehen" nachhelfen. Denn die Vermögensungleichheit sei mittlerweile "so hoch wie zu Kaisers Wilhelms Zeiten".
Auch in der Außenpolitik möchte die Bewegung eine Umkehr. Deutschland und Europa sollen unabhängiger von den USA werden.
Abrüstung, Entspannung, friedlichen Interessenausgleich und zivile Konfliktverhütung fördern statt Soldaten in mörderische Kriege um Rohstoffe und Macht schicken. Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee in eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft einbinden, die Ost und West umfasst", schreibt die Bewegung auf ihrer Webseite.
Es sei falsch, dass die deutsche Regierung sich einer "unberechenbaren, zunehmend auf Konflikt orientierten US-Politik unterordne", statt sich auf das "gute Erbe der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und der Friedensbewegung in Ost und West zu besinnen". Das Wettrüsten zerstöre alle Errungenschaften der Abrüstung in den 90er-Jahren.
Im Verhältnis zu Russland herrsche Eiszeit. Die Bewegung kritisiert die deutsche Regierung für die Beteiligung "an Kriegen, Waffenexporten in Krisengebiete, der Missachtung des Völkerrechts". Die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes der großen Atommächte sei wieder größer geworden.
Bei der schon im Vorfeld kontrovers geführten Diskussion um die Flüchtlingspolitik positioniert sich "Aufstehen" eindeutig gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Andererseits sei auch das andere Extrem der "offenen Grenzen" keine Lösung, so Ludger Volmer während der Pressekonferenz. In der Erklärung von "Aufstehen" liest sich das so:
Die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts, wachsende Unzufriedenheit und empfundene Ohnmacht schaffen einen Nährboden für Hass und Intoleranz. Auch wenn der Hauptgrund für Zukunftsängste die Krise des Sozialstaats und globale Instabilitäten und Gefahren sind: Die Flüchtlingsentwicklung hat zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. Übergriffe auf Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Religion häufen sich. Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab. Gerade deshalb halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich. Bis heute werden Städte, Gemeinden und ehrenamtliche Helfer weitgehend allein gelassen. Viele bereits zuvor vorhandene Probleme wie der Mangel an Sozialwohnungen, überforderte Schulen oder fehlende Kita-Plätze haben sich weiter verschärft. Am Ende leiden vor allem die ohnehin Benachteiligten.
Dies war auch gleichzeitig der Tenor bei den Antworten auf mehrere Nachfragen während der Pressekonferenz zum Thema Chemnitz. Wagenknecht erklärte mit Verve, dass man die Ereignisse in Chemnitz nicht allein mit der "Nazikeule" deuten könne. Dies sei zu oberflächlich und gleichzeitig auch fahrlässig.
Die Linken-Politikerin verwies auf vorherige Demonstrationen von Neonazis, an denen nur "einige Hundert Menschen" teilgenommen hätten. Es könne nicht sein, dass es in Chemnitz nun plötzlich Zehntausende Neonazis gebe. Sie selbst habe mit Menschen gesprochen, die an ähnlichen Kundgebungen teilgenommen hätten.
Ihr Resümee sei, dass es sich, abgesehen von den tatsächlichen Rechtsextremen, oftmals um Menschen handle, die "nicht wissen, wohin sie sich mit ihrer Unzufriedenheit wenden können". Gerade diese Menschen gelte es zurückzugewinnen.
Wie soll "Aufstehen" funktionieren?
Während der Pressekonferenz wurde schnell klar, dass sich die fünf Protagonisten nicht als "Führer" der Bewegung sehen. Vielmehr entstand der Eindruck, wie es auch schon der Titel dieses Beitrags wiederzugeben versucht, dass sie sich eher als Geburtshelfer einer neuen Bewegung sehen.
Die neue Bewegung wolle "die Politik zurück zu den Menschen bringen". "Aufstehen" sei auch keine neue Partei. Vielmehr solle es eine überparteiliche Sammlungsbewegung werden, in die sich "jede und jeder einbringen kann". Ein konkreteres, detailliertes Programm solle von den Mitgliedern in einem "transparenten Diskussionsprozess" selbst erarbeitet werden. Ausdrücklich erklärte Wagenknecht, dass sie die Plattform auch als eine Chance für junge, noch unbekannte, politische Talente sehe.
Pünktlich zum Start der Bewegung präsentierte der Kommunikationsexperte Albers das "Debatten-Tool Pol.is". "Aufstehen" sei die erste Organisation in Deutschland, die das im Umfeld der Occupy-Wall-Street-Bewegung entstandene digitale Tool einsetze. Es solle dabei helfen, aufzuklären, Diskussionen zu organisieren und letztendlich gesellschaftlichen Druck für die Forderungen von "Aufstehen" entfalten. Es gehe darum, "die Forderungen, die die Menschen am meisten bewegen, auf die Straße und in die Politik tragen".
Resümee
Für viele wird der heutige Auftritt der fünf Repräsentanten der Sammlungsbewegung vermutlich zu vage gewesen sein. Vor allem "orthodoxe Linke" werden ihre ärgsten Befürchtungen, die sie schon im Vorfeld geäußert hatten, bestätigt sehen.
Weder gab es ein Karl-Marx-Zitat zu hören, noch wurde zum Abschluss die "Internationale" gesungen. Doch das muss kein Nachteil sein. Im Gegenteil. Die Bewegung möchte ihrem Selbstverständnis nach "zusammenführen, was zusammengehört". Es geht eben nicht darum, von oben Ansagen zu machen, die dann unten abgenickt werden. Das unterscheidet "Aufstehen" von einer Partei.
Die parteipolitischen Widersprüche zwischen den Linken, der SPD und den Grünen werden bleiben. Doch statt sich auf das zu konzentrieren, was spaltet, möchte "Aufstehen" sich lieber auf die Berührungspunkte zwischen den drei Parteien konzentrieren. Damit hebt sich die Bewegung schon mal erfrischend von der sonst üblichen leidenschaftlichen Selbstzerfleischung bei den deutschen Linken ab.
Sollte das Konzept hinter der Bewegung aufgehen, wird es nicht nur für die AfD ungemütlich. Gerade auch die SPD und Teile der Grünen, die sich immer noch hinter dem Feigenblatt einer wie auch immer gearteten "linken Gesinnung" verstecken, werden irgendwann Farbe bekennen müssen. Und das wird auch höchste Zeit.
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Wie der französische Autor, Soziologe und Philosoph Didier Eribon in seinem autobiografisch-politischen Essay "Rückkehr nach Reims" treffend feststellt, erklärt sich die Attraktivität der Rechten vor allem aus dem Versagen der Linken. Die reale Ausbeutung sei zusammen mit den Begriffen der "Klasse" und der Interessen aus dem Vokabular der Linken verschwunden, schreibt Eribon.
Die "Klassenverhältnisse" würden nicht mehr als Krieg der Oberen gegen die Beherrschten analysiert - im Gegenteil, der neokonservative Diskurs des Individualismus sei sogar von Teilen der Linken übernommen worden. Deswegen müssten die Linken wieder lernen, mit einem zusammenhängenden Diskurs um politisches Bewusstsein und den Aufbau einer linken Hegemonie zu kämpfen.
Mit anderen Worten: "Oben" und "unten" seien wichtigere politische Kriterien als die Unterscheidung nach Ethnien, Hautfarbe oder Geschlecht. Dem ist vorerst nichts hinzuzufügen.
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