Meinung

Das Mysterium Bundesregierung: Warum die deutsche Außenpolitik so schwer zu ergründen ist

Die Arbeitstreffen für den "Uhrenvergleich" zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und der deutschen Bundeskanzlerin werden zur Regelmäßigkeit. Trotzdem bleibt Russland für die Bundesregierung nach wie vor der Sündenbock. Warum eigentlich?
Das Mysterium Bundesregierung: Warum die deutsche Außenpolitik so schwer zu ergründen istQuelle: Reuters

von Wladislaw Sankin 

Es ist schwer, für die deutsch-russische Beziehungen seit Frühjahr 2014 ein passendes Vokabular zu finden. Lange galten sie als strategisch wichtig und gut, spätestens seit der Wiederwahl Wladimir Putins im Jahr 2012 als "problematisch". Seit Frühjahr 2014 waren sie, so der amtlich-deutsche und durch die Medien propagierte Allgemeinplatz, wegen der "russischen Annexion" der Krim in der Krise.

Doch seit dem Wiederanstieg des bilateralen Handels im Jahr 2016 und zunehmenden Übereinstimmungen in außenpolitischen Fragen sind sie wieder auf positiverem Pfad. Dennoch wird die Bundesregierung nicht müde – oft allen Fakten zum Trotz - vor Russland als vermeintlicher Gefahr und Bedrohung zu warnen. Und die Medien lassen die antirussische Geige für keine Minute ruhen. Wie soll man die deutsch-russische Beziehungen nach all dem nennen?

Angesichts des letzten Gipfeltreffens schienen einerseits regierungsnahe Medien wie DW oder ZDF auf den ersten Blick ihre obligatorische Russland-Kritik zumindest für einen Tag beiseite gelegt zu haben. So witterte das ZDF eine deutsch-russische Annäherung, DW sprach sogar fast wohlwollend von einem Pragmatismus, der in die Beziehungen eingekehrt sei. Auch die ARD berichtete überraschend neutral.

Und tatsächlich: Spätestens seit Merkels Besuch in Sotschi im Mai 2017 gibt es auf höchster außenpolitischer Ebene neue Dynamik und diese kann auch den voreingenommensten Medien nicht entgangen sein. Inzwischen redet Merkel mit Putin so oft wie eventuell mit keinem anderen Politiker der Welt, sieht man vielleicht von Emmanuel Macron oder Jean-Claude Juncker ab.

Seibert: (Feind-)Bild wichtiger als Fakten

Aber andererseits ist noch nicht einmal die jüngste diplomatische Krise beigelegt, als Deutschland, einem britischen Ultimatum an Russland folgend, vier russische Diplomaten ausgewiesen hatte. Die Bundesregierung hält nach wie vor an ihrer Behauptung vom 14. März fest, Russland sei angeblich für die Vergiftung von Ex-Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter in der britischen Provinz verantwortlich. Dies geschieht bar jeder Logik und auch entgegen bis jetzt bekannten, in höchstem Maße widersprüchlichen Fakten, die keineswegs auf Russland hindeuten. Journalistische und parlamentarische Anfragen werden von der Bundesregierung abgewimmelt. Für den Merkel-Sprecher Steffen Seibert zählt vor allem das antirussische "Gesamtbild", das die Briten geliefert hatten, und nicht die Fakten. 

Bleibt man bei diesem Bild, sollte es für den gemeinen gutgläubigen Bürger eigentlich schlicht unzumutbar sein, zu sehen, wie seine so mühsam wiedergewählte Kanzlerin mit dem Oberbösewicht, der Leute im Vorbeigehen vergiften, Länder annektieren und mit Chemiewaffen angreifen soll, im idyllischen Schlossgarten Meseberg stundenlang plaudert. Andernfalls könnte er ja denken, dass an den Darstellungen, wonach der russische Präsident so ein Bösewicht sein soll, etwas Grundsätzliches nicht stimmen könnte. Immerhin gaben 83 Prozent der Deutschen bei einer Forsa-Umfrage in April an, keine Angst vor Russland zu haben. Und sie vertrauen dem russischen Präsidenten sogar deutlich mehr als dem US-amerikanischen.

Von solchen Stimmungslagen lässt sich die Bundesregierung allerdings nicht beeindrucken. Auch in Zeiten, als Angela Merkel und Wladimir Putin sich regelmäßig treffen und gemeinsame Projekte wie Nord Stream 2 gegen deren Gegner verteidigen, pflegt die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine martialische Rhetorik gegenüber Russland. Sie lässt deutsche Truppen in Litauen stationieren, schickt Panzer zur russischen Grenze und plant bis zu 12.000 deutsche Soldaten zu NATO-Militärmanövern zu entsenden.

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Die Liste der Beispiele, die ein derart unstimmiges Verhalten deutlich machen, lässt sich fortsetzen. Während die Bundeskanzlerin mit Putin über die Nachkriegsordnung in Syrien berät und die Bundesregierung sogar ein neues deutsch-russisch-französisch-türkisches diplomatisches Format zur Syrien-Regulierung erwägt, empfängt der deutsche Außenminister Heiko Maas höchstpersönlich die Anti-Assad-Propagandaorganisation "Weißhelme".

Oder während Personen wie Ex-Außenminister Sigmar Gabriel Andersdenkende im innenpolitischen rechten Spektrum als Nazis beschimpfen und bei jeder Gelegenheit Nationalismus als Gefahr anprangern, lässt man grassierenden Nationalismus und unverkennbare Nazifizierung in solchen Staaten wie der Ukraine gewähren, indem man politisch-medialen Schutz für ein militaristisch-revanchistisches Regime gewährt und es mit Gratulationssprüchen wie "Heil der Ukraine" honoriert. Oder den Kampf gegen eine vermeintliche russische Desinformationskampagne mit einer eigenen, auf reiner Desinformation basierenden Strategie begründet.

Solche Außenpolitik, gemessen alleine anhand ihres Russland-Aspekts und an der moralisierenden Selbstdarstellung, ist selbst für einen politisch interessierten Bürger wenig nachvollziehbar. Erklärungen, die auf transatlantische Treue, pro-westliche Sozialisierung u. ä. hindeuten, greifen zu kurz. Es gibt sie, genauso wie es Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit in der Kommunikation der eigenen Politik nach außen gibt. Aber das gehört zum Geschäft und reicht als Erklärungsmodell nicht aus.

"Stabilisierung" im Osten

Am 31. Januar 2014 - inmitten der Kämpfe auf dem Kiewer Maidan, nur wenige Wochen vor dem Staatsstreich - hielt das damalige deutsche Staatsoberhaupt Joachim Gauck eine viel beachtete Grundsatzrede vor der Münchner Sicherheitskonferenz. Diese Rede, deren Grundsätze in den Tiefen zwielichtiger Think-Tanks bereits in den Jahren zuvor formuliert worden waren, räumte mit der deutschen "Politik der Zurückhaltung" nach außen auf. Gauck erklärte, warum Deutschland "mehr Verantwortung" übernehmen müsse. Da Deutschland "überdurchschnittlich globalisiert" sei, fragte er:

Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderung im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? Ergreift die Bundesrepublik genügend Initiative, um jenes Geflecht aus Normen, Freunden und Allianzen zukunftsfähig zu machen, das uns doch Frieden in Freiheit und Wohlstand in Demokratie gebracht hat?

Der Herausforderung durch das Wiedererstarken Russlands, und darum ging es wohl auch, sollte Deutschland u. a. durch eine eigene, engagiertere Rolle in der Stärkung der NATO und der europäischen Verteidigung wahrnehmen. Folglich forderte er Schluss mit der "Drückebergerei" beim militärischen Engagement. Konkret ging es auch um "Stabilisierung unserer Nachbarschaft im Osten und in Afrika". Entscheidend für diese Politik sollte das Aushebeln des Prinzips der staatlichen Souveränität und des Grundsatzes der Nichteinmischung sein. "Gewalttätige Regime" dürften "nicht unantastbar" sein, so Gauck.

Welches "Regime" als gewalttätig gelten würde, sollte man also künftig nicht nur in Washington, London, Brüssel und Paris entscheiden, sondern auch in Berlin. Nur knapp drei Wochen nach Gaucks Auftritt half der alte neue Außenminister Frank-Walter Steinmeier dem organisierten Mob aus Ultra-Nationalisten, den bei der EU in Ungnade gefallenen Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, zu beseitigen. Steinmeier trug nicht nur passiv dazu bei, sondern direkt, indem er nach der Unterzeichnung des Abkommens zum Machttransfer auf die Anrufe von Janukowytsch nach dem Abzug der Sicherheitskräften des Innenministeriums aus dem Regierungsviertel in Kiew nicht reagierte.

Das Sichern einer alten, halbvergessenen deutschen Einflusszone in der Ukraine - in Gaucks Sprech "Stabilisierung in der Nachbarschaft" - mit Mitteln des Regime-Change und politischer Infiltration, um den Herausforderer und geopolitischen Konkurrenten Russland zurückzudrängen, prägt seitdem die deutsche Außenpolitik. Ähnliches gilt auch für den Nahen Osten und den Balkan. Deswegen können deutsche Außenminister kommen und gehen und die Bevölkerung kann dabei denken, was sie will: Die Politik der Bundesregierung entfaltet sich gemäß den Richtlinien einer Handvoll einflussreicher Think-Tanks. Als Lobbyisten-Netzwerke haben diese auch auf Russland eine ganz eigene Sicht.

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Man will Russland lieber als Rohstofflieferant denn als Akteur  

Dieses ist für die Betreffenden vor allem als Lieferant billiger Rohstoffe und zahlreicher Naturressourcen interessant, aber nicht als Global Player und Land mit eigenständiger Kultur. Die Rohstoffe zu einem angemessenen Preis zu liefern, ist natürlich auch im russischen Interesse. Aber das Wesen des westlichen globalen Expansionismus gebietet mehr an Kontrolle über die russischen Weiten. Die russischen politischen Eliten wieder kontrollieren zu können wie in den wilden Jelzin-Jahren oder sogar noch mehr gehört wohl auch zu dieser Strategie der Sicherung derjenigen Präferenzen, von denen Deutschland so lange profitiert hatte und deren Sicherung bzw. Wiederherstellung Joachim Gauck als Grund für die deutsche Politik von "mehr Verantwortung" nannte.

Nicht von ungefähr fordern die deutschen Unternehmen von der deutschen Regierung das Ende der Russland-Sanktionen, aber auch von der russischen mehr Freiheiten und das Ende des Protektionismus. Es ist ihnen im Grunde egal, wer ihnen das alles gewährt – ob die Regierung von Dmitri Medwedew oder irgendeine andere künftige, ob eine reguläre oder revolutionäre oder gar regionale, sollte Russland einmal wie die Sowjetunion kollabieren.

In den Augen der Experten dieser Think-Tanks gilt das russische politische System als instabil und nach wie vor anfällig gegenüber der Einflussnahme aus dem Westen. Die meisten, die heute in Deutschland und anderen Staaten des Westens Politik machen, haben in den 1980er und 1990er mit ihrer Berufslaufbahn angefangen – in der Zeit, als die UdSSR zusammenbrach und der Westen triumphierte. Diese Erfahrung prägt sie bis heute. 

Deswegen paaren sich die harsche Respektlosigkeit und die Regime-Change-Fantasien gegenüber Russland mit dem pragmatischem Ansatz, der deutsche Amtsträger zu Gesprächen mit russischen Kollegen zwingt. Im Politdeutsch heißt es, den "Dialog mit Russland" aufrechtzuerhalten. Verstärkt wird dieser Widerspruch durch eine Sinnkrise, die in der deutschen Politküche spätestens seit der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump brodelt.

Maas: USA brauchen auch "rote Linien"

Überschattet durch Migrationskrise, innenpolitischen Zwist vor und nach den Bundestagwahlen, verblasste jedoch die flotte "Mehr Verantwortung"-Rhetorik für einige Zeit, um dann während der kurzen Amtszeit Sigmar Gabriels in neuem rhetorischen Gewand wiederzuerwachen. Dieser plädierte diesmal offen für einen Paradigmen-Wechsel weg von einer Werte- und hin zu einer Interessenpolitik, und begründete dies mit der Notwendigkeit, Europa durch deutsches Engagement zu stärken - bevor die "leer gewordenen Räume" durch andere, skrupellosere Akteure gefüllt würden.

Das einzige Regierungsmitglied aus einem Profil-Ministerium, das seit dem 31. Januar 2014 noch in seinem Amt ist, ist die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen - und sie lässt den Geist der Gauck-Rede weiterleben: Sie schafft Fakten. Heimlich darf sie sich sicherlich freuen, dass sie nicht wie ihre Kollegen Außenminister jahrelang fruchtlose Verhandlungen wie beim Minsker Prozess leiten muss.

Der jetzige Außenminister Heiko Maas bleibt natürlich auch im Gauck-Diskurs. Die Spannungen mit den USA haben diesen zudem auf neue Art und Weise beflügelt. Sensationell ist dabei, dass die deutsch-europäische Verantwortung diesmal auf Kosten der USA wachsen soll.

Wo die USA rote Linien überschreiten, müssen wir als Europäer ein Gegengewicht bilden – so schwer das fällt", schrieb Maas in einem Artikel am 21. August.

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Dennoch, sein erster ministerialer Akt ist allen noch gut in Erninnerung: Die bedingungslose Anerkennung des britischen Ultimatums an Russland und die daraus folgende Ausweisung von Diplomaten. Ja, der Minister, der bei seinem Amtsantritt ohne jegliche Not einen härteren "Russland-Kurs" ankündigte, hat im Unterschied zu zweien seiner Amtsvorgänger nicht einmal nennenswerte Russland-Kontakte. Aber ist die Person des Ministers wirklich wichtig?

Die Prinzipien der deutschen Außenpolitik werden in einigen wenigen Lobby-Netzwerken aus Think-Tanks und Medienvertretern erarbeitet. Und zwar nicht in einer den Wünschen des Wahlvolkes entsprechenden Weise, so viel steht fest. Das politische Tagesgeschäft, geleitet von taktischen und pragmatischen Zielen, macht das Verständnis der Politik nicht leichter. In Zeiten der raschen Umbrüche und Krisen gilt das noch mehr. Das plötzlich aufgekommene kritische Überdenken der transatlantischen Beziehungen vonseiten des Auswärtigen Amtes trägt zu dieser Komplexität in entscheidender Weise bei.

Denn ausgerechnet vor diesem Hintergrund wirkt demonstrative Feindseligkeit gegenüber Russland, das seinerseits auf Kooperation mit Deutschland und nicht auf Zoff und Sanktionen bedacht ist, besonders grotesk. Oder sind noch die Altlasten der letzten Jahre schuld? Denn einen Staatsstreich in der Ukraine mit einzufädeln, um dann nach nur 4,5 Jahren um die russische Finanzierung dieses Landes per Gas-Transit zu betteln, damit es nicht komplett bankrott wird – das muss man erst mal bringen. Russland für die nächsten Jahrzehnte als den wichtigsten Energielieferanten an sich zu binden, wieder auf Verflechtungskurs umzuschwenken und sich dabei gleichzeitig mit Stolz an NATO-Abschreckungsmanövern gegen Russland zu beteiligen – das auch.

Es ist für die Bundesregierung an der Zeit, nicht nur ihre Politik gegenüber den USA neu zu formulieren. Nicht weniger ratsam ist es auch, die eigene Russland-Politik der letzten fünf Jahre einer (selbst-)kritischen Analyse zu unterziehen. Man sollte kein Rätsel mehr sein.  

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