Ausgemerkelt: Wie die Kanzlerin von ihrer Flüchtlingspolitik eingeholt wird
von Andreas Richter
Angela Merkel wirkt wie eine Kanzlerin auf Abruf. Ihre Autorität schwindet mit atemberaubender Geschwindigkeit – in der EU, ihrer Regierung, im Land, in der Union. Wahrscheinlich würde sie heute nicht einmal mehr einen CDU-Parteitag hinter sich bringen. Ein Kommentator der New York Times hat jüngst sogar ihren Rücktritt gefordert – anderthalb Jahre, nachdem die Zeitung die Kanzlerin als letzte Verteidigerin der freien Welt feierte.
Was ist passiert? Immer deutlicher tritt zutage, dass Merkels Entscheidung, im September 2015 die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, viel mehr war als irgendein tagespolitisches Ereignis. Sie bedeutet eine Zäsur für die deutsche Gesellschaft, die Parteienlandschaft, die Medien und für die Europäische Union. In all diesen Bereichen gibt es ein Vorher und ein Nachher.
Begründet wurde die Grenzöffnung durch die Kanzlerin von Anfang an fast ausschließlich moralisch, mit der humanitären Notlage, die auf der Balkanroute geherrscht habe. Diese Argumentation wurde von den Medien zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt und, wenigstens am Anfang, auch vom Großteil der Öffentlichkeit geteilt.
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Ausschlaggebend für Merkels Entscheidung waren allerdings mit Sicherheit andere Motive. Politische Entscheidungen werden nach Nützlichkeitserwägungen getroffen, aus der Sicht des Entscheidenden müssen sie vonseiten der relevanten Interessengruppen mehr Zustimmung als Ablehnung bringen. Merkels Grenzöffnung, so viel scheint rückwirkend klar, war eine strategische Reaktion auf eine kurzfristig entstandene Sachlage, von der sich die Kanzlerin politischen Nutzen auf verschiedenen Ebenen versprechen konnte.
Sie durfte von ihrer Entscheidung erstens breite Unterstützung in den liberalen und urbanen Teilen der Gesellschaft erwarten. Deren Stimmung war damals überwiegend flüchtlingsfreundlich – man muss sich nur die Fernsehbilder vom September 2015 ansehen, um einen Eindruck von der damaligen Stimmung zu bekommen. Und man kann voraussetzen, dass sie diesen Teil der Gesellschaft als ausschlaggebend ansah.
Damit lässt sich die Grenzöffnung zweitens als Element der Neupositionierung der Union verstehen – und als Vorbereitung einer schwarz-grünen Koalition nach den Wahlen 2017. Zur Erinnerung: 2013 waren die Verhandlungen noch im Vorfeld gescheitert, nicht zuletzt am Unwillen der grünen Basis. Schwarz-Rot verfügte auch im September 2015 in den Umfragen über eine solide Mehrheit.
Drittens lässt sich die durch die Grenzöffnung wenigstens mit ausgelöste Flüchtlingswelle nach Deutschland auch als Zugeständnis an die Wirtschaft verstehen, die immer wieder lautstark nach mehr Zuwanderung gerufen hatte, durchaus nicht nur nach qualifizierter. Ein paar Hunderttausend Flüchtlinge, frisches Fleisch für die Menschenmühle des Niedriglohnsektors, ganz ohne kontroverse und langwierige Debatten – damit konnte Merkel erwarten, bei Verbänden und Unternehmen Punkte zu sammeln.
Zum vierten konnte sich die Kanzlerin erhoffen, Deutschlands Stellung in der EU und dem Rest der Welt zu stärken. Die Aufnahme einer sechsstelligen Zahl an Flüchtlingen aus humanitären Gründen konnte dazu geeignet sein, der Bundesrepublik einen Ruf als moralische Supermacht zu verschaffen und ihre Autorität in der EU noch einmal zu stärken. Zumal sie die auf Abschottung setzenden Nachbarstaaten erst einmal denkbar schlecht aussehen lassen würde.
Merkel konnte also durchaus hoffen, mithilfe ihrer Flüchtlingspolitik ihre Regierung und ihre Autorität auf Jahre hinaus zu festigen, oder, kurz gesagt, sich selbst ein Denkmal zu setzen.
Drei Jahre später lässt sich feststellen, dass sie mit fast jedem dieser Ziele grandios gescheitert ist. Zwar hat Merkel die Bundestagswahl 2017 noch einmal gewonnen, doch deutet im Moment wenig darauf hin, dass sie die Legislaturperiode bis zum Ende übersteht. Seit die Folgen der Grenzöffnung auch in den Bereichen Soziales und innere Sicherheit immer offenkundiger werden, verliert die Kanzlerin auch in den ihr eigentlich gewogenen, zuwanderungsfreundlichen Teilen der Gesellschaft an Unterstützung.
Merkels Vision einer migrationsfreundlichen, offenen, liberalen Gesellschaft hat sich fürs Erste erledigt. Die deutsche Gesellschaft ist in der Flüchtlingsfrage polarisiert wie kaum je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Flüchtlingsfreundliche Positionen sind tendenziell auf dem Rückzug; faktisch hat die Regierung ihre Asylpolitik dieser Stimmung auch längst angepasst. Die Asyldebatte leidet aber an einer moralischen Aufladung, die eine sachliche Diskussion unmöglich macht.
Der liberale und urbane Teil der Bevölkerung, der ethnische Vielfalt tendenziell als einen Wert an sich sieht, steht gegen den eher konservativen Teil, die Landbevölkerung, die sozial Abgehängten, die ihr Land bzw. ihre soziale Stellung dadurch gefährdet sehen oder die es einfach nicht mit ihrer Erfahrung in Einklang bringen können, dass das Handeln von Regierungen humanitäre Beweggründe haben soll.
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In den sozialen Medien und im realen Leben hagelt es Protest, Beschimpfungen und Übergriffe. Die Debatten sind hysterisch, beide Seiten sehen sich in einem Kampf Gut gegen Böse: Hell- gegen Dunkeldeutschland, Patrioten gegen Volksverräter. Ein Ende ist nicht abzusehen, solange die Flüchtlingsthematik die öffentliche Debatte bestimmt und nicht moralisch abgerüstet wird. Voraussetzung dafür wäre eine offene Diskussion über die tatsächlichen Motive der Kanzlerin – nur ist damit in einer Zeit, in der es nicht nur in der Politik mehr um das Schieben von PR-Kulissen als um Inhalte geht, kaum zu rechnen.
Die Parteienlandschaft ist im Vergleich zu 2015 nicht mehr wiederzuerkennen: Die AfD, vor drei Jahren schon kurz vor dem Aus, sitzt als stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Schwarz-Grün hat, wie fast alle anderen Zweierkonstellationen, keine Mehrheit mehr. Die Union steht vor der Spaltung, es zeichnet sich am Horizont die Möglichkeit einer schwarz-rot-grünen Regierung unter Ausschluss der CSU ab. Die Möglichkeit eines À-la-carte-Regierens für Merkel, der Auswahl des Regierungspartners nach Belieben zwischen Grün, Gelb und Rot, ist vom Tisch. Jenseits von Schwarz-Rot (wie lange noch?) oder Konstellationen mit drei und mehr Partnern gibt es auf absehbare Zeit keine Optionen mehr.
Auch die EU hat durch Merkels Grenzöffnung erheblichen Schaden genommen. Der Brexit war eine indirekte Folge der Flüchtlingskrise in Deutschland, ebenso wie der Wahlsieg der EU-Skeptiker in Ländern wie Polen und Italien. Welche Folgen das für die EU hat, ist noch nicht abzusehen.
Auch Deutschlands Einfluss in der EU ist gesunken. Wurde das deutsche Austeritätsdiktat von den anderen noch zähneknirschend hingenommen, war es in der Flüchtlingsfrage anders. Hier wirkten die Deutschen wie moralische Imperialisten, die den Nachbarn gegen deren Willen die eigene Linie aufzwingen wollten und die Regeln dabei nach eigenem Gutdünken auslegten. Damit konnten sie nur scheitern.
Merkel ist mit ihren hinter der Grenzöffnung stehenden strategischen Absichten also gescheitert. Als wenigstens teilweise gelungen lässt sich allenfalls der Arbeitsmarktaspekt bewerten, jedenfalls aus Sicht der Unternehmen. Die Ursachen für Merkels Scheitern lassen sich nicht genau bestimmen, aber es liegt auf der Hand, dass die Kanzlerin das Ausmaß der sich entwickelnden Flüchtlingswelle schlicht unterschätzt hat. Möglicherweise hat sie auch das Gewicht des liberalen Elements der Gesellschaft und die Wucht und die Dynamik des sich ausbreitenden Widerstands gegen ihre Asylpolitik falsch eingeschätzt.
Merkels Scheitern trägt tragische Züge. Was geeignet schien, ihre Regierung auf unbestimmte Zeit hin zu sichern und ihr gewissermaßen ein Denkmal zu setzen, überschattet nun ihre gesamte Kanzlerschaft. Ihre Regierungszeit wird jetzt und in Zukunft nicht mit dem "Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" in Verbindung gebracht werden, sondern mit dem mit Deutschland der Flüchtlingskrise, einem zerrissenen, unsicheren und hysterischen Land. Wer hätte das vor drei Jahren für möglich gehalten?
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