Meinung

NATO ist zur Belastung geworden

Der Kitt der transatlantischen Allianz, der siebzig Jahre lang gehalten hat, scheint an Klebkraft einzubüßen. Ein richtiges Feindbild existiert seit der Auflösung der Sowjetunion nicht mehr. Das krampfhafte Festhalten am Sinn ihres Daseins belastet die Allianz.
NATO ist zur Belastung gewordenQuelle: www.globallookpress.com © Nicolas Maeterlinck

von Zlatko Percinic

Wie schlimm es um das „erfolgreichste militärische Bündnis aller Zeiten“ steht, zeigt sich daran, dass sich der US-Senat veranlasst sah, eine nicht-bindende Resolution zugunsten der NATO zu verabschieden. Mit 97 zu 2 Stimmen wurde die „eiserne“ Verpflichtung der USA gegenüber der transatlantischen Allianz bekräftigt und das Weiße Haus aufgerufen, die „internationale Ordnung, die die internationale Sicherheit jahrzehntelang gefördert“ hat, nicht ins Wanken zu bringen. Oder auch daran, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, immerhin das größte Ziel der Attacken aus Washington, in ihrem Podcast der Frage widmete, „Warum brauchen wie die NATO eigentlich noch?

In der Beantwortung dieser Frage durch die Kanzlerin kann man deutlich erkennen, wie wenig Substanz tatsächlich dahintersteckt:

Wir brauchen die NATO auch im 21. Jahrhundert, weil sie Garant für unsere Sicherheit ist und zwar als transatlantisches Bündnis. Das Besondere der NATO ist, dass wir füreinander für unsere jeweilige Sicherheit einstehen, und wir sehen, dass sich die Herausforderungen für die NATO in den letzten Jahren sehr stark verändert haben. Für uns alle war ein einschneidendes Ereignis die Annexion der Krim und die militärischen Aktivitäten in der Ostukraine. Daraufhin hat das Bündnis tiefgreifende Veränderungen und Beschlüsse gefasst, insbesondere beim NATO-Gipfel in Wales.

Daraus spricht der Wunsch, endlich wieder ein richtiges Feindbild zu haben, welches auch die enormen Kosten der NATO als Organisation selbst, aber auch die Verteidigungsetats der Mitgliedsländer rechtfertigt. Es ist bezeichnend, dass in der gesamten siebzigjährigen Geschichte der Allianz der berühmt-berüchtigte Artikel 5. lediglich ein einziges Mal ausgerufen wurde. Und zwar kam das Musketier Prinzip „Einer für alle, alle für einen“ nicht etwa während des Kalten Krieges zum Einsatz, als die NATO massiven Truppen des Warschauer Paktes gegenüberstand, sondern als sechzehn saudische Terroristen am 11. September 2001 Flugzeuge in die Zwillings-Türme des World Trade Centers in New York und angeblich sogar ins Pentagon lenkten. Bekanntermaßen wurde dann nicht etwa Saudi-Arabien als ihr Herkunftsland angegriffen. Nein, das „mächtigste militärische Bündnis der Geschichte“ griff das ohnehin bereits am Boden liegende Afghanistan an. Sinnhaftigkeit und auch "Erfolg" sind aber anderes Thema.

Es hat dann also über zwanzig Jahre gedauert, bis die NATO endlich wieder einen richtigen Feind identifiziert hat, nämlich Russland, für welchen es sich auch (im wahrsten Sinne des Wortes) lohnt, Milliarden von US-Dollar und Euros aus Steuergeldern in die Rüstungsindustrie und die Verteidigungsetats zu pumpen. Was will man schließlich auch mit dem ganzen Arsenal von Flugabwehrsystemen, Panzern, Flugzeugträgern und Kampfjets, Artillerie und modernster Kriegselektronik gegen Terroristen anfangen? Da muss schon ein „einschneidendes Ereignis“ wie „die militärischen Aktivitäten in der Ostukraine“ her, ohne dass Angela Merkel dabei Ross und Reiter zu nennen vermag. Aber keine Sorge, das übernehmen andere Mitglieder und Möchtegern-Mitglieder der transatlantischen Allianz für sie.

Vor fünfzehn Jahren erschien bei SpiegelOnline ein Gastkommentar mit dem Titel „Anfang vom Ende der NATO“ von Christoph Keese, ehemaliger Chefredakteur der Welt am Sonntag und Financial Times Deutschland. Schon damals beschrieb er die fundamentalen Probleme der NATO bildhaft:

An eine gemeinsame Verteidigung im Angriffsfall wird keines der Mitglieder mit ganzem Herzen mehr glauben. Würden die Deutschen herbeieilen, wenn bewaffnete Kurden die Grenze zur Türkei überschritten? Würden Franzosen dem künftigen NATO-Mitglied Polen bei einem Scharmützel mit den Weißrussen helfen? Nur einmal angenommen, es gäbe einen Angriff auf Deutschland: Könnten wir uns blind auf eine Rettung durch die Amerikaner verlassen? Wir müssten mindestens damit rechnen, dass sie die Gelegenheit nutzen, um uns eine Lektion zu erteilen.

Und dann schließlich das akute Problem mit dem fehlenden Feindbild:

Heute existiert kein großer Gegner mehr. Jedes Mitglied pflegt Animositäten gegen eine Schar von Drittländern und hat vielfältige Interessen in seiner Hemisphäre. Addiert man die Feinde aller NATO-Staaten, kommen schnell drei Dutzend zusammen, nur zieht keiner dieser Gegner die Feindschaft aller NATO-Mitglieder auf sich. Es kann keinen gemeinsamen Nenner geben, weil es keinen gemeinsamen Feind mehr gibt.

Genau diese Lücke muss nun Russland stopfen, um endlich wieder einen „gemeinsamen Nenner“ zu schaffen. Und das kostet dann natürlich etwas mehr. Die offiziellen Zahlen der NATO zeigen denn auch, wo das Problem aus Sicht Washingtons liegt. Von den geforderten Ausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes, erfüllen nur Länder wie die USA, Griechenland (sic!), Großbritannien, Estland und Polen diese Vorgabe.

Bei der Verteilung der Kosten des Bündnisses sieht es so aus, dass Washington zwei Drittel der Ausgaben stemmt, obwohl die USA vor einem gigantischen Schuldenberg stehen und eigentlich pleite sind. Kein Wunder also, dass US-Präsident Trump diesbezüglich massiven Druck auf seine Bündnispartner ausübt und sie beständig zu höheren Ausgaben zwingen will. Was ist also zu tun?

Ein neues Feindbild hat die NATO zwar mit Russland (genauer gesagt in Moskau!) gefunden, doch nicht alle Mitglieder teilen diese Sichtweise. Ausgerechnet jene nicht, die den größten Teil der Kosten schultern sollten, wie zum Beispiel Deutschland und Frankreich. Aber genau hier wittert der Think Tank der NATO, das Atlantic Council, einen Ansatz, um das Bündnis „unentbehrlich“ zu machen. Denn man hat den alten Traum der NATO, auch politisch eine größere Rolle zu spielen, noch längst nicht begraben. Deshalb nun also der Aufruf aus dem Think Tank, die transatlantische Allianz möge sich doch politisch stärker engagieren, um sich eben am Ende „unentbehrlich“ zu machen. Nun trifft dies aber genau das, was Christoph Keese seinerzeit geschrieben hat, nämlich der Anfang vom Ende der NATO. Dazu meinte er:

Zielsetzung und Umsetzung sollten ebenso streng voneinander getrennt werden wie Legislative und Exekutive in einem Staat. Je mehr das Bündnis versucht, Legislative zu sein, desto schlechter wird es als Exekutivmacht - und umgekehrt.

 

Deutscher Diplomat ist überzeugt, dass Trump Deutschland als Feind sieht

Das war vor fünfzehn Jahren. Seit damals ist viel passiert und die NATO ist eben bereits viel zu weit in die politische Arena vorgeprescht, als dass es wieder in die alten Strukturen einer Exekutivmacht zurückgedrängt werden könnte. Man macht in Brüssel selbst politische Pläne und bespricht sie dann auf Ministerebene bei Sitzungen mit anderen Mitgliedern und mit der EU. Das ist zwar und war noch nie Aufgabe der NATO. Zumal man in den USA nach wie vor der Meinung ist - ob zu Recht oder nicht, sei mal dahingestellt - dass „nicht einmal Großbritannien, Deutschland und Frankreich zusammen die Rolle als Hauptverteidiger des Kontinents übernehmen können“. Es drängt sich einem das Gefühl auf, als ob sich Washington weigert, das Ziehkind Europa endlich auf eigene Beine zu stellen.

Was das dann für absurde Blüten treiben kann, zeigt sich mit der jüngsten Behauptung des US-Präsidenten, dass „Deutschland ein Gefangener Russlands“ ist, nur weil man russisches Öl und Gas bezieht und dann auch noch - aus nüchternen, wirtschaftlichen Gründen - eine zweite Nord-Stream-Pipeline zulässt. Viel lieber wäre es Trump natürlich, dass Deutschland ein artiger Gefangener der USA würde, zumindest wenn es um den Bezug von amerikanischem Flüssiggas geht. Dazu passt auch die Äußerung eines nicht näher genannten deutschen Diplomaten nach einem Treffen mit Donald Trump, dass dieser „Deutschland als Feind betrachtet“. Es ist an der Zeit, dass unsere politische Führung dieser Wahrheit ins Auge blickt und die gegenwärtige Situation der NATO als eine Belastung anerkennt.

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