Traum vom Bedingungslosen Grundeinkommen: Bedingungslos tückisch

Der immer härtere Konkurrenzkampf macht vielen zu schaffen. Mehr und mehr Menschen glauben, die Lösung zu haben: Ein bedingungsloses Grundeinkommen soll her. Doch wäre dies unter heutigen ökonomischen Bedingungen überhaupt machbar? Eine kritische Betrachtung.
Traum vom Bedingungslosen Grundeinkommen: Bedingungslos tückischQuelle: Reuters © Denis Balibouse

von Susan Bonath

Die Würde des Menschen

Lebende Leistungs- und Erfolgsmaschinen, Selbstdarsteller und Statusakrobaten: Die bunte Warenwelt des modernen Kapitalismus hat sich alles einverleibt. Der Mensch selbst ist darin zu einer Ware verkommen. Seine Würde ist nicht unantastbar. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bemessen ihn einzig nach einem Kriterium: Welchen Nutzen hat er für den Markt?

Das Hartz-IV-System ist nur ein Ausdruck von vielen dafür. Im Zuge einer Wirtschaftskrise im Jahr 2005 mit einer medialen Hetzkampagne gegen vermeintliche "Faulpelze" eingeläutet, begleitet von Sprüchen aus höchsten politischen Rängen, wonach zum Beispiel nicht essen solle, wer nicht arbeite (Franz Müntefering, SPD), baut Hartz IV auf harte Repressionen.

Das bedeutet: Wer erwerbslos wird und binnen eines Jahres keinen neuen Dauerjob findet, muss nicht nur fast sein gesamtes Vermögen aufbrauchen, um überhaupt das Existenzminimum zu erhalten. Die Gesetze erlauben Jobcentern, Betroffenen wegen geringster Auflagenverstößen die Grundsicherung stufenweise bis auf null zu kürzen. Kein Job, keine Maßnahme darf abgelehnt werden. Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) nannte den Grund für die Agenda beim Wirtschaftsgipfel 2005 in Davos ganz offen: Man wollte einen riesigen Niedriglohnsektor aufbauen und die Gewerkschaften schwächen – mit Erfolg.

BGE für jeden: Eine charmante Idee

BGE-Verfechter, sofern sie nicht aus dem wirtschaftsliberalen Lager stammen, kritisieren zu Recht, dass dieses System Erwerbslose ihrer Lebensleistung und Kreativität beraubt, sie gängelt, erpresst und zudem das gesamte Lohngefüge drückt. Mit der Forderung nach einer repressionsfreien und auskömmlichen Grundsicherung geben sie sich nicht zufrieden. Auch die demütigende Bedürftigkeitsprüfung soll weg.

Mit dem BGE sind verschiedene Hoffnungen verbunden. Die für spirituelle politische Ansätze stehende Partei "Die Violetten" hat auf der Internetseite ihres Hamburger Ablegers verschiedene Stimmen von BGE-Befürwortern eingeholt. Das BGE solle jedem die Grundversorgung sichern und ihn so vom Arbeitszwang befreien, heißt es dort. Und: Es sei ein Modell für die Zukunft, in der immer mehr Tätigkeiten von Maschinen, Robotern und Computern ausgeführt werden. Ein BGE baue auf die kreative Selbstentfaltungskraft des Menschen.

Einige versprechen sich davon sogar Auswirkungen auf die Löhne: Wo niemand mehr gezwungen sei, seine Arbeitskraft zu verkaufen, müssten die Unternehmer mehr zahlen, meinen sie. Und vor allem könne jeder jederzeit frei entscheiden, ob er dem Lohnerwerbsmarkt zur Verfügung steht oder nicht. Auszeiten für Bildung, Urlaub und Kindererziehung seien problemlos möglich. Mancher will mit einem BGE sogar dem kapitalistischen Wachstumszwang etwas entgegensetzen. Das ist so edel wie charmant.

Wer soll das bezahlen?

Die Uneinigkeit beginnt bei den Modellen, von denen es zahlreiche gibt. Einige wollen damit alle heutigen Sozialleistungen von der Kranken- und Rentenversicherung bis hin zur Sozialhilfe ersetzen. Andere wollen einen Teil davon erhalten, etwa für Menschen mit Mehrbedarf bei Krankheit oder Behinderung. Manche fordern, dass ein BGE sämtliche Grundbedürfnisse, wie Essen, Kleidung und Wohnen abdecken müsse. Wieder andere wollen lediglich eine Art bedingungsloses Taschengeld.

Bei der Finanzierung ist nur klar: Das Geld für das BGE müsse aus Steuern generiert werden. Die einen visieren dafür Finanztransaktions-, Vermögens- und neue Ressourcensteuern. Ein Teil der Befürworter will die Mehrwertsteuer auf alle Produkte drastisch anheben. Andere würden am liebsten die Einkommen "ordentlich besteuern, unten weniger, oben höher", erklärt er.

So vielschichtig, wie die Vorstellungen sind, ist die Anhängerschar. In zahlreichen Initiativen tummeln sich Erwerbslose ebenso wie linke und bürgerliche Intellektuelle. Sogar Unternehmer und wirtschaftsliberale Politiker, zum Beispiel aus der FDP, sprechen sich für ein BGE aus. Dass letztere nur das Wohl der Lohnabhängigen im Blick haben, darf bezweifelt werden.

Sicher ist eins: Derzeitige Steuermodelle belasten vor allem Beschäftigte mit mittleren Einkommen, während sie prall gefüllte Geldbeutel schonen. Eine Abkehr davon fordern zwar Linkspartei und kleine Teile der Grünen. Sie scheitern aber am gesamten Rest in der Politik sowie an den Wirtschaftsverbänden gleichermaßen. Sollte ein BGE kommen, ist also davon auszugehen, dass die Mittel dafür wie heutige Sozialleistungen vor allem von den Beschäftigten abgeschöpft würden. Darum ist es unerlässlich, sich mit den Zielen unterschiedlicher Interessengruppen und möglichen Folgen eines BGE zu befassen.

Kapital und Lohnarbeit

Die Grundlage, auf der ein BGE aufbauen soll, vielmehr unter derzeitigen ökonomischen Verhältnissen muss, ist die kapitalistische Marktwirtschaft. Sie basiert auf Privateigentum an Produktionsmitteln einerseits und abhängiger Lohnarbeit andererseits. Das heißt: Maschinen, Rohstoffe, Grund und Boden sowie die Wissenschaft sind großteils in Privathand. Ein schwindender Teil befindet sich im Staatseigentum. Auch letzteres bedeutet nicht, dass die Masse derer, die Bedarf an produzierten Waren haben, über deren Art und Verteilung bestimmen kann.

Das viel gepriesene Heiligtum des Marktes ist der Wettbewerb, mit anderen Worten, die Konkurrenz aller Marktteilnehmer untereinander. Der Wettbewerb als Kernstück der Ideologie des Kapitalismus soll für Innovation und Investitionen sorgen, die Preise nach dem Prinzip Angebot und Nachfrage regeln und immer den Bedarf an fähigen Arbeitskräften sicherstellen. Sicher tut er das bis zu einem gewissen Grad. Doch produziert der ständige Wettbewerb zugleich stets mehr Verlierer als Gewinner.

Der Markt ist Tauschhandel von Waren. Alles, was jemand für etwas anderes gibt, wird zur Ware. Dazu gehören nicht nur angebotene Güter, sondern auch das Geld selbst, jede Dienstleistung und die Arbeitskraft, die jeder Lohnabhängige an einen Unternehmer gegen Bezahlung verkaufen muss.

Letzterer verfügt weder über die Produktionsanlagen, noch hat er eine Handhabe darüber, was mit den von ihm hergestellten Waren geschieht. Sein Lohn ist nur ein Teil des realen Gegenwerts für seine Arbeit. Den Rest zweigt sich der Unternehmer ab. Denn dieser muss höchstmögliche Gewinne erwirtschaften, sie wieder in neuem Kapital anlegen, um noch mehr einzufahren und so weiter. Dazu zwingt ihn der Wettbewerb. Wer sich dem als Unternehmer verweigert, kann kaum am Markt bestehen. Dieser Druck auf die Profitrate wirkt sich zwangsläufig auf die Situation der Beschäftigten aus. Die Löhne so niedrig wie möglich zu halten, ist keiner bösen Absicht, sondern schlicht dem Selbsterhaltungsinteresse des Unternehmers geschuldet.

Privatisierung und Abbau sozialer Rechte

Dass Hartz IV nicht das Ende der Fahnenstange im Abbau von sozialen Rechten war, zeigen aktuelle Bestrebungen. Mit den Unionsparteien will die SPD in der Regierung einen als "sozialen Arbeitsmarkt" getarnten weiteren Niedriglohnsektor schaffen. Die Wirtschaft dringt erneut auf eine Erhöhung des Rentenalters – eine Kürzung im besten Sinne. Sie versucht, das Arbeitszeitgesetz auszuhebeln. Viele Rechte, von Beschäftigten teils blutig erkämpft, stehen auf der Kippe.

Derweil wachsen Firmen zu riesigen Monopolen heran. Starke Unternehmen kaufen schwächere auf oder verdrängen sie vom Markt. Das geschieht überall, in der Rüstungsbranche genauso wie im Energiesektor und der Agrarindustrie. Der Zwang, Profite immerfort zu maximieren, setzt die Unternehmer unter Druck. Sie suchen nach immer neuen Anlagemöglichkeiten für ihr Kapital. Beginnen diese rar zu werden, wächst nicht nur der Druck auf die Lohnkosten. Auch der Staat reagiert. Er verkauft immer mehr Güter aus seinem Eigentum, die eigentlich der öffentlichen Daseinsvorsorge dienen sollen. Krankenhäuser, Nah- und Fernverkehr: Immer mehr kommt unter den Hammer.

Das Märchen von der Vollbeschäftigung

Unterdessen propagieren vor allem die Unionsparteien die Idee von der Vollbeschäftigung. Sie ist so alt wie der Kapitalismus im Industriezeitalter, aber ein Märchen. Selbst als im 19. Jahrhundert der Bedarf an Produktionsarbeitern massiv anwuchs, produzierte der Konkurrenzkampf Erwerbslosigkeit. Die repressiven Mittel, die Staaten dem damals wie heute entgegensetzen, unterscheiden sich kaum. Bereits um 1860 existierten sogenannte Unterstützungskomitees als eine frühe Form der Arbeitsagenturen und Jobcenter. Ähnlich wie heute bei Hartz IV, hatten sie die gesetzliche Auflage, Erwerbslosen jede Hilfe zu streichen, wenn diese nicht bereit waren, zu jedem Lohn zu arbeiten.

Mit fortschreitender Technologie sinkt indes der Bedarf an Arbeitskräften im produzierenden Gewerbe. Maschinen und Roboter übernehmen deren Aufgaben, stellen immer effektiver immer mehr Waren her. In den vergangenen Jahrzehnten wuchs lediglich die Beschäftigung im Dienstleistungssektor. Doch auch dort sorgt die Digitalisierung inzwischen für eine Umkehr.

Während also konservative wie neoliberale Lager an alten Modellen festhalten, überholen die produktiven Kräfte längst die realen Verhältnisse. In diesen bleiben viele notwendige gesellschaftliche und soziale Aufgaben weiterhin vom Lohnerwerbsmarkt abgekoppelt. Das hat auch einen Grund: Kindererziehung, Pflege Angehöriger, die Arbeit mit Kindern in Sportvereinen und ähnliches bringt keinen schnellen Profit. Die meisten BGE-Befürworter kritisieren das zu Recht und sehen das Grundeinkommen als Lösung. Irgendwie, so glauben sie, müssen die Massen an freigesetzten Erwerbsarbeitern weiter auskömmlich leben können. Und schließlich sind auch die Unternehmer auf Konsumenten angewiesen. Wo die Kaufkraft sinkt, versiegt der Profit.

BGE – Motor für Lohnsenkungen und Preisanstieg

Es ist der Wunsch nach Bedingungslosigkeit, der im Widerspruch zur den realen Bedingungen steht. Welcher Satz soll bedingungslos sein? Die Wirtschaft und ihren Lobbyparteien spekulieren großteils mit BGE-Modellen, die niemandem ein Auskommen sichern.

Ein Beispiel dafür ist das Kindergeld. Es ist bereits eine Form des BGE. Die Reichen bekommen es für ihren Nachwuchs als Taschengeld obendrauf, für viele Erwerbstätige ist es lebensnotwendig, Hartz-IV-Beziehern zieht man es von den Regelleistungen ab. Ein Kind über den Monat zu bringen, gelingt mit 194 Euro kaum. Eltern, die nicht über Kapital verfügen, sind damit weiterhin vom Lohnerwerbsmarkt abhängig.

Aus Sicht der Wirtschaft ist das unabdingbar. Sie ist unter gegenwärtigen Verhältnissen auf einen Pool an auch kurzfristig verfügbaren Arbeitskräften angewiesen. Den sichert ihr der Wettbewerb um Jobs. Ein auskömmliches BGE würde nicht nur dieses Kernstück des kapitalistischen Systems aushebeln. Es würde auch Produktionssicherheit, Planung und Wachstum gefährden. Der Gefahr einer Rezession mit folgender Wirtschaftskrise setzt sich kein Staat freiwillig aus.

So kann man davon ausgehen, dass sich BGE-Verfechter aus der Wirtschaft vor allem einen Vorteil von einer solchen Maßnahme versprechen: eine staatliche Subventionierung der Lohnkosten. Bekäme jeder Erwerbstätige einen Zuschlag obendrauf, würde es leichter, die Löhne zu kürzen, um die Profite zu steigern.

Noch schneller realisierbar als Lohnsenkungen sind Preissteigerungen. Mit einem BGE hätte zunächst vor allem die erwerbstätige Mittelschicht mehr in der Tasche. Sie stellt den größten Anteil. Kein Vermieter würde 900 Euro für eine Vierzimmerwohnung verlangen, wenn er das Doppelte bekommen kann. Gleiches gilt für alle anderen Branchen. Es ist ein marktwirtschaftliches Gesetz: Wo Kaufkraft und Nachfrage steigen, klettern die Preise.

Wachsende Verelendung durch BGE?

Zu konstatieren ist: Ein BGE für alle, selbst wenn es bei sehr Wohlhabenden über Steuern wieder eingeholt würde, ließe Preise steigen und Löhne sinken. Auch wenn es zunächst eine minimale Grundversorgung sichern würde, dürfte es die Situation von Erwerbslosen oder nicht Erwerbsfähigen nicht verbessern.  Mehr noch: Wenn Millionen ausschließlich auf das BGE Angewiesene davon bald weder eine Wohnung noch eine Krankenversicherung bezahlen könnten, würde das Modell die Verelendung breiter Schichten rasant befeuern. Sonderbedarfe für Behinderte, Ältere und Kranke könnten dann Geschichte sein.

Fest steht: Es gibt viele gut durchdachte BGE-Modelle. Aber keines fördert eine Umverteilung von oben nach unten. Die Eigentumsverhältnisse bleiben bestehen. Die Finanzierung ist ungeklärt. Ein systemkonformes Modell dürfte sich vor allem der Lohn- und Verbrauchssteuern, nicht aber Abgaben der Wirtschaft bedienen.

Spätestens an einem Problem dürften alle wohlmeinenden BGE-Verfechter am Ende scheitern: Sie verfügen nicht über die Macht. Und der Staat wird den Mächtigen nicht in die Suppe spucken.

Das Fazit kann eigentlich nur sein: Will man keine Verwerfungen produzieren, kommt man unter bestehenden Verhältnissen um eine Bedürftigkeitsprüfung nicht herum. Dabei ist es sehr wohl unabdingbar, für eine möglichst hohe, existenzsichernde und repressionsfreie Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu kämpfen. Denn eine solche hätte auch Effekte auf die Löhne: Die Unternehmen müssten sie nach oben anpassen, um genügend Arbeitskräfte zu bekommen. Dagegen stemmt sich die Bundesregierung aus gutem Grund, und leider mit ihr viele immerhin mittelbar mit betroffene abhängig Beschäftigte.

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