Meinung

Alles antiwestliche Propaganda? Wie das Handelsblatt russische Umfragen instrumentalisiert

Das Umfrageinstitut Lewada erneuerte im Januar seine Liste jener Staaten, die Russen für Feinde halten. Das Gefühl, "von Feinden umzingelt" zu sein, ging im Vergleich zu den Vorjahren zurück. Das Handelsblatt fand aber einen Weg, die Ergebnisse zu verdrehen.
Alles antiwestliche Propaganda? Wie das Handelsblatt russische Umfragen instrumentalisiertQuelle: Sputnik

von Wladislaw Sankin 

Es waren exakt zwei Fragen des Lewada-Zentrums, die das Interesse des Handelsblatts weckten. Eine davon lautete: "Was denken Sie: Hat Russland Feinde?" Diejenigen, die auf diese Frage mit "Ja" geantwortet haben - und das waren 66 Prozent der Befragten -, sollten anschließend im Wege einer offenen Frage selbst benennen, welche das wären. So entstand eine lange Liste, in der Länder, politische Gruppen oder Phänomene wie beispielsweise Korruption aufscheinen, wie sie von den Umfragenteilnehmern genannt wurden.

Unter den Feinden nannten einige der Befragten auch Deutschland. Hinter den USA mit 69 Prozent, der Ukraine mit 29, der Europäischen Union mit 14 Prozent und Polen mit acht Prozent lag Deutschland mit sechs Prozent auf dem sechsten Platz, gefolgt vom Islamischen Staat mit fünf Prozent. Dieser Umstand veranlasste das Handelsblatt zur markigen Schlagzeile "Russen haben mehr Angst vor Deutschen als vor dem IS", verbunden mit einer Erklärung, dies sei der antiwestlichen Propaganda zu verdanken. Dabei stützte sich das deutsche Medium auf die Erklärung des zuständigen Soziologen:

Im Fernsehen wird die ganze Zeit über die heimtückischen Pläne gegen unser Land geredet. Die Berichterstattung gegen den Westen verfängt dabei offensichtlich besser als die gegen islamistische Terroristen, obwohl der Kreml beispielsweise den Einsatz seiner Luftstreitkräfte in Syrien eben mit dem Kampf gegen den Islamischen Staat begründete", sagte Denis Wolkow vom Lewada-Zentrum.

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Doch diese Erklärung erweist sich bei genauerem Betrachten der Umfrageergebnisse, die das Institut auf seiner Homepage am 10. Januar veröffentlicht hatte, als fehlerhaft. Die Anzahl jener Menschen, die an die Existenz von Feinden Russlands glauben, ist seit 1999 stabil und mit 66 Prozent liegt sie sogar im unteren Durchschnitt. So waren es im August 2003 noch 77 Prozent, die diese Frage bejaht hatten, im November 2013, dem ersten Monat des Kiewer Maidans, 78 Prozent und im September 2014 auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise gar 84 Prozent. Nach dieser Logik sollte man eher von einer Vergeblichkeit der vermeintlichen Propaganda sprechen und nicht von deren Erfolg. Denn diese lässt laut Handelsblatt nicht nach, sondern, im Gegenteil, "wichtige mediale Akteure des Informationskriegs in Moskau wie Dmitri Kisseljow oder Wladimir Solowjow" würden nicht müde, die wichtigsten außenpolitische Ereignisse im Lichte des Paradigmas vom Ost-West-Konflikt zu beleuchten und dem Westen die Schuld beispielsweise an der Syrien-Krise zuzuschieben. 

Die naheliegende Lösung angesichts der Fakten wäre eigentlich, die Wirkung der Propaganda kleinzureden. Doch das tut das Handelsblatt offenbar nicht gerne. Denn dann bliebe nichts anderes übrig als auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren.

Und diese sind folgende: Spätestens seit Ende 2013 - manche Beobachter meinen sogar schon seit 2012 ("Pussy Riot"-Verhaftung) - ist im Westen eine massive Kampagne gegen Russland im Gange. Diese äußert sich vor allem in einer Rhetorik voller Vorwürfe und Drohungen vonseiten der Politik und in negativer Berichterstattung vonseiten der Medien. Von den Taten ganz zu schweigen - Sanktionen, Truppenverschiebungen, Gesetze - natürlich unter dem Vorwand einer Abwehrhaltung und angeblich gebotenen "Strafe". Doch nach Meinung des Lewada-Instituts sollten die russischen Medien offenbar selbst diese offensichtlichen Prozesse verschweigen und negative Tendenzen kleinreden, um sich nicht dem Vorwurf der Propaganda auszusetzen.

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Auch wenn diese - glaubt man an ihre Existenz - auch mal übertrieben haben sollte, war sie jedenfalls nicht imstande, 18 Prozent der Russen - und um so viel waren es weniger im Vergleich zu 2014 - davon abzuhalten, nicht mehr an die Existenz von Feinden zu glauben.

Was haben IS, Deutschland, NATO, Korruption und "Freunde Putins" gemeinsam? 

Auch das Argument, Russland sei mit dem IS im Krieg und allein deshalb sollte man die Terroristen des in Russland verbotenen Pseudo-Kalifats - um mit dem Wording der russischen Medien zu sprechen - weit oben auf die Liste der Feinde setzen, wirkt nachgeschoben. Spätestens nach seiner Zerschlagung in Syrien und im Irak existiert der IS als "Staat" physisch nicht mehr. Entsprechend fungieren die Anhänger des Islamischen Staates und "andere radikale Islamisten" unter den wahrgenommenen Feinden Russlands neben Deutschland in der gleichen Gewichtsklasse mit England (6), NATO (6), Ländern des Nahen Ostens (4), "Beamten, dem jetzigen Machthaber", "Freunden Putins" (4), Korruption (3) usw. Es stellt sich die Frage, was es an dieser beliebigen Nennung vonseiten der Umfrageteilnehmer eigentlich noch herumzuinterpretieren gibt?

Es wäre möglicherweise besser für den deutschen Mainstreamjournalismus, nicht über die Abgründe der russischen antiwestlichen Propaganda zu faseln, sondern sich an die eigene Nase zu fassen und nachzudenken - denn ein anderes Ergebnis lieferte ebenfalls das Lewada-Institut im Juni 2017. Nur ein Prozent der Russen im Jahr 2010, drei im Jahr 2013, aber gleich 18 im Jahr 2014 und gar 24 von hundert im Jahr 2017 zählten Deutschland zu jenen Ländern, die "zu Russland besonders unfreundlich, feindselig eingestellt sind".

Spiegelverkehrt lief es auch mit der Einschätzung Deutschlands als Freund und Bündnispartner - von 24 Prozent im Jahr 2010 sank die Zahl jener, die das Land so sahen, auf zwei im Jahr 2017. Alles Propaganda oder doch die Folge eigenen Tuns? Mit diesem Absturz zeigte sich Deutschland laut dieser Umfrage jedenfalls als die bitterste Enttäuschung der Russen. Diese Tatsache ging am Handelsblatt offenbar vorbei. Zu dem genannten Phänomen gibt es auch eine "romantische" Erklärung, der zufolge Russen den Deutschen deren Ablehnung der Wiedervereinigung mit der Krim ungeachtet ihrer eigenen Wiedervereinigung und dem hastigen Abzug der schwerbewaffneten Sowjetarmee aus Deutschland als Undankbarkeit übel nehmen.

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Was tut Deutschland als "EU-Drahtzieher"?

Es ist also sogar verständlich, wenn das Handelsblatt diese Enttäuschung nicht "merkt". Viel schwerer wiegt jedoch ein anderer Zusammenhang, an dem auch das Handelsblatt selbst ansatzweise nah dran war. Angesichts des Gewichts Deutschlands in der EU und der von der deutschen Regierung propagierten, schädlichen Sanktionspolitik lag dieser besonders nahe, denn Deutschland, so das Handelsblatt, gilt "als eigentlicher Drahtzieher bei EU-Entscheidungen". Aber dann fragt weiter keiner mehr in dem Artikel, ob die kritischer gewordene Haltung gegenüber Deutschland in der russischen Bevölkerung nicht doch eher an der Konfrontationshaltung gegen Russland aufseiten der EU-orientierten Eliten Deutschlands liegen könnte?

In ihrer Analyse der Strategien des europäischen Establishments nach den Erschütterungen des Jahres 2016 (Brexit, Trump-Wahl, Wahlerfolge der Euroskeptiker) sind der Historiker Alexej Müller und der namhafte Politologe Fjodor Lukjanow zu dem Schluss gekommen, dass der EU sehr viel an der inneren Konsolidation liegt und diese nur beim Vorhandensein eines äußeren gemeinsamen Feindes möglich war:

Diese Rolle wurde eindeutig an Russland delegiert", fassten die Autoren einer strategischen Denkschrift "Enthaltsamkeit statt Draufgängertum. Russland und neue Weltepoche" zusammen.

Solche grundsätzlichen Motive für politisches Handeln eigener Eliten zu nennen, fassen die deutschen Journalisten lieber nicht ins Auge. Es ist viel einfacher, russischen Medien etwas zuzuschreiben und Seitenhiebe mittels manipulativer Schlagzeilen zu landen.

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