Meinung

RT Deutsch Spezial: Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 10

Der politische Balanceakt zwischen liberalen und konservativen Elementen, der den Kurs Wladimir Putins kennzeichnet, ist den transatlantischen Eliten ein Dorn im Auge. Zu gerne sähen diese, wie zuvor in der Ära Jelzin, einen zweiten Ausverkauf Russlands. Doch solange es nicht dazu kommt, hat das Land gute Chancen, ein eigenes Zivilisationsmodell zu entwickeln und damit die Entstehung einer multipolaren Welt zu stärken.
RT Deutsch Spezial: Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 10Quelle: Reuters

Ein Gastbeitrag von Dr. Hauke Ritz

Teil X: Putins Politik als der Versuch eines welthistorischen Balanceaktes

In der vorangegangenen Folge wurde gezeigt, dass die USA derzeit versuchen, die bestehenden Kräfteverhältnisse in der russischen Politik aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dies ist der eigentliche Sinn und Zweck der verschiedenen NATO-Manöver und Truppenaufmärsche entlang Russlands Grenzen. Eine neue russische Regierung, die sich entweder vollständig aus pro-westlichen oder aus anti-westlichen Politikern zusammensetzen würde, wäre Washington weit lieber als Putins Balanceakt zwischen Patriotismus und Liberalismus.

Natürlich hofft Putin derzeit noch auf eine Einigung mit dem Westen. Die dazu notwendigen Verhandlungen können erst nach den US-Präsidentschaftswahlen stattfinden. Bis dahin versucht man, unumkehrbare Schritte zu verhindern.

Dennoch ist es bemerkenswert, dass in Russland bereits an vielen Orten über eine zukünftige und eigenständige Ideologie diskutiert wird. Auch hat unlängst in Moskau ein großer Kongress stattgefunden, nämlich das Moskauer Wirtschaftsforum. Die Konferenz war nur für Gäste mit beruflichem Einfluss zugänglich. Von 6.000 Antragstellern wurden 3.000 eingeladen. Über zwei Tage hinweg konnten sich die Teilnehmer in mehr als 50 Veranstaltungen über Alternativen zum Neoliberalismus informieren. Es traten auch viele internationale Redner auf und zahlreiche Veranstaltungen wurden für die ausländischen Gäste mit Simultanübersetzung angeboten. Von der Konferenz schien insgesamt das Signal auszugehen, dass die Überwindung des Neoliberalismus in Russland möglich sei.

Dass dieses in der Tat in Russland viel wahrscheinlicher ist als in Deutschland, Frankreich oder England, hat etwas mit der Geschichte des Landes zu tun. Der Kapitalismus ist in Russland noch jung. Während sich in West- und Zentraleuropa die Gesellschaften seit 150 Jahren nach kapitalistischen Regeln ausdifferenziert und sortiert haben, geschieht dies in Russland erst seit etwa 25 Jahren. Trotz mittlerweile großer Einkommensunterschiede gibt es immer noch eine gemeinsame Kultur zwischen verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die meisten Russen in zwei Systemen gelebt haben und somit eine wesentlich distanziertere Haltung zur heutigen neoliberalen Regierungsform einnehmen können als die meisten Bürger Westeuropas. Eine Umfrage ergab kürzlich, dass 52 Prozent der Russen die Wiedereinführung der Planwirtschaft befürworten.[1]

Der Kapitalismus ist deshalb in Russland noch nicht kulturell verwurzelt. Oder anders ausgedrückt, der Sozialismus als politisches System ist zwar verschwunden, aber sein Wurzelwerk ist in der russischen Gesellschaft immer noch lebendig. Und damit ist das Potenzial für eine nach links gerichtete politische Wende im Land vorhanden.

Während in England und den USA die Mentalität vorherrscht, dass der Reiche seinen Reichtum verdient hat, nimmt man in Russland eher das Gegenteil an. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung plädiert für einen starken Staat, der regulierend in Wirtschaftsprozesse eingreift. Liberale Ansichten sind die Ausnahme, während eine sozialdemokratische Grundhaltung die Norm ist.

Sicherlich gibt es in Russland viele Oligarchen. Doch deren politische Macht hatte unter Jelzin ihren Höhepunkt erreicht und ist heute weit geringer als etwa in den USA. Hinzu kommt noch, dass aus den oben genannten Gründen die Macht der Oligarchen fast kaum in der russischen Kultur verankert und somit langfristig viel weniger gesichert ist als in den Vereinigten Staaten. Eine politische Veränderung könnte die russischen Oligarchen leicht ihres Einflusses berauben.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die politische Kultur Russlands – anders als die des Westens – keine unüberwindliche Trennung zwischen dem linken und dem konservativen Lager kennt. Linkes und konservatives Denken gehen stattdessen im öffentlichen Diskurs oft ineinander über. Es ist in Russland kein Widerspruch, links und gleichzeitig orthodoxer Christ zu sein. Oder konservativ zu sein und trotzdem für eine Umverteilung des Wohlstands einzutreten. Dadurch, dass linke und konservative Positionen in Russland kaum als Widerspruch empfunden werden, sind die Kritiker des Neoliberalismus in Russland mehrheitsfähig. Und aufgrund des fließenden Übergangs von konservativ zu links konnte der Individualismus der „Neuen Linken“ in Russland nie richtig Fuß fassen.

Dennoch ist nicht zu erwarten, dass Russland wie im Jahr 1917 eigenständig eine Alternative zum herrschenden System entwickeln wird. Das Land hat mit solchen Versuchen seine Erfahrungen gesammelt und wird sie nicht wiederholen. Aber wenn die Zeit reif ist, wenn in den USA und der EU erneut die Banken einstürzen, die Europäische Union immer instabiler und damit womöglich auch autoritärer wird, dann wäre Russland das Land, das im Verbund mit Ländern der südlichen und östlichen Hemisphäre entscheidende Vorschläge machen und Initiativen ergreifen könnte.

Die USA wissen um dieses zivilisatorische und kulturelle Potenzial Russlands. Sie fürchten Russland nicht nur wegen seiner Atomwaffen. Sondern sie fürchten Russland vielleicht sogar noch in größerem Umfang wegen seiner europäischen Identität, seiner sehr gebildeten Bevölkerung, seines kulturellen und intellektuellen Potenzials. Und schließlich fürchten sie das Land wegen seiner politischen Kultur, die allen Unkenrufen der westlichen Presse zum Trotz letztlich eher nach links als nach rechts tendiert.

Denn der Vielvölkerstaat Russland kennt kaum das Denken in ethnischen oder rassistischen Kategorien. Die russische Identität ist offen für jeden Bürger, unabhängig von seiner Herkunft. Dies zeigt sich auch darin, dass Russland mit den eingeborenen Völkern Sibiriens wesentlich humaner umgegangen ist als die USA mit den Indianern. Denn es gibt in Russland im Gegensatz zum angloamerikanischen und deutschen Kulturraum nicht die Tradition, sich anderen Völkern kulturell überlegen zu fühlen.

Dennoch geht es für Russland jetzt zunächst darum, Zeit zu gewinnen. Große Teile der US-amerikanischen Elite würden lieber heute als morgen einen neuen Eisernen Vorhang zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer etablieren. Solange dieser Vorhang noch nicht endgültig gefallen ist, besitzt Russland diplomatische Möglichkeiten in Verhandlungen mit Berlin und Paris. Berlin und Paris können wiederum mäßigend auf die USA einwirken und die aktuelle Entwicklung so in der Schwebe halten. Auf diese Weise könnte eine endgültige Zweiteilung der Welt hinausgeschoben oder sogar verhindert werden.

Doch trotzdem wird für Präsident Putin dieser Kurs innenpolitisch immer schwieriger. Mit jedem NATO-Manöver an Russlands Grenzen, mit jeder neuen Batterie des Raketenabwehrsystems, mit jedem amerikanischen Kreuzer, der vor Kaliningrad oder Sankt Petersburg gesichtet wird, wächst der politische Druck auf ihn. Denn auch in Russland selbst drängen immer größere Teile der Bevölkerung auf einen Bruch mit dem Westen und damit auf die bewusste Entwicklung einer eigenständigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Philosophie. Eine große Mehrheit der russischen Bevölkerung wünscht sich mehr Distanz und Unabhängigkeit gegenüber dem Westen. Sollte Putin diesen Forderungen nachgeben, so würden die dann sichtbar werdenden Elemente einer eigenen Kulturpolitik vermutlich als Vorbild für ähnliche Prozesse in China und Iran dienen.

Sowohl Russland als auch Iran und China sind zwar große Kulturnationen mit einer reichen Kunst- und Philosophiegeschichte. Doch der Republikanismus ist in diesen Staaten schwach entwickelt und historisch nicht verankert. Ein neues Zivilisationsmodell, das von diesen Staaten entwickelt werden würde, könnte sicherlich im Bereich der Kulturpolitik positive Akzente setzen. Denn der Kulturnihilismus der westlichen Postmoderne ist so eklatant, dass es nicht schwierig sein würde, hier einen positiven Gegenentwurf zu formulieren.[2] Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass ein solches Gegenmodell die Errungenschaften des Republikanismus nicht genügend würdigen und eine autoritäre Ausdrucksform annehmen könnte. Russland, China und Iran können alleine nicht das Überleben republikanischer Werte sichern, da diese Werte in diesen Ländern nicht entstanden sind. Dies kann nur der Westen selbst tun, der allerdings seit der Epochenschwelle vom 11. September 2001 zunehmend im Begriff ist, die eigenen republikanischen Werte mehr und mehr abzuwickeln.

Hinzu kommt noch, dass im Falle eines neuen Kalten Krieges auch auf östlicher Seite sehr leicht eine Supra-Gesellschaft entstehen könnte – mit allen negativen Implikationen, die dies beinhaltet. Insgesamt wäre ein neuer Kalter Krieg deshalb ein Nullsummenspiel. Die Welt hätte insgesamt nichts gewonnen, wenn sie sich erneut in zwei Lager teilen würde. Ein neuer Kalter Krieg ist nicht im Interesse der Mehrzahl der Menschen, sondern dient nur den Zielen einer kleinen Elite, die dadurch ihre Macht vergrößern kann.

Wir befinden uns somit in der folgenden paradoxen Situation: Einerseits suchen wir den Ausweg aus der westlichen Kulturentwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Und es ist aufgrund der in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Widersprüche der westlichen Kulturpolitik auch klar, dass dieser Ausweg wohl nur mit Hilfe von Gegenkräften in der südlichen und östlichen Hemisphäre gefunden werden kann. Und dabei spielt Russland als Vertreter des anderen, östlichen Europas die entscheidende Rolle. Wie schon einmal zu Zeiten Napoleons und wie schon einmal zu Zeiten der Herrschaft des Dritten Reiches brauchen wir erneut den korrigierenden Einfluss Russlands auf dem europäischen Kontinent.

Doch andererseits sind wir auch in einer Situation, in der wir nicht auf ein östliches Gegenmodell hoffen können, das sich unter dem militärischen Druck der USA zu schnell konstituiert. Denn die Entwicklung eines alternativen Zivilisationsmodells braucht Zeit. Nur solche Kulturformen, die durch die autonomen Prozesse der Gesellschaft hindurchgegangen sind, können langfristig Glaubwürdigkeit und Ausstrahlungskraft entwickeln. Ein von oben eingeführtes Gegenmodell könnte den USA den willkommenen Vorwand für einen neuen Kalten Krieg liefern. Russland muss auf die militärische Einkreisung der NATO reagieren und es ist gezwungen, seine Gesellschaft auch ideologisch zu konsolidieren. Doch dabei müssen zugleich überhastete Schritte vermieden werden.

Es käme deshalb darauf an, dass Putins Balanceakt zwischen dem konservativen und dem liberalen Lager möglichst lange aufrechterhalten bliebe. Und es wäre zu hoffen, dass der Fortgang der Zeit von sich aus die heutige Frontstellung relativieren könnte. Denn früher oder später wird es im Westen zu einer erneuten Wirtschaftskrise inklusive zusammenbrechender Banken kommen. Eine solche Krise könnte dann auch die Träume der transatlantischen Elite von der westlich dominierten Weltordnung hinfällig werden lassen. Sobald der kranke Traum vom Weltstaat aufgegeben worden wäre, fielen viele machtpolitische Zwänge weg. Ganz neue Perspektiven und Handlungsoptionen würden sich dann eröffnen.

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 1

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 2

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 3

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 4

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 5

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 6

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 7

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 8

Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 9

Die Logik des neuen Kalten Krieges – Teil 11


[1]http://www.levada.ru/2016/02/17/predpochtitelnye-modeli-ekonomicheskoj-i-politicheskoj-sistem/

[2] Vgl.: Hauke Ritz, Greater Europe: The Lost Cultural Unity and its Implications for a New Cold War http://www.idc-europe.org/en/Hauke-Ritz-on-Greater-Europe

 

 

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