
Die proeuropäische Jugendbewegung der 50er als Astroturf des US-Geheimdienstes

Von Astrid Sigena
Die Bilder von damals befeuern noch heute das Europa-Pathos. Am 6. August 1950 stürmen rund 300 Studenten aus zehn europäischen Ländern, hauptsächlich Deutsche und Franzosen, die deutsch-französische Grenze. Sie fahren an den Grenzübergang St. Germanshof und zersägen und verbrennen die Zollschranken, um für ein einiges Europa ohne Grenzkontrollen zu protestieren. Anstelle der verbrannten oder abgebauten Hoheitszeichen werden Europaschilder aufgestellt. Junge Menschen, deren Völker sich noch vor wenigen Jahren bis aufs Blut bekämpften, fallen sich um den Hals. In die Geschichtsbücher gelangte die Protestaktion unter dem Namen "Studentensturm" oder "Grenzüberfall von St. Germanshof". Bewegende Bilder, die den Versöhnungswillen und den Wunsch nach dem Aufbau eines gemeinsamen Hauses Europa der damaligen jugendlichen Avantgarde zeigen. Eine noch größere Schar junger Menschen zog am 24. November des gleichen Jahres vor das Europahaus in Straßburg und forderte ein föderales Europa samt europäischer Verfassung und Regierung. Die Rede ist von rund 3000 bis 5000 Demonstranten, die sich bei einer Sternfahrt in Straßburg versammelten – ohne Pass und Visum. Diese Ereignisse gelten als Initialzündung für die europäische Einigung, der wir heutzutage die Europäische Union zu verdanken haben.

Was wie ein spontanes Aufbegehren der europäischen Jugend für eine gemeinsame Zukunft aussah, war ebenso wenig spontan, wie heute die Straßenklebeaktionen der Letzten Generation, die Demonstrationen der sogenannten "Zivilgesellschaft" oder auch die Blockaden der Antifa. Jeder, der auch nur einen kleinen Protest jemals organisiert hat, weiß, wie aufwendig es ist, die Teilnehmer zum gemeinsamen Versammlungsort zu navigieren. Geschweige denn mit Sägen und anderen Protestmaterialien. All das muss im Vorfeld organisiert und geplant worden sein, ebenso Busse und Reisemöglichkeiten. Dies wird auch von heutigen Europa-Enthusiasten zugegeben. So schreiben die "Jungen Europäischen Föderalist:innen (sic!) Deutschland" in ihrem Rückblick zum 73. Jahrestag des Ereignisses:
"Die Aktion wurde zuvor geheim in zwei mehrwöchigen Camps geplant und minutiös geprobt. Alle haben eine Rolle, alle wissen, was sie zu tun haben. In Begleitung von einigen Pressevertreter:innen fahren die jungen Aktivist:innen mit Bussen an den Grenzübergang."
Auch Christina Norwig, eine Kennerin der Europäischen Jugendkampagne in den Jahren 1951 bis 1958, weist darauf hin, dass die Aktion von Erwachsenen orchestriert gewesen sei.
Die Spätfolgen der Aktion – immerhin handelte es sich ja um eine Störung der öffentlichen Ruhe samt Zerstörung staatlichen Eigentums zweier Staaten – waren erstaunlich abgemildert. So berichtet der Zeitzeuge Georges Renicki, der an der Schlagbaumaktion beteiligt war, er habe eine Zahlungsaufforderung von 20.000 Francs wegen der Zerstörungen erhalten – Geld, das er nicht besaß:
"In dem Moment hat mir jemand gesagt: 'Hör mal, schick das Schuman', der Außenminister war, und ich habe sie Schuman geschickt. Schuman hat mir einige Tage später geantwortet: 'Ich regele dieses Problem persönlich, machen Sie sich keine Sorgen.'"
Die Aktion fand also zum offensichtlichen Wohlwollen zumindest der französischen Regierung statt, was auch erklärt, warum die Zollbeamten nicht eingegriffen hatten (von den Zeitgenossen wurde dieses Nichteingreifen als völlige Überrumpelung erklärt). Und auch in Deutschland ist es schwer erklärbar, warum den deutschen Behörden sowie den Besatzungsbehörden die Vorbereitungen zum Grenzsturm entgangen sein sollten. Die westlichen Siegermächte sollte es nicht interessieren, wenn junge Deutsche Gewaltanwendung gegen Sachen an der Landesgrenze planen? Nur zehn Jahre, nachdem andere junge Deutsche in Wehrmachtsuniform die französische Grenze erfolgreich überschritten hatten (Fall Gelb 1940)?
Diese Rätsel lösen sich auf, wenn man zum Beispiel durch Norwigs Forschungen erfährt, dass die US-Amerikaner dieses Treiben nicht nur duldeten, sondern sogar finanziell förderten. Und zwar unter anderem durch das am 5. Januar 1949 gegründete ACUE (American Committee on United Europe), das personell wiederum eng mit CIA-Kreisen verknüpft war. Aber lassen wir Norwig selbst sprechen, hier über die Gründung der Europäischen Jugendkampagne (European Youth Campaign/EYC) im Jahr 1951:
"Die Ursprünge der Europäischen Jugendkampagne, über die ich forsche, sind wohl im Kalten Krieg zu verorten. Die internationalen Jugendfestspiele in Ostberlin 1951 sorgten unter westeuropäischen und US-amerikanischen Akteuren für Unruhe. Daraufhin wurde in Zusammenarbeit mit der 'Europäischen Bewegung' der Grundstein für die 'Europäische Jugendkampagne' gelegt. Die Kampagne wurde von einem US-amerikanischen Verein, dem 'American Committee on United Europe', finanziert. Dessen Mitglieder waren fast alle US-amerikanische Geheimdienstmitarbeiter. Ohne die Finanzierung der USA hätte die Kampagne nicht funktionieren können."
In dieser die europäische Integration bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber dem Ostblock fördernden Vereinigung (die zugleich eine allzu große Abnabelung der Europäer von den USA verhindern sollte) fungierte der frühere OSS-Geheimdienstchef William J. Donovan als Geschäftsführer, sein Stellvertreter war der CIA-Direktor (ab 1953) Allan Welsh Dulles (einen nach Dulles benannten Preis nahm der AfD-Politiker Markus Frohnmaier erst kürzlich entgegen). Am Beratergremium des ACUE war der erste CIA-Direktor Walter Bedell Smith beteiligt. Auch der spätere Leiter des ACUE, Paul G. Hoffman, war ein früherer Geheimdienstmann (vom OSS/Office of Strategic Services). Insgesamt eine illustre Versammlung noch tätiger und ehemaliger US-Geheimdienstler! Ob das ACUE von der CIA direkt finanziert wurde, ist nicht belegt, die Rede ist von der Finanzierung durch US-regierungsnahe Unternehmensgruppen sowie die Ford Foundation und die Rockefeller Stiftung. Dank dieser Gelder war das ACUE über Jahre der Hauptgeldgeber für die (noch heute existierende) Europäische Bewegung (die Rede ist von bis zu 50 Prozent), der (ebenfalls noch existierenden) Union Europäischer Föderalisten sowie der Europäischen Jugendkampagne (sie soll zu 100 Prozent vom ACUE finanziert gewesen sein). Als 1958 die finanzielle Unterstützung für die EYC seitens des ACUE eingestellt wurde, musste sie sich auflösen. Es handelte sich also um eine von allerhöchster Stelle, nämlich der Besatzungsmacht selbst, kontrollierte Jugendbewegung – was den Idealismus der einzelnen Teilnehmer nicht schmälern soll. Ein unabhängiger Akteur war die proeuropäische Jugend in den 50er Jahren jedenfalls nicht, sondern vielmehr Astroturf, also eine künstlich hergestellte Graswurzelbewegung. Im Jahr 2000 wurde anhand deklassifizierter Akten bekannt, wie stark die US-amerikanischen Finanziers (und auch die Geheimdienste) über die Europa-Bewegung Einfluss auf die Politik in Westeuropa nahmen (natürlich waren nicht nur die US-amerikanischen Geheimdienste am Zustandekommen der europäischen Einigung beteiligt, sondern auch ihre britischen Gegenstücke).
Diese gezielte Steuerung der Jugendbewegung wird auch deutlich am dritten bedeutenden (west-)europäischen Jugendereignis dieser Epoche, dem "Loreley-Treffen". Im Sommer 1951, vom 22. Juli bis zum 5. September, nahmen insgesamt 35.000 Jugendliche an einem Zeltlager im Rahmen des internationalen Treffens "Begegnung europäischer Jugend" auf dem Loreley-Plateau teil. Die Leitung der Veranstaltung hatte der Deutsche Bundesjugendring unter dem Motto "Jugend baut Europa" übernommen. Anwesend war auch der damalige Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, der Belgier Paul-Henri Spaak (später sollte er NATO-Generalsekretär werden), der erklärte: "Eine junge Generation, die den Krieg erlebt hat, will ein Leben der Freiheit und des Friedens. Wir wollen nun nicht mehr auseinandergehen, um uns noch einmal zu bekämpfen." Und der französische Hohe Kommissar André-François Poncet plädierte in seiner dortigen Rede für ein gemeinsames Europa und appellierte an die deutsch-französische Zusammenarbeit als Basis für eine europäische Einigung. Die hochrangigen Besucher zeigen, wie wichtig man das Zeltlager nahm.
Bei der Planung des Loreley-Treffens hatten dieses Mal nicht die Amerikaner, sondern die französische Besatzungsmacht die führende Hand mit im Spiel. Das Europäische Jugendfestival auf dem Loreley-Plateau war aufgrund der Initiative des französischen Besatzungsoffiziers für Jugendpolitik, Jean-Charles Moreau, entwickelt worden, der sich für die Begegnung deutscher und französischer Jugendlicher einsetzte. Dieser Aufwand wurde natürlich nicht völlig ohne Hintergedanken betrieben. Zur gleichen Zeit fanden im August 1951 in Ost-Berlin die Dritten Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt und das "Loreley-Treffen" war als Konkurrenzunternehmen geplant. Den kommunistischen Verlockungen (zu den Ostberliner Veranstaltungen war auch die westdeutsche Jugend eingeladen) wollte man etwas entgegensetzen. Gewissermaßen Zuckerbrot und Peitsche. Denn die "Peitsche" gab es auch: Werbung für die Weltjugendspiele war beispielsweise im Bundesland Hessen verboten. Tausende teilnahmewillige Jugendliche aus Westdeutschland (teilweise auch aus der Schweiz) wurden zwangsweise wieder an ihre Wohnsitze verbracht. Transportunternehmen, die die Reisen der kurz zuvor verbotenen West-FDJ durchführten, wurden mit Strafe bedroht.
Warum war die CIA so auf eine proeuropäische Haltung der (west-)europäischen Jugend erpicht? In die Karten schauen lassen sich Geheimdienste selbstverständlich nicht. Es gilt natürlich immer das Prinzip: Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Im konkreten Fall ging es wohl darum, die Jugend vom kommunistischen Einfluss fernzuhalten (man glaubt es heutzutage kaum mehr, aber in den 20er und 30er Jahren war der Kommunismus die Ideologie der fortschrittlich denkenden Jugend, mit Ausstrahlungen bis in die 50er Jahre). Auch der Wunsch nach Schwächung der europäischen Nationalstaaten zugunsten des europäischen Gedankens könnte eine Rolle gespielt haben – denn eine national und souveränistisch empfindende Jugend hätte wohl kaum auf Dauer eine US-amerikanische Besatzung und Einflussnahme in ihren Ländern geduldet, wohl auch nicht die Eingliederung in die NATO. Dass der Mohr (in diesem Fall die proeuropäische Jugendbewegung) Ende der 50er Jahre seine Schuldigkeit getan hatte, wurde mit dem Auslaufen der Finanzierung deutlich: Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958 (also der Grundsteinlegung der europäischen Einigung hin zur heutigen EU) endeten die Geldflüsse der ACUE. Die neugegründeten europäischen Institutionen führten die Jugendarbeit nicht fort. Ihr Zweck hatte sich erfüllt.
Dass die Jugendlichen ihre Instrumentalisierung teilweise durchaus begriffen, greift die Wissenschaftlerin Norwig auf:
"Schon in den 1950er Jahren gab es immer wieder Spannungen zwischen den Organisatoren und den Jugendlichen, die sehr misstrauisch waren gegenüber jeglicher Einflussnahme von Erwachsenen und nicht für deren politische Ziele in Anspruch genommen werden wollten. Das war besonders deutlich, als die Europäische Jugendkampagne zwischen 1952 und 1954 für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft geworben hatte. Viele Jugendverbände waren dazu sehr kritisch. Als die Pläne schließlich gescheitert waren, bedeutete dies einen schweren Rückschlag für die europäische Jugendbewegung und für die Kampagne. Die Kampagne hatte sich erhofft, dass mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sich graduell die Kompetenzen Europas auf andere Politikbereiche ausweiten würden und mit der Zeit eine wahre europäische supranationale Gemeinschaft entstanden wäre."
(Wer nachvollziehen möchte, wie neben der EVG auch der Schuman-Plan mit der darauffolgenden Montanunion mit der ACUE zusammenhängt, lese hier nach.)
Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) war ein unter dem Druck Washingtons durchgeführter Versuch aus dem Jahr 1952, eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen, insbesondere durch die militärische Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen. Dabei hätten die deutschen Truppen in internationale Streitkräfte aufgehen sollen, während die Franzosen die Oberhoheit über ihre eigenen Streitkräfte behalten hätten. Der Aufbau einer eigenen deutschen Armee wäre somit verhindert, zugleich aber eine stärkere Remilitarisierung Westeuropas unter deutscher Beteiligung im Zeichen des Ost-West-Konflikts (der mit dem Korea-Krieg seinen ersten Höhepunkt erreicht hatte) ermöglicht worden. Aus verschiedenen Gründen scheiterte letztendlich die EVG am französischen Widerstand. Die BRD trat der NATO bei und bekam mit der Gründung der Bundeswehr eine eigene Armee. Nichtsdestotrotz zeigt diese Episode, wie sehr die Europa-Bewegung auch mit der beginnenden Remilitarisierung Westdeutschlands verknüpft war.
Das alles ist lange her – und dennoch eine Mahnung an die Heutigen. Denn eine Instrumentalisierung der Jugend liegt gerade in Zeiten der Wiederaufrüstung nahe. Man darf gespannt sein, was sich die Geheimdienste dieses Mal einfallen lassen werden.
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