
"Könnt ihr drüben überhaupt lesen?" Putins Aufruf an Brüssel, wieder zur Besinnung zu kommen

Von Pjotr Akopow
Erst vor einer Woche gab Wladimir Putin wörtlich zu verstehen: Falls Europa gegen Russland kämpfen will, sei Russland bereit – und am Donnerstag derselben Woche, bei seiner Jahresbilanz-Pressekonferenz gepaart mit mehrstündiger direkter Bürgerhotline, wies er die zunehmenden Warnungen der Atlantiker vor einem angeblich geplanten Angriff Russlands auf Europa nicht nur als "Blödsinn" zurück, nein. Sondern er erklärte auch, dass wir, also Russland und Europa, zusammen aufblühen könnten – würden wir nur unsere Möglichkeiten bündeln und damit einander ergänzen.
Schon unerwartet, diese Wendung, oder? Aber ist sie nicht andererseits auch denkwürdig – insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Europäische Union am Vortag sich doch nicht zum Entschluss durchringen konnte, Russlands Währungsreserven bei Euroclear in Belgien zu beschlagnahmen, um mit ihnen als Pfand der Ukraine einen Kredit zu gewähren?
Nein, der Präsident ändert seine Position nicht – seine Haltung gegenüber dem Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen ist seit Langem weitestgehend fertig geprägt: Schon lange und immer wieder erinnert Putin Europäer und US-Amerikaner daran, dass es Zusammenarbeit ist, die uns allen zum Vorteil gereicht, und nicht Krieg – und während die USA unter Donald Trump in dessen zweiten Amtszeit diese Herangehensweise im Allgemeinen teilen, klammern sich die Europäer hartnäckig an ihre gewohnte, auf Konflikt ausgerichtete Denkweise. Putin rügte NATO-Generalsekretär Mark Rutte, einen Niederländer, sogar halb im Scherz für mangelnde Professionalität:

"Was redet der da? Und es brennt mir so auf der Zunge, zu fragen: Hör' mal, was redest du da über einen Krieg mit Russland?
'Wir müssen uns auf einen Krieg mit Russland vorbereiten.'
Die wollen sich also auf einen Krieg mit Russland vorbereiten … Aber lesen kannst du doch? Lies mal in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA nach!
In dieser neuen Strategie wird Russland nicht als Feind, nicht als Angriffsziel erwähnt. Aber der NATO-Generalsekretär bereitet sich zum Krieg gegen uns vor. Was soll das? Lesen könnt ihr doch wenigstens? Wie kann das angehen, dass ihr die NATO auf einen Krieg gegen Russland ausrichtet, wenn das wichtigste NATO-Land uns nicht als Gegner oder Feind betrachtet?"
Und das ist keine Spekulation auf und kein Spiel mit den wachsenden Differenzen zwischen den beiden Seiten des Atlantiks: Es ist ein Appell an die Europäer in der Führungsriege, endlich zu sich zu kommen – und aufzuhören, ihrer eigenen Bevölkerung mit der "russischen Bedrohung" Angst zu machen.
Zudem ist es ein Aufruf, von der Ukraine abzulassen: also Versuche aufzugeben, Kiew im atlantischen Einflussbereich zu halten und die Unabhängigste aller Ukrainen unter den Schutzschirm der "atlantischen Sicherheit" zu ziehen – zumal sie dadurch zu einem NATO-Mitglied würde, ohne formell in das Bündnis aufgenommen zu werden. Russland wird dies nämlich so oder so verhindern, wenn nicht auf diplomatischem, dann auf militärischem Wege. Putin verortet die Ukraine-Politik des heutigen Europa (früher des kollektiven Westens, aber zumindest in dieser Frage scheinen sich die USA ja aus dieser Gemeinschaft herausgelöst zu haben) gerade in der endlosen NATO-Osterweiterung:
"Wir fordern auch nichts Außergewöhnliches. Wir sagen nicht, dass irgendein Land kein Recht auf die Wahl seiner eigenen Verteidigungsmethoden hat – aber es muss eine Methode sein, die niemanden bedroht, auch uns nicht. Wir bestehen lediglich darauf, dass die uns gegebenen Versprechen und die von unseren westlichen Partnern eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden.
Es gab mehrere Wellen der NATO-Erweiterung. Wir wurden doch betrogen, und wir wollen eine Situation herbeiführen, in der ein verlässliches Sicherheitssystem in Europa aufgebaut wird."
Diese Worte Putins handeln von einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa, von Garantien für Russlands Sicherheit an seiner Westflanke – die Rede ist also von etwas, worüber er schon ganz früher sprach, im November 2021. Damals ignorierte der Westen unsere Appelle bewusst. Und da wäre es doch höchst seltsam, wenn Russland ausgerechnet jetzt – nach fast vier Jahren Kampfhandlungen – seine Forderungen aufgeben würde.
Richtig verstanden: Aus Aufrufen sind Forderungen geworden, denn der Westen führt im Grunde Krieg gegen uns auf unserem historischen Territorium und mit den Händen von Russen wie uns, die zu Ukrainern umgebaut wurden – einen Krieg mit dem Ziel, die Grenzen der russischen Welt, der russischen Zivilisation, nach Osten zu verschieben. Russlands Forderungen zu ignorieren, ist keine Option mehr – und das ist keine Drohung, sondern die Feststellung der Realität.
Genau das meinte Putin, als er von seiner Bereitschaft zu Verhandlungen und im Allgemeinen zu einer friedlichen Lösung sprach:
"Wir sind bereit, diese Feindseligkeiten unverzüglich einzustellen, unter der Bedingung, dass gleichzeitig Russlands Sicherheit mittel- und langfristig gewährleistet wird – und wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten."
"Zusammenarbeiten" freilich klingt heute im Zusammenhang mit den Beziehungen zu Europa etwas befremdlich – wenn nicht gar wild, wenn wir ehrlich sind. Doch Putin blickt in die Zukunft – auf den Moment, in dem Europa "sich die Hörner abstoßt", runterkommt und zur Vernunft zurückfindet, wenn die gegenwärtigen europäischen Eliten abgelöst werden. Und das ist keine Frage ferner Zukunft – und sogar schon eher kurz- als mittelfristig. Und dann werden Putins Worte wieder aktuell:
"Die Zukunft Europas, wenn es als ein unabhängiges Zentrum der Zivilisation überleben will, ist zwangsläufig eine Zukunft zusammen mit Russland. Wir ergänzen uns naturgemäß; wir werden zusammenarbeiten und uns fortentwickeln. Geschieht dies nicht, wird Europa allmählich verschwinden."
Damit erinnerte er an einen Gedanken des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, den jener fest und dauerhaft vertrat – etwa im Jahre 1998 bei der 34. Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik:
"Sicherheit und Stabilität in Europa kann es auf Dauer nur mit Russland geben.
Russland ist unser wichtigster Partner im Osten. Es gibt alte kulturelle, wirtschaftliche und soziale Beziehungen zwischen unseren Ländern. Glücklicherweise ist unsere Geschichte weit mehr als eine Geschichte von kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt lange Phasen friedlicher, gegenseitig fruchtbarer Beziehungen."
Das größte Risiko für Europa ist also nicht etwa, dass es infolge eines Angriffs durch Russland verschwindet, sondern aufgrund seiner eigenen Weigerung, mit Russland zusammenzuarbeiten. Diese Entscheidung liegt bei den Europäern, und wir haben unsere bereits getroffen. Wir werden Europa nicht das überlassen, was uns gehört – und je eher unsere westlichen Nachbarn das verstehen und akzeptieren, desto besser für alle:
"Es wird überhaupt keine Sonderoperationen geben, wenn ihr uns mit Respekt behandelt und unsere Interessen wahrt – so wie wir stets versucht haben, eure zu wahren. […] Es ist völlig klar, dass wir durch die Bündelung und Ergänzung unserer Möglichkeiten prosperieren würden – anstatt uns gegenseitig zu bekriegen, wie ihr jetzt Russland bekriegt."
Übersetzt aus dem Russischen. Erschienen bei RIA Nowosti am 20. Dezember 2025.
Pjotr Akopow ist ein russischer Historiker und Geschichtsarchivar (Absolvent des Moskauer Staatlichen Geschichtsarchivarischen Instituts). Seit einer Geschäftsreise in die damalige Bürgerkriegszone Südossetien im Jahr 1991 schreibt er als Journalist für zahlreiche Medien: Golos, Rossijskije Westi, bis 1994 Nowaja Gaseta, ab 1998 Nesawissimaja Gaseta; seit Anfang der 2000er-Jahre als politischer Beobachter bei Nowaja Model und im entsprechenden Ressort der Iswestija. Er arbeitete als Sonderberichterstatter beim Chefredakteur des Polititscheski Journal, dessen Chefredakteur er selbst im Jahr 2007 wurde. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von Wsgljad ist zudem ständiger politischer Beobachter bei RIA Nowosti.
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