Meinung

Merz und die Lügen über München

Seit Jahren reiten sie jetzt darauf herum, auf dem Märchen, 1938 hätten die britische und die französische Regierung versucht, Hitler zu "beschwichtigen". Merz hat diese Geschichte gerade noch einmal wiederholt. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus.
Merz und die Lügen über München© Urheberrechtlich geschützt

Von Dagmar Henn

Kann mal irgendwer dem Herrn Merz erklären, was es mit München wirklich auf sich hatte? Und dass die ganze Erzählung über München und das "Appeasement" nicht stimmt, weil sie nur erfunden wurde, um vergessen zu machen, dass auch die Briten und die Franzosen damals Hitler vor allem als passenden Rammbock gen Osten sahen? Also dass, wenn irgendwer mit Nazideutschland 1938 vergleichbar ist, das die Ukraine ist und nicht Russland unter Putin (und da muss man noch nicht einmal die dort so beliebten Hakenkreuzfahnen anführen)?

Klar, selbst dann würde Merz einfach eine andere Geschichte erfinden. Schließlich geht es vor allem darum, viel Geld in der Rüstungsindustrie zu versenken, und den Deutschen die Seele so zurechtzumassieren, dass sie vor lauter Angst vor dem bösen Iwan ihre Kinder freiwillig an die Ostfront schicken lassen. Der Zweck heiligt schlicht die Mittel. Buh, wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Auf dem CSU-Parteitag in München (welch ein Zufall) hat er laut getönt: "Und wenn die Ukraine fällt, dann hört er nicht auf. Und genauso wenig wie 1938 das Sudetenland nicht gereicht hat. Putin hört nicht auf. Und wer heute noch glaubt, dass er damit genug hat, der soll bitte die Strategien, die Papiere, die Reden, die Auftritte von ihm genau analysieren."

Für den letzten Rat muss man ihm sogar fast dankbar sein, weil jemand, der ihn wirklich befolgt, schnell feststellt, wie viel Unfug ihm erzählt wurde. Leider gibt es die Seite Kremlin.ru nach wie vor nur auf Russisch und Englisch, auch wenn eine deutsche Version schon 2014 wünschenswert gewesen wäre. Zum Glück gibt es aber inzwischen die Möglichkeit, sich Seiten im Browser übersetzen zu lassen; somit haben auch jene, die kein Englisch (oder gar Russisch) verstehen, Zugriff auf alle offiziellen Aussagen.

Merz hat diesen Zugriff mit Sicherheit nicht genutzt, sonst würde er nicht solchen Unsinn erzählen. Oder würde sich zumindest davor hüten, seinen Zuhörern eine solche Empfehlung zu geben, die dann feststellen müssten, dass die russischen Verlautbarungen, und zwar nicht nur die des Präsidenten, zutiefst rational und absolut stimmig sind, und nicht den leisesten Ansatz von Schaum vor dem Mund erkennen lassen, wie man ihn bei den NATO-Vertretern immer wieder bemerken muss. Ob Merz oder Rutte – man fragt sich nach jedem zweiten Satz dieser Herren, ob eine rechtzeitige Tollwut-Impfung die Welt nicht vor diesen Ausbrüchen bewahrt hätte.

Aber nochmal zurück zu 1938. Es gab ja ein Vorspiel. Nein, genaugenommen zwei. Das zweite war der Einmarsch in Österreich, der bereits stattgefunden hatte. Aber davor gab es noch den spanischen Bürgerkrieg, der zu diesem Zeitpunkt noch wütete. Angefangen mit einem Putsch eines Generals der spanischen Kolonialtruppen in Marokko, eines gewissen Herrn Franco, der mit einigen seiner Truppen in Spanien einfiel, um die Regierung der Republik zu stürzen. "Über ganz Spanien wolkenloser Himmel", lautete damals das Funksignal, das den Putsch beginnen ließ (und so heißt auch ein DDR-Spielfilm über die deutsche Verwicklung in diesen Putsch).

Franco hatte die Unterstützung des Westens. Die Republik hatte die Unterstützung aus der Arbeiterbewegung, in Gestalt der Internationalen Brigaden, auch aus Großbritannien und den USA. Schriftsteller wie Ernest Hemingway haben sie verewigt; aber die berühmte Verfilmung von "Wem die Stunde schlägt" mit Gary Cooper und Ingrid Bergman entstand erst 1943, als die USA bereits in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren.

Offiziell verfolgten Großbritannien und die USA (in Frankreich regierte 1936 noch die Volksfront) eine Politik der "Nichteinmischung", die sie auch im Völkerbund durchsetzten und die praktisch bedeutete, dass sie die Republik im Stich ließen und ihre Unterstützung durch die Sowjetunion nach Kräften behinderten. Was sie nicht behinderten, war die massive Unterstützung Francos durch Nazideutschland und das faschistische Italien, von Panzertruppen bis hin zur berüchtigten "Legion Condor", die mit dem baskischen Guernica die erste Stadt auf europäischem Boden bombardierte.

Es gibt aus späteren Dokumentationen von Kämpfern in den Internationalen Brigaden die Aussage, sie hätten in Spanien gekämpft, um den großen Krieg zu verhindern. 1938, nach einem Regierungswechsel in Paris, zwangen Frankreich und Großbritannien die spanische Republik, die Internationalen Brigaden aufzulösen. Die Brigadisten mussten nach Frankreich abziehen und wurden dort in Internierungslagern gefangen gehalten, wo viele von ihnen nach der Besetzung Frankreichs den Nazis in die Hände fielen.

Das war das eigentliche Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, in dem die westlichen Mächte ziemlich deutlich erkennen ließen, wozu sie Hitlerdeutschland und Mussolinis Italien für nützlich hielten. München 1938 war kein "Beschwichtigungsversuch" des Briten Neville Chamberlain und des Franzosen Édouard Daladier. Es war ein Treffen von Kumpanen, und das Sudetenland wurde serviert, um die "richtige" Richtung zu fördern. Für viele Deutsche im Exil übrigens eine Katastrophe, da Prag einer der wichtigsten Fluchtpunkte war und dort große Teile der Exilpresse erschienen. Auch wenn die Besetzung der restlichen Tschechoslowakei erst ein halbes Jahr nach dem Einmarsch im Sudetenland stattfand, im März 1939 – hier wird immer noch nicht vom Zweiten Weltkrieg gesprochen. Und es gab immer noch keine Gegenreaktion aus London und Paris.

Aber natürlich kann man nicht davon reden, wie lieb sie damals alle den Herrn Hitler hatten; auch wenn Eduard VIII. in Großbritannien schon 1936 zurücktreten musste, weil er die Nazis etwas zu toll fand – selbst wenn Churchill nach Ende des Zweiten Weltkriegs nie gesagt haben sollte, sie hätten "das falsche Schwein geschlachtet", es stimmt mit der politischen Haltung überein, das ist mit diesem Zitat ähnlich wie mit Marie Antoinettes "Sollen sie doch Kuchen essen". Anders wäre diese schnelle Kehrtwende vom Verbündeten zum Gegner der Sowjetunion, bei der die Briten die US-Amerikaner noch übertrafen, gar nicht möglich gewesen. Ganz zu schweigen von der innigen Betreuung unzähliger Nazi-Kriegsverbrecher.

Die ganze Geschichte, die Merz da erzählt, ist also von vorn bis hinten falsch, außer natürlich, man dreht sie um – und betrachtet die Unterstützung, die schon der ukrainischen Putschregierung im Bürgerkrieg zuteil wurde, als Äquivalent des spanischen Bürgerkriegs. Dann fehlt jetzt eigentlich die politische Bewegung im Westen, die damals in Großbritannien und in den USA erzwang, trotz der breit vorhandenen Sympathien in der herrschenden Klasse gegen und nicht mit Hitler Krieg zu führen.

Wobei natürlich, so widerwärtig und falsch es ist, Putin mit Hitler und Russland mit Nazideutschland gleichzusetzen – der Vergleich, den Merz bezogen auf sich selbst zieht, ist so falsch nicht. Denn Merz hat mit Chamberlain mehr gemein, als er je zugeben würde. Vor allem das, ungezählte Menschen für sich bluten zu lassen, keinerlei Skrupel bei der Wahl der politischen Werkzeuge aufzuweisen, immer die Schritte zu unternehmen, die den gewünschten Krieg gen Osten befeuern, und dabei so zu tun, als könne man kein Wässerchen trüben.

Zugegeben, während Chamberlain persönlich mithalf, die spanische Republik zu massakrieren (allein die Zahl der Spanier, die nach dem Sieg Francos ermordet wurden, wird auf bis zu 150.000 geschätzt), hat Merz das aktuelle Gegenstück von Angela Merkel geerbt. Aber die wirkliche Bedeutung von München 1938 war immer die Bereitschaft zur Kumpanei mit den Nazis beim Ostlandritt. Und was das angeht, ist Merz Chamberlain und wird immer Chamberlain bleiben.

Mehr zum ThemaKanzler Merz, der Kalte Krieger

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.