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Auf dem Weg nach Malmö oder Detroit?

In Stuttgart kam es auf einem Spielplatz zu einer Schießerei. Das erschreckt, mindestens ebenso, wie die inzwischen mehrfachen Meldungen über Gangauseinandersetzungen in Berlin. Noch sind solche Vorfälle relativ selten. Aber sie werden häufiger.
Auf dem Weg nach Malmö oder Detroit?© Urheberrechtlich geschützt

Von Dagmar Henn

Am Sonntag wurde in Stuttgart ein 16-Jähriger auf einem Spielplatz niedergeschossen. Die Medien berichten noch keine Details; vage ist von "zwei Gruppen" die Rede. Stuttgart ist allerdings bereits seit Längerem Austragungsort eines Bandenkriegs, in dem schon mehrfach Schusswaffen zum Einsatz kamen; einmal wurde sogar eine Handgranate auf die Besucher einer Beerdigung geworfen.

Stuttgart? Das beschauliche, arbeitssame Schwabenland als Schauplatz eines Gangsterkriegs? Das klingt immer noch fremd; so etwas kannte man jahrzehntelang in Deutschland eher aus dem Fernsehen. Nicht, dass es keine Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Gruppen gegeben hätte, aber sie fanden nicht derart öffentlich statt.

Das BKA veröffentlichte seinen jährlichen Bericht "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung". Das ist gewissermaßen das Hintergrundrauschen zu dem Stuttgarter Vorfall. Dabei bleibt das Kernergebnis konstant: Die mittlerweile drei Millionen Flüchtlinge in Deutschland, die insgesamt etwa 3,6 Prozent der Bevölkerung ausmachen, tragen mit mehr als dem Doppelten, nämlich mit 8,8 Prozent, zu den Tatverdächtigen der Kriminalstatistik bei. In bestimmten Bereichen ist der Anteil noch deutlich höher.

Bei Betrug und Diebstahl liegen sie jeweils über zwölf Prozent; dabei handelt es sich allerdings überwiegend um Ladendiebstahl und beim Betrug zur Hälfte um Schwarzfahren. Weit schwerwiegender ist jedoch, dass auch bei den Straftaten gegen das Leben der Anteil mit 12,2 Prozent der Tatverdächtigen mehr als dreimal so hoch ist wie der Anteil an der Bevölkerung, und auch bei Rauschgiftdelikten (9,5 Prozent), Roheitsdelikten (9,2 Prozent) und den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (7,9 Prozent) noch weit über dem Bevölkerungsanteil liegt. Weit genug, dass weder das vergleichsweise niedrige Alter noch die Tatsache, dass weit mehr Männer als Frauen zugewandert sind, diese Differenz ausgleichen.

Die Stuttgarter Banden, die sich seit inzwischen bald vier Jahren bekriegen, werden als "multiethnisch" beschrieben. Ein längerer Spiegel-Bericht über diese Auseinandersetzung vom November dieses Jahres nennt Syrer, Afghanen, Rumänen, Nigerianer sowie Zuwanderer aus dem Balkan. Schon im August 2023 hätten sich die beiden Gruppen eine Schlägerei in der Stuttgarter Innenstadt geliefert. Aber auch Göppingen und Esslingen werden mit einbezogen, und inzwischen traten Schusswaffen an die Stelle der zuvor verwendeten Messer. Dass die Schießerei auf dem Spielplatz in diesen Zusammenhang gehört, ist bisher nur eine Vermutung. Aber vieles spricht dafür.

Das ist aus zwei Gründen etwas Neues. Zum einen, weil in Deutschland Schusswaffen in einem solchen Kontext noch vergleichsweise selten sind; aber es gibt den Zufluss aus der Ukraine, der das perspektivisch ändern dürfte. Zum anderen aber, weil kriminelle Strukturen, die im Gefolge von Migration entstehen, erst einmal ethnisch sortiert sind. So wie die US-amerikanische Mafia, die sich lange aus Italienern rekrutierte (mit einigen jüdischen Einsprengseln). In den 1960er Jahren sollen einmal Österreicher den Hamburger Strich beherrscht haben. Die bekannten Berliner Clans sind überwiegend libanesische Palästinenser.

Das, was da in Stuttgart entstanden ist, erinnert mehr an Gangs, die aus dem Abstieg von Stadtvierteln oder Städten entstehen, so wie in Detroit, das seine Automobilindustrie verloren hat. Sie sind nicht mehr, wie die klassischen ethnischen Banden, eine Art Aufstiegsvehikel, das nach zwei, drei Generationen nach Legalisierung strebt, sondern ein Verfallsprodukt, eine Schattenökonomie, die die Bereiche füllt, die von der Industrie verlassen wurden. Sie erfüllen nicht nur die Funktion, irgendeine Art von Jobs zu schaffen (es gibt Untersuchungen über die Ökonomie des Drogenhandels in den USA, die ergaben, dass der Straßenhändler am Ende der Hackordnung gerade mal auf einen Mindestlohn kommt), sondern bieten vor allem eine Identität an.

Die zwei Stuttgarter Gangs sollen sich, so der Spiegel-Bericht, aus Fans zweier verschiedener Rapper zusammensetzen. Beide folgen dem Vorbild des US-amerikanischen Gangster-Raps; vermutlich ohne zu wissen, dass die beiden großen Gangs, die dieses Genre entstehen ließen, selbst ein verzerrtes Relikt einer politischen Bewegung waren: Die Crips und die Bloods entstanden beide in Jugendzentren, die einst von den Black Panthers gegründet worden waren. Aus Strukturen, die den Kampf um politische Rechte schwarzer US-amerikanischer Jugendlicher stärken wollten, wurden nach der Zerschlagung der Black Panthers kriminelle Banden, die gegeneinander kämpften. Die Gruppenloyalität blieb übrig, die Ziele gingen verloren.

"Im Oktober 2024 soll ein damals 17-jähriger Syrer 15 Schüsse aus einer Maschinenpistole auf drei Männer in einer Bar in Göppingen gefeuert haben. Zwei wurden schwer verletzt, einer starb. Es war der erste Tote im Bandenkrieg."

Nach wie vor unterscheidet sich nach Herkunftsland ziemlich deutlich, wie viel die Zuwanderung zur Kriminalität beiträgt, und in welchen Bereichen. Die Ukrainer, die derzeit 35,7 Prozent der in Deutschland lebenden Flüchtlinge stellen, liefern nur 12,8 Prozent der Tatverdächtigen (wobei hier auch die Tatsache eine Rolle spielen dürfte, dass der Anteil von Frauen und Kindern sehr hoch ist). Ganz anders die Tunesier, die nur 0,1 Prozent der Flüchtlinge stellen, aber 2,5 Prozent der Tatverdächtigen; das sind die beiden Extreme der Statistik. Wie in den Vorjahren fallen besonders die Nordafrikaner auf: Algerier, Marokkaner, Tunesier. Die Ausreisepflichtigen stellen mit 15,7 Prozent der Tatverdächtigen einen besonders hohen Anteil; aber die meisten Nordafrikaner dürften in diese Kategorie fallen. Aus diesen drei Staaten sowie aus Libyen und Georgien stammen auch die meisten mehrfach Tatverdächtigen.

Was passiert, wenn diese Zuwanderung auf eine Gesellschaft trifft, die ökonomisch gerade abstürzt? Ja, noch laufen die großen Fabriken rund um Stuttgart, aber wenn man sieht, welche Regionen zurzeit am härtesten getroffen werden, sind es eben jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu neuen Industriegebieten wurden – Stuttgart und sein Umfeld, und Oberbayern. Automobilindustrie eben, der obere Bereich, der noch vor Kurzem, anders als Ford und Opel, stabil war, samt der vielfältigen Zulieferindustrie. Dort gehen die Stellen verloren, und dort ist der kulturelle Schock am stärksten, weil davor eine lange Phase des Aufstiegs lag.

Ist also Stuttgart auf dem Weg nach Detroit? Am Anfang der beiden Stuttgarter Gangs sollen zwei Rockergruppen gestanden haben, die einander befehdeten: eine türkische und eine kurdische. Das war aber noch ehe einige der heute Beteiligten überhaupt geboren wurden. Die Mitglieder der beiden bekannten US-Gangs dürften zum Großteil nicht wissen, was die Sozialzentren der Black Panthers mit ihnen zu tun hatten. Das, was übrig bleibt, ist nur noch ein vergleichsweise unscharfes Zeichen; aber dieser Kampf gegeneinander ist ein wichtiger Bestandteil, weil das, was gesucht wird, eine Identität mit starken Loyalitäten ist, und die entstehen nun einmal nur im Konflikt.

"Schwedische Verhältnisse gibt es im Schwäbischen Gott sei Dank nicht", zitiert der Spiegel den Chef des Baden-Württembergischen Landeskriminalamts. Der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund liegt in Baden-Württemberg sogar höher (34 Prozent) als in Schweden (27,5 Prozent). Der Anteil der im Ausland Geborenen liegt mit 21,3 Prozent ebenfalls über den 20,8 Prozent in Schweden.

Es gibt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über Schweden, die den Titel trägt "Don't try this at home", versuche das zu Hause nicht. Sie fasst zusammen, was aus dem einst gerühmten schwedischen Sozialstaat inzwischen geworden ist: Er wurde zur Beute verschiedenster Konzerne. Selbst die Grundschulen sind inzwischen privatisiert, ebenso wie die Sozialdienste. Die Studie will explizit die Deutschen warnen. Aber rund um die Zuwanderung entwickelten sich ähnliche Strukturen, wenn auch noch nicht so umfassend wie in Schweden; angefangen von der Geschäftemacherei mit den Unterkünften bis zu privaten Sprachschulen (mitsamt gefälschten Zertifikaten), und auch die Wohlfahrtsverbände sind Großkonzerne, die vielfach nach geschäftlichem Vorteil streben.

Schweden ist Baden-Württemberg vor allem in zwei Punkten voraus: in dieser Neoliberalisierung und in der Deindustrialisierung. "Schwedens umfassende Privatisierungen haben es Firmen ermöglicht, sehr profitable Geschäftsmodelle zu entwickeln, und haben zu sehr reichen privaten Wohlfahrtsunternehmen geführt, die oft multinationalen Konzernen und Risikokapitalfirmen gehören. Diese Unternehmen und Risikokapitalfirmen sind jetzt bereit, sich in verschiedenen Wohlfahrtssektoren ins Ausland auszubreiten."

Auch das ist ein Teil der Geschichte, wie das heutige Malmö zum Symbol einer Migrationskatastrophe werden konnte. Während auf der einen Seite die Anforderungen an das Sozialsystem stiegen und nicht sanken, wurde es auf der anderen Seite zur Beute der Geschäftemacher. Im Ergebnis ist es nur eine aufwendigere Methode, Steuergelder in Gewinne umzuwandeln; das Geld ohne Umweg über Migranten gleich zu verschenken, hätte vermutlich weniger Schäden hinterlassen. Aber die sichtbare Not ist eben ein wirkungsvoller Hebel, um solche Privatisierungsprozesse in Gang zu setzen, mit der Ausrede, man könne das so schnell staatlich nicht machen.

Die Entwicklung in Deutschland verläuft langsamer, aber sie geht in dieselbe Richtung. Doch wenn man darüber redet, dass die Migration in Schweden so furchtbar gescheitert ist, spricht man selten davon, dass schon die Kindergärten dort zu einem großen Teil privatwirtschaftlich betrieben werden, und die sich natürlich die Kinder herauspicken, die wenig Arbeit machen; die sammeln sich dann in den verbliebenen öffentlichen Strukturen. Dasselbe System setzt sich fort bis zum Ende der Schulzeit. Eigentlich ist das Scheitern kein Wunder. Denn egal, welche zuvor steuerfinanzierte Leistung privatisiert wird: Die Leistung selbst verringert sich notwendigerweise immer um den Gewinn, der erwartet wird.

Das schwedische Bildungssystem, so zitiert die Studie Andreas Schleicher, den Chef der Abteilung Bildung bei der OSZE, "scheint seine Seele verloren zu haben". Niemand bezweifelt, dass Bildung die Voraussetzung für Integration ist. Die Banden in Malmö sind gleich in dreifacher Hinsicht das Ergebnis des Neoliberalismus: einmal durch die Zuwanderung selbst, die ein neoliberales Ziel ist, dann durch die Zerstörung des Bildungssystems und zuletzt durch die Folgen, die das sonst verringerte staatliche Eingreifen hat, wie zunehmend segregierte Wohnviertel.

Diese entstanden übrigens in diesem Ausmaß in Deutschland vor allem durch zwei Dinge: das Verschwinden des sozialen Wohnungsbaus seit den 1980ern, und die Mietobergrenzen, die mit Hartz IV vor inzwischen 20 Jahren eingeführt wurden. Solche Schritte wirken sich nicht sofort aus, aber mittlerweile sind die Folgen deutlich: Die armen und die reichen Viertel sind wieder klar voneinander getrennt. Auch das fördert Entwicklungen wie in Malmö.

Schweden, so ein Bericht des Vorwärts vom Juni dieses Jahres, hat mit diesen Privatisierungen sogar noch das Spielfeld für organisierte Kriminalität geschaffen: "Bandenkriminelle haben beispielsweise Gesundheitszentren oder Jugendheime infiltriert, um diese als Einnahmequellen, Geldwaschmaschinen oder als Anwerbeplatz für weitere kriminelle Aktivitäten zu nutzen." All das sind Faktoren, die sich gegenseitig verstärken.

Detroit war einmal das Herz der größten Automobilproduktion der Welt. Heute weiß kaum jemand mehr, dass das Plattenlabel Motown, das eine so zentrale Rolle bei der Popularisierung schwarzer Musik spielte, nur nach der Kurzform für Motor Town benannt ist, Motorenstadt. Die alten Fabriken sind nur noch Ruinen. Mit der Industrie starb auch das Versprechen des sozialen Aufstiegs; Drogen und Verfall nahmen ihren Platz ein.

Stuttgart ohne die Automobilindustrie, Untertürkheim ohne Daimler, das kann durchaus so aussehen wie Detroit ohne Ford und General Motors und Chrysler. Ingolstadt ohne Audi? Wieder eine behäbige bayerische Provinzstadt mit einer Kaserne und einer medizinischen Fakultät? Das wird auf keinen Fall ein einfaches Zurück zu den Zuständen davor. Der Schmerz des Abstiegs zeigt sich auch in der verzweifelten Suche nach Identität.

Zehn bis fünfzehn Personen, so der SWR, waren an der Auseinandersetzung "auf einem Spielplatz in der Nähe der Lindenbachhalle" beteiligt. Dabei "seien auch mehrere Schüsse gefallen". Der verletzte 16-Jährige wurde, das meldet die Bild, wohl von Kumpanen zur Straßenbahn getragen und dann zum Nordbahnhof gebracht. Worum ging es bei der Schießerei? Wer waren die Beteiligten? Noch teilt die Polizei keine weiteren Details mit. Aber kaum jemand erwartet bei Meldungen über "Gruppen" von "Männern" am Ende Uwe, Michael und Hans. Auch weil sich, wie der BKA-Bericht belegt, ein größerer Teil der Straftaten als bei Einheimischen im öffentlichen Raum abspielt.

Das Menetekel bleibt. Das von Detroit ebenso wie das von Malmö.

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