Meinung

Vom "Schuldkult" zum "Schuldstolz": Wie Deutschland wieder arrogant (und kriegsbereit) wurde

Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet Deutschland, dem das 20. Jahrhundert zweimal ein und dieselbe Lektion erteilt hatte, wieder auf dem Weg in einen Krieg gegen Russland ist? Beim Verstehen hilft möglicherweise ein nach China ausgewanderter Deutscher.
Vom "Schuldkult" zum "Schuldstolz": Wie Deutschland wieder arrogant (und kriegsbereit) wurde© Urheberrechtlich geschützt, DEFA

Von Alexej Danckwardt

Manchmal lohnt es sich, ein bereits verstanden geglaubtes Phänomen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Bestätigen sich die eigenen Beobachtungen aus dem neuen Blickwinkel, erwachsen die eigenen Hypothesen in den Stand bewiesener Theoreme. Stellen sich Unterschiede heraus, ergibt sich die Chance, die Hypothesen zu korrigieren. So oder so kommt man dem Verständnis des Phänomens näher. 

Beobachtungen eines Ausgewanderten

Die jüngste Gelegenheit dazu bietet eine aktuelle Ausgabe des Podcasts Neutrality Studies des in Japan lebenden Schweizers Pascal Lottaz. Dieses Mal interviewte Lottaz den deutschstämmigen Philosophen Hans-Georg Moeller. Man bekommt dank der Person des Interviewten quasi drei Sachen in einem geliefert: Moeller ist Deutscher, in Westdeutschland geboren, wuchs hier auf, studierte Sinologie und Philosophie in Bonn. Er kennt "seine Pappenheimer" somit bestens, zumindest die Zustände hierzulande bis zum Zeitpunkt, als Merkel an die Macht kam und er auswanderte.

Letzteres ist dann auch der Grund, warum man trotzdem eine Perspektive von außen erhält: Seit über zwanzig Jahren lebt und lehrt er in Macau, einer Hongkong ähnlichen chinesischen Sonderverwaltungszone. Die Fehlentwicklungen seit Merkel nimmt er darum in einer Schärfe wahr, die demjenigen, der "auf langsamer Flamme weichgekocht" wurde, in der Regel fehlt. Und – dies wäre die dritte Sache im Überraschungsei – als Philosoph ist er nicht nur in der Lage, das Beobachtete prägnanter und pointierter zu formulieren, sondern hat auch gleich eine Theorie parat, warum wir dort angekommen sind, wo wir im Moment stehen. 

Für einen "Russenversteher" ist das, was Moeller über seinen zweimonatigen Heimataufenthalt in diesem Jahr zu erzählen hat, nicht neu. Es sind dieselben Muster an Arroganz und Besserwisserei, die Deutschland – vom "Normalbürger" bis hin zum "Akademiker" und "Experten" – China gegenüber an den Tag legt. Hören wir rein:

"Jeder, egal ob er mich kannte oder nicht, versuchte mir zu erklären, wie schlecht China ist und wie schlimm und problematisch meine Lage dort sei. [...] Mein Eindruck war, dass je weniger mein Gegenüber über China wusste, desto mehr fühlte er sich berufen, mich über China 'aufzuklären'."

"Am deutschen Wesen ..."

Dieses Phänomen, dass sich die Sachunkundigen zu Belehrungen und Urteilen aufschwingen, sei inzwischen in der Politik, in den Medien, aber auch in der akademischen Welt zu beobachten, stellt Moeller mit sichtbarem Erstaunen fest. Derjenige, der sich tatsächlich mit dem Land auskennt, gar in dem Land lebt und es von innen kennt, werde dagegen mit dem Label "Chinaversteher" disqualifiziert und aus dem Diskurs ausgeschlossen. Man werde damit mit einem "Verräter" gleichgesetzt, der die Sache des "Gegners" fördere.

Man muss dafür aber nicht einmal in dem verteufelten Land leben: Moeller erzählt die Geschichte eines deutschen Sinologie-Professors, der in alter Gewohnheit einen Leserbrief an eine führende deutsche Tageszeitung schrieb, der offenbar nicht ganz im Sinne des Mainstreams war. Die Tageszeitung habe, so Moeller, diesen Leserbrief nicht nur nicht veröffentlicht, die Redaktion habe dem Sinologen sogar noch einen langen Brief zugeschickt, in dem sie ihm erklärte, warum seine Auffassungen nicht akzeptabel seien. Der Journalist, der die Antwort verfasste, habe den professionellen Sinologen dafür kritisiert, ein "Versteher" zu sein, was keine Tribüne in den Medien erhalten dürfe.

Aufgefallen ist Moeller auch das Phänomen sogenannter "Experten", die wir auf dem "Schlachtfeld Russland" nun auch zu Genüge kennen. Statt mit dem offenen Visier in namentlich gekennzeichneten Meinungsartikeln setzt Deutschlands Propaganda nun auf eben diese "Experten", mal anonym, mal namentlich bekannt und in jeder Talkshow sitzend, aber stets mit wenig Sachverstand ausgestattet, die dem offiziellen Narrativ den Schein wissenschaftlicher Autorität verschaffen. "Experten" sind Antagonisten der "Versteher": Die "Experten" vertreten ja (anders als die "Versteher") "die richtige, die akzeptable" Meinung, politisch wie moralisch. Und "kritisches Denken" bedeutet heutzutage, so Moellers Beobachtung, den "Experten" widerspruchslos zu glauben und den "Verstehern" in keinem Fall zuzuhören.

Ihm persönlich, sagt Moeller, falle es äußerst schwer, deutsche Medien zum Thema China zu lesen:

"Mich diesem subtilen Hass, dieser subtilen Propaganda auszusetzen, fällt mir psychologisch äußerst schwer. Ich kann höchstens ein paar Sätze lesen, die Nachrichten schalte ich nach wenigen Minuten aus."

Auch das ist nichts, was uns "Russenverstehern" unbekannt wäre. Aber genug der Zustandsbeschreibungen. Stellen wir fest, dass der mediale und politische Umgang des deutschen Mainstreams mit China viel Ähnlichkeit damit hat, wie mit Russland und dem russischen Volk umgegangen wird, und kommen zur Analyse, wie wir zu alldem kamen. Und da hat der Philosoph einiges zu sagen.

Die gegenüber Völkern anderer Kontinente belehrende und überhebliche Attitüde komme überall in Europa vor, meint Moeller, sei in Deutschland jedoch besonders stark ausgeprägt. Er glaube zwar nicht an einen "deutschen Nationalcharakter", könne sich dieser empirischen Beobachtung aber auch nicht entziehen und müsse ihn dann doch zumindest in Erwägung ziehen. 

Bei einer historischen Betrachtung, die der Chinakenner ebenfalls liefert (etwa zur europäischen Sinophobie während des Opiumkriegs oder des Boxeraufstands), zeigt sich, dass Hasspropaganda und all die Früchte, die sie trägt, stets Begleiterscheinungen geopolitischer Konflikte waren – oder, präziser gesagt, der europäischen Versuche, sich ein Land zur Kolonie zu machen. Und so ist China auch heute der geopolitische Widersacher. Anders als Russland – was Moeller allerdings nicht ausspricht – vielleicht (noch) nicht zum unmittelbaren Verspeisen auserkoren, aber jemand, der der räuberischen Agenda einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Nebenbei bemerkt: Während der Opiumkriege und des Boxeraufstands war China genau das – zum Erlegen und Zerteilen auserkorene Beute der Europäer.

Das ergibt nur als Kriegsvorbereitung Sinn

Russland wurde nicht deshalb zum Paria, zum Ausgestoßenen, erklärt, weil es heute besonders aggressiv sei. Moeller erinnert an die Zeit des Kalten Krieges, an die 1970er und 1980er, als "der Russe" nicht lediglich, wie es heute die Propaganda erzählt, vorhatte, in vier Jahren (pünktlich zur Herstellung der deutschen Kriegstüchtigkeit, so viel Fairplay muss einfach sein) "zu kommen" – er war schon da: 

"Halb Deutschland – die Russen waren da. Das russische Militär kontrollierte halb Deutschland. Sie waren viel näher, als sie es heute sind. Und dennoch gab es damals die Entspannungspolitik. Die Russen, die Sowjets vielmehr damals, wurden nicht zum Paria gemacht. Man durfte mit ihnen reden, man durfte sie einladen. [...] Weil Russland heute Paria ist, sind russische Medien, RT und Sputnik, tatsächlich verboten – damals durfte man sowjetische Medien lesen und die Sprache lernen."

Grundsätzlich sei es zwar von strategischem Nachteil, seinen Gegner (oder Konkurrenten) nur oberflächlich zu kennen, und zugleich lege sich der Westen mit seiner selbstauferlegten Informations- und Wissensblockade langfristig selbst Steine in den Weg. Für eine Kriegssituation sei, fährt Moeller fort, genau diese künstliche Isolation zum Gegner unabdingbar:

"Man will in der eigenen Bevölkerung keinerlei Sympathie oder Empathie für den Gegner zulassen. Wenn man in seinem Volk die Bereitschaft erzeugen will, die anderen zu töten, was der menschlichen Natur zuwiderläuft, muss man jede Form des Verständnisses für den anderen auf ein Minimum reduzieren, jede Form der Empathie."

Dabei gehe es nicht nur um den Soldaten an der Front: Auch für die Kriegstüchtigkeit des Politikers, des Journalisten und des Akademikers sei es unabdingbar, jedes Verständnis und jede Empathie auszumerzen, betont Moeller. Es stehe für ihn somit fest, dass wir auf dem Weg zu einem großen Krieg seien.

Endlich wieder gut? Wie aus dem deutschen Schuldkult Schuldstolz wurde

Aber wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet Deutschland, dem das 20. Jahrhundert zweimal eine Lektion erteilt hatte, wieder auf dem Weg in einen Krieg gegen Russland ist?

Auch dafür hat Philosoph Moeller eine Hypothese. Die Antwort liege darin, dass aus der deutschen Schuldaufarbeitung irgendwann etwas wurde, was er Schuldstolz nennt. Zwei Generationen der Nachkriegsdeutschen lebten unter der Prämisse der "Wiedergutmachung", wollten "kleine Brötchen backen", sich permanent entschuldigen, und irgendwann sollte es dadurch "wieder gut" sein. Anders war es nur in der DDR, deren Regierende sich als Antifaschisten (was, das betont Moeller ausdrücklich, auch wahr ist) und damit als Sieger des Zweiten Weltkriegs sahen. 

Nach 1989, nach der "Wiedervereinigung", wechselte die dritte Nachkriegsgeneration zu einer anderen Idee – eben dem Schuldstolz, die Betonung liege auf "Stolz". Gerade dadurch, dass man ja seine Schuld "aufgearbeitet" habe, sei man der "moralische Superheld", anderen Völkern moralisch überlegen. Und damit sei nicht nur "endlich wieder gut", sondern man habe auch das Recht erworben, sich anderen überlegen zu wähnen und die eigene "Moralität" anderen aufzubinden. Das sei, so Moeller, die neue nationale Idee, die Staatsreligion der Deutschen.

Lottaz pflichtet dem bei: Wenn man überzeugt ist, die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben (dass man es gerade nicht hat, dazu sei dieser Artikel zum deutschen Umgang mit Leningrad empfohlen), glaubt man, dass man nicht mehr im Unrecht sein könne. Also müsse ja der Gegner im Unrecht und böse sein und müsse nun "eines Besseren" belehrt werden. Und so kommen dann schräge Ideen in Reden von hoher Tribüne zustande, die das "Nie wieder" des Jahres 1945 als Verpflichtung umdeuten, Israel auch im Genozid widerspruchslos zur Seite zu stehen oder gegen Russland in neue Kriege zu ziehen. "Zeitenwende" und "wertebasierte Außenpolitik" eben.

So weit die Diagnose, und mir fällt nichts ein, womit ich widersprechen könnte. Einen zufriedenstellenden Ausweg aus der furchterregenden Eigendynamik haben die beiden nicht, wahrscheinlich kennt ihn niemand. Man solle beim Moralisieren nicht mitmachen, empfiehlt Moeller. Das Problem ist nur (abgesehen davon, dass an dem westlichen Expansionsstreben gar nichts moralisch ist), dass die, die bei alldem mitmachen, den Lottaz-Podcast nicht sehen und auch diese Rezension nicht lesen werden. Die Mehrheit der Deutschen verweigert sich standhaft der Erkenntnis ‒ damit begann der Podcast ja.

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