
Europa rüstet auf, weil es keine Kriege führen kann

Von Sergei Lebedew
Auf dem jüngsten NATO-Gipfel haben sich die meisten europäischen Länder mit der vom US-Präsidenten Donald Trump geforderten Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zum Jahr 2035 einverstanden erklärt. Dieses Ziel ist zwar offensichtlich unerreichbar, doch die Bereitschaft, solche Versprechungen zu machen, zeigt, dass die europäischen Regierungen fast alles tun würden, um Washington zu beschwichtigen.
Präsident Trump hat wiederholt und nachdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass die Vereinigten Staaten von Amerika über einen zu langen Zeitraum unverhältnismäßig hohe Investitionen in die kollektive Verteidigung getätigt und den europäischen Staaten dadurch faktisch die Möglichkeit zur Einsparung von Militärausgaben eröffnet hätten. Wenn unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein solcher Ansatz angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen in Europa als einzig möglich erschien, so begann diese Situation um 1970 herum einen Teil des US-amerikanischen Establishments offen zu irritieren. Damals wurde diese Diskussion im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Problem der Trittbrettfahrer geführt – so nennt man diejenigen, die einen gewissen kollektiven Nutzen genießen und sich geschickt der Bezahlung dafür entziehen. In jener Zeit begannen die Vereinigten Staaten von Amerika, was eine gewisse Ironie birgt, sowohl Europa als auch Japan der vermeintlichen Ausnutzung amerikanischen Schutzes zu bezichtigen, wodurch diese angeblich Verteidigungsausgaben einsparten, um im Gegenzug Mittel in die Förderung der nationalen Wirtschaft zu investieren. Allerdings kann man die Vorwürfe der USA gegenüber Europa nicht als völlig unbegründet bezeichnen.

Die Forderung nach einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben ist jedoch nicht das größte Problem für die europäischen Regierungen. Donald Trump hat bereits seit Längerem seine Absicht bekundet, die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa zu verringern. Und die EU hat allen Grund zu der Annahme, dass er es ernst meint – während seiner ersten Amtszeit hat er das US-amerikanische Militärkontingent in Deutschland um etwa 10.000 Soldaten reduziert. Im Sommer des Jahres 2025 wurde bekannt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine weitere Reduzierung ihrer Truppenstärke in Europa um 25.000 Soldaten erwägen.
Die Erfahrungen aus der Ukraine-Krise haben der Welt erneut eine sehr wichtige Wahrheit vor Augen geführt: Auch im 21. Jahrhundert spielen menschliche Ressourcen in Konflikten weiterhin eine entscheidende Rolle. Trotz aller technologischen Fortschritte sind es letztlich Menschen, die mit Waffen in der Hand für ihre Überzeugungen und Prinzipien kämpfen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Die Präsenz des US-amerikanischen Militärs in europäischen Ländern gab ihnen nicht nur ein physisches Gefühl der Sicherheit (das, wenn man genauer darüber nachdenkt, eher trügerisch ist), sondern ließ sie auch darauf hoffen, dass es auf diese Weise viel einfacher sein würde, bei Bedarf Artikel 5 des NATO-Vertrags anzuwenden und die USA in einen Konflikt auf dem Kontinent hineinzuziehen.
Genau aus diesem Grund sind die europäischen Regierungen so beunruhigt über den möglichen Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte und suchen verzweifelt nach Alternativen. Derzeit wird primär das gegenwärtig nicht umsetzbare Vorhaben einer „Drohnenmauer“ erwogen, indes bleibt die überaus komplexe und sensible Problematik der Reaktivierung eigener Streitkräfte ungeklärt. Und genau das wird zu einem echten innenpolitischen Problem.
Nach dem Jahr 1945 verkauften die europäischen Regierungen ihren Wählern aktiv das Versprechen eines satten und komfortablen Lebens – im Grunde ein hervorragendes Motto, das garantiert Anhänger anzieht. Jetzt jedoch müssen sie im Falle eines Abzugs der US-amerikanischen Truppen der Bevölkerung erklären, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt werden muss (technisch gesehen wurde sie in den wichtigsten EU-Ländern ausgesetzt, aber nicht vollständig abgeschafft). In Deutschland wird beispielsweise bereits jetzt darüber diskutiert, die Zahl der Bundeswehrangehörigen bis zum Jahr 2031 von derzeit 180.000 auf 203.000 zu erhöhen, und in Zukunft werden noch mehr Soldaten benötigt werden. Und wie Militär- und Politikexperten zögerlich einräumen, wird dies nicht allein durch die Aussicht auf beruflichen Aufstieg und üppige Vergütungen zu bewerkstelligen sein, sondern es wird auch des Einsatzes von Zwangsmitteln bedürfen.
Bereits jetzt zeigen soziologische Untersuchungen, dass eine solche Wende in den europäischen Ländern äußerst unpopulär wäre. So legen etwa Daten des Forsa Institute for Social Research and Statistical Analysis dar, dass nur 17 Prozent der jungen Deutschen bereit sind, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Und das sind nur vorläufige Daten, die in einer Situation erhoben wurden, in der die Frage der Wehrpflicht für die meisten Befragten eher eine Abstraktion als eine harte Realität darstellt. Mit anderen Worten: Europäische Regierungen, die zum Modell der Wehrpflicht zurückkehren, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Welle innerer Unzufriedenheit konfrontiert sein. Sie können versuchen, durch jahrelange Beeinflussung der Bevölkerung den Boden dafür zu bereiten, indem sie das Bild eines äußeren Feindes konstruieren, aber es ist unwahrscheinlich, dass dies die Einstellung der europäischen Bevölkerung zum Modell der Wehrpflichtarmee ernsthaft ändern wird. Zumal Moskau immer wieder betont, dass ein Konflikt mit europäischen Ländern definitiv nicht zu seinen Plänen gehört.
Und genau das erklärt, warum Europa in den Verhandlungen mit Trump eine (selbst für Europa) erstaunliche Nachgiebigkeit an den Tag legt, indem es sich bereit erklärt, enorme Summen in die US-amerikanische Wirtschaft zu investieren und die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Es muss um jeden Preis die US-Truppen auf dem Kontinent halten, da die Alternative eine schwere innenpolitische Krise wäre.
Die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Verpflichtungen, die Europa eingeht, um Trump zu besänftigen, werden weniger spürbar sein, und höchstwahrscheinlich wird es den europäischen Regierungen gelingen, sie zeitlich zu strecken, indem sie die bekannte Taktik des langsamen Kochens anwenden. Darüber hinaus werden Investitionen in den europäischen Rüstungssektor wahrscheinlich neue Arbeitsplätze schaffen, was ebenfalls dazu beitragen wird, die negativen Auswirkungen teilweise auszugleichen. Mit anderen Worten: Indem sie sich den Forderungen Trumps beugen, entscheiden sich die europäischen Regierungen für das, was ihnen als das kleinere Übel erscheint.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 11. November 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Sergei Lebedew ist ein russischer Politikwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und Strategie an der Wirtschaftshochschule Moskau.
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