
Europa wird nicht ernst genommen, weil es nicht ernst genommen werden muss

Von Pierre Levy
Niemand zweifelt daran, dass Deutschland innerhalb der Europäischen Union großes Gewicht hat und eine führende Rolle spielt. Es besteht auch kein Zweifel, dass in diesem Land die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), eine der größten überregionalen Tageszeitungen, oft getreu die Stimmung der deutschen Führungskräfte, insbesondere der Wirtschaftskreise widerspiegelt.

Wenn also ein einflussreicher Leitartikler dieser Zeitung eine bissige Anklage gegen den aktuellen Zustand der EU verfasst (30. Oktober), sollte man darauf aufmerksam werden, zumal die FAZ bisher nie einen Hehl aus ihrer Verbundenheit mit der europäischen Integration gemacht hat.
Nikolas Busse hält mit seiner Kritik nicht hinterm Berg. Er stellt gleich zu Beginn fest: "Im Grunde sind die wichtigsten Eckpfeiler, die Europas Außenpolitik und Weltsicht stützen, innerhalb von kurzer Zeit unterspült worden, teils sogar ganz weggebrochen."
Als Beispiele nennt er die Verteidigung, den Klimaschutz, den freien Handel, die Globalisierung und die Rolle der EU in der Welt. Er stellt sogar die ideologischen Grundlagen der Integration infrage: "Früher dachte man, dass die Europäer stärker werden, wenn sie gemeinsam auftreten. Jetzt ziehen sie einander nach unten." Was für ein Eingeständnis!
Der Autor begnügt sich nicht mit dieser brisanten Feststellung. Er fügt perfide hinzu, dass "der ungarische Ministerpräsident derzeit in Washington mehr Gehör findet als die Präsidentin der EU-Kommission". Und kommt zu dem bitteren Schluss: "Europa wird weltweit nicht ernst genommen, weil man es nicht ernst nehmen muss."
Noch brisanter ist seine Kritik an den offiziellen Dogmen der letzten Jahrzehnte, wenn er behauptet, dass "Europas Abstieg in gewisser Weise unvermeidlich war". Der Analyst merkt nämlich an: "Nach den Weltkriegen haben die Europäer die westliche Führungsrolle an die Vereinigten Staaten verloren. Der industrielle Aufstieg Asiens und der enorme Geldtransfer an die Rohstoffländer im Nahen Osten, aber auch an Russland, schufen später neue Machtzentren."
Die Vorwürfe sind auch aktuell: Der Wunsch, die EU zu einer "normativen Macht" zu machen, "die ihre Wertvorstellungen in den Rest der Welt exportieren könne (...) ging oft nach hinten los". Beispiele: "Der Versuch, global den Kinder- oder Klimaschutz durchzusetzen, schadete der europäischen Wirtschaft. Der Versuch, das Asylrecht hochzuhalten, brachte viele europäische Gesellschaften an die Grenzen ihrer materiellen und kulturellen Möglichkeiten. Der Versuch, Sicherheit 'umfassend' zu definieren, führte zu Wehrlosigkeit (...)"
All diese Analysen führen zu einer Schlussfolgerung, die wie ein Aufruf klingt: "Die Lösung liegt nicht darin, die EU zu stärken"; im Gegenteil, diese "braucht in erster Linie starke Mitgliedstaaten, wirtschaftlich wie militärisch". Und man kann sich gut vorstellen, dass der Autor hier nicht an Malta oder Litauen denkt, sondern eher an sein eigenes Land.
Mehrere grundlegende Entwicklungen oder Brüche können diese Haltung des Journalisten erklären, die die FAZ-Redaktion als Ganzes verbinden soll. Dazu gehört die Erweiterung um dreizehn mitteleuropäische Länder im Jahr 2004 (und dann 2007 und 2013). Diese Massenbeitritte wurden insbesondere von Berlin unterstützt, das darin eine Stärkung seines wirtschaftlichen Hinterlands und eine Bestätigung seiner politischen Vormachtstellung gegenüber den Neulingen sah.
Es war die Zeit, in der Bundeskanzler Helmut Kohl und dann Gerhard Schröder verkündeten: "Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille". Zwei Jahrzehnte später hat sich der Triumph in einen Albtraum verwandelt. Mehrere "kleine" Länder des Ostens, von denen man hoffte, dass sie gefügig sein würden, zeigen sich in vielen Fragen dissident, insbesondere (aber nicht nur) in der Außenpolitik, wo Entscheidungen noch einstimmig getroffen werden.
Dies ist offensichtlich der Fall bei Ungarn, gefolgt von der Slowakei und nun wahrscheinlich auch der Tschechischen Republik. Zuvor war dies bei Polen der Fall, und die Entscheidungen Bulgariens bleiben sehr fragil.
Vor allem ist eine EU mit 27 Mitgliedern (ganz zu schweigen von den nächsten Beitritten, die ungewisser denn je sind) schwerfälliger und schwieriger zu manövrieren als ein Block mit zwölf oder fünfzehn Mitgliedern. Die Streitigkeiten werden permanent. Die sich abzeichnenden Auseinandersetzungen über den künftigen Siebenjahreshaushalt der Gemeinschaft dürften dies bestätigen.
Ein zweiter Faktor wird von Busse ausdrücklich erwähnt: Europa sehe sich zunehmend mit Ländern konfrontiert, "die ihre nationalen Interessen rücksichtslos verfolgen". Als Beispiele werden China, Russland und die Vereinigten Staaten genannt. Der letzte Fall ist natürlich der heikelste. Onkel Sam hat seine Verbündeten schon immer als Vasallen betrachtet, aber mit Donald Trump wurden die Beziehungen zwischen den beiden Seiten des Atlantiks ihrer ideologischen Schmierschicht – den "gemeinsamen Werten" – beraubt. Was bleibt, sind reine Interessenkonflikte.
In diesem Zusammenhang könnte die Loyalität gegenüber Washington, die nach wie vor ein genetisches Fundament der EU ist, in Berlin als Hindernis angesehen werden, wenn es darum geht, seine nationalen Interessen zu verteidigen. So beginnen beispielsweise einige bereits, über die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine nachzudenken: Es könnte für bestimmte große deutsche Konzerne verlockend sein, wieder Beziehungen zu Moskau aufzunehmen.
Ein dritter Faktor (die Aufzählung ist nicht vollständig) ist schließlich der "europäische Traum", der die Massen nie begeistert hat und nun auf wachsende Zurückhaltung, ja sogar manchmal auf Ablehnung in der Bevölkerung stößt. Busse weist im Übrigen darauf hin, dass das alte Ziel, das die Bürger begeistern sollte, nämlich die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa", unrealistisch und überholt ist – was zwar schon bekannt war, aber dennoch klar ausgesprochen werden sollte.
All dies zusammen genommen gibt den führenden Kräften in Deutschland Anlass zum Nachdenken. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass das Land kurz vor einem Austritt aus der Europäischen Union steht. Im Übrigen sind Veränderungen, wie sie der Leitartikler vorschlägt, langsame Prozesse.
Und man muss daran erinnern, dass es in Berlin – insbesondere nach dem Jahr 1990 – immer eine gewisse Koexistenz zwischen der Versuchung gegeben hat, die europäische Integration als Sprungbrett für das Land voranzutreiben, und der Versuchung, eine markantere nationale Logik durchzusetzen – wobei beide dem gleichen Ziel, dem Leadership, dienen.
Der Artikel in der FAZ könnte aber ein Meilenstein sein, der darauf hindeutet, dass die zweite Versuchung nun an Boden gewinnen könnte. Es wird interessant sein, in den kommenden Wochen und Monaten zu beobachten, ob sich weitere Anzeichen finden, die diese Hypothese stützen. Sollte dies der Fall sein, wäre es eine echte kopernikanische Revolution, die langfristig die Existenz der EU selbst infrage stellen könnte.
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