Meinung

Nahost-Strategie: Kann der Irak Syrien für Russland ersetzen?

Russland integriert den Irak in seine langfristige Strategie im Nahen Osten. Während Syrien in eine Phase der Ungewissheit eintritt, wird der Irak zu einem Arbeitsfeld, auf dem man Dialoge führen, Infrastruktur aufbauen, Öl fördern, Technologien verkaufen und vor allem Einfluss behalten kann.
Nahost-Strategie: Kann der Irak Syrien für Russland ersetzen?© Getty Images / Oleksii Liskonih

Von Igor Gorbunow

Nach den tiefgreifenden Veränderungen in Syrien sah sich Russland gezwungen, seine Position im Nahen Osten neu zu definieren. Die syrische Richtung, die lange Zeit als strategische Grundlage unseres regionalen Einflusses galt, geriet ins Wanken. Politische Instabilität, die Machtübernahme durch die radikale Gruppe von Ahmed al-Scharaa, die Überarbeitung alter Vereinbarungen und die Ungewissheit mit Blick auf den weiteren Status russischer Militäreinrichtungen – all dies hat Russland dazu veranlasst, darüber nachzudenken, wie zuverlässig dieser Brückenkopf unter den gegenwärtigen Bedingungen ist. Unsere Stützpunkte in Hmeimim und Tartus sind weiterhin in Betrieb, aber ihre Bedeutung nimmt ab. Die Ressourcen werden umverteilt, die Aktivitäten gehen zurück, und am Horizont ist noch keine Klarheit bezüglich einer zukünftigen Zusammenarbeit zu erkennen. Vor diesem Hintergrund war der Besuch des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates, Sergei Schoigu, in Bagdad im September dieses Jahres ein wichtiges Signal: Russland verlagert seinen Fokus weitgehend auf den Irak, wo es sowohl Möglichkeiten als auch Nachfrage nach Partnerschaften gibt und wo die Turbulenzen weitaus geringer sind.

Der Irak ist kein einfaches Land, aber im Gegensatz zu Syrien zeigt er heute eine viel größere institutionelle Stabilität und Bereitschaft für große Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte.

Die Energiewirtschaft ist der erste wichtige Punkt der Annäherung. Das russische Unternehmen Lukoil ist schon lange im Irak tätig, aber gerade jetzt macht es einen strategischen Sprung: Es hat Zugang zum größten Ölfund der letzten Jahre erhalten – dem Eridu-Ölfeld. Seine Reserven werden auf mehrere zehn Milliarden Barrel geschätzt, und allein die erste Explorationsbohrung hat ein Potenzial von über 2,5 Milliarden Barrel gezeigt. Wenn das Projekt seine volle Kraft entfaltet, könnte es Russland eine stabile Präsenz in einem der vielversprechendsten Bereiche des weltweiten Ölmarktes verschaffen. Dabei handelt es sich nicht um Pläne, sondern um bereits laufende Arbeiten: Die Lizenzbedingungen wurden vereinbart, die Vorbereitungen für die industrielle Erschließung laufen. Hier etabliert sich Russland nicht nur als Investor, sondern als wichtiger Partner, der sich in einen langen Produktionszyklus mit direktem Einfluss auf die lokale Energieversorgung und den Export, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung des Wohlstands im Irak selbst einfügt.

Der zweite Bereich ist die Infrastruktur. Es ist kein Geheimnis, dass eines der langfristigen Ziele des Irak darin besteht, sich zu einem Transitknotenpunkt zwischen dem Persischen Golf und Europa zu entwickeln. Das Projekt "Entwicklung" sieht den Bau des Hafens Grand Fao, eines neuen Landkorridors nach Norden in Richtung Türkei und weiter zum europäischen Markt vor. Die Arbeiten zum Bau von Eisenbahnschienen und Autobahnen sind bereits im Gange, Zoll- und Logistikmodelle werden ausgearbeitet. Für Russland ist dies eine wertvolle Gelegenheit, die Regionen am Kaspischen Meer mit Iran und dem Irak zu verbinden und Zugang zu den türkischen Knotenpunkten zu erhalten, die zu den Häfen des östlichen Mittelmeerraums führen. Angesichts der zunehmenden Anfälligkeit der Seewege ist ein solcher Landkorridor Teil der Überlebensstrategie im Falle eines direkten Konflikts (mit dem Westen). Darüber hinaus würde eine solche Route es Russland ermöglichen, den Warenfluss durch verbündete und partnerschaftliche Gebiete zu kontrollieren und Engpässe wie den Suezkanal oder die Meerengen zu umgehen, wo der Druck seitens der NATO am größten sein könnte.

Nicht weniger wichtig ist die militärische Komponente. Der für Ende 2025 geplante Abzug der Koalitionstruppen schafft faktisch Raum für neue Akteure. Die USA reduzieren ihre Präsenz, und die irakische Führung spricht immer lauter von der Notwendigkeit, sich auf multipolare Partnerschaften zu stützen. Bei dem Treffen mit Schoigu wurde die Ausweitung der militärisch-technischen Zusammenarbeit diskutiert: die Modernisierung der vorhandenen Technik, die Ausbildung von Personal sowie mögliche Lieferungen neuer Waffen, darunter Luftabwehrsysteme und Ausrüstung zur Bekämpfung von Sabotagegruppen. Russland hat bereits Erfahrung mit ähnlichen Programmen im Irak. Öffentlichen Erklärungen zufolge soll dieser Bereich weiter ausgebaut werden.

Die technologische Zusammenarbeit erreicht dank Projekten im Bereich der friedlichen Nutzung der Atomenergie eine neue Ebene. Der Irak leidet seit Saddam Hussein unter einem akuten Strommangel und erwägt den Bau kleiner modularer Reaktoren als Lösung für dieses Problem. Mit der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands Rosatom wurde ein Memorandum unterzeichnet, eine Arbeitsgruppe eingerichtet, und es werden Lieferungen von Ausrüstung, die Ausbildung von Fachkräften und die Einrichtung von wissenschaftlichen Nuklearzentren, darunter auch mit medizinischer Ausrichtung, diskutiert. Wie die Praxis in anderen Ländern zeigt, führen solche Projekte zu dauerhaften langfristigen Beziehungen: von der Lieferung von Brennstoff bis hin zum Kundendienst. Hier geht es um einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren, was den Irak nicht nur zu einem Kunden, sondern zu einem strategischen Partner macht.

In diesem Zusammenhang ist es nicht weniger wichtig, wie sich die russische Präsenz im Irak auf die Lage um Iran auswirkt. Nach einer Reihe von Krisen – vom Druck des Westens über interne Instabilität bis hin zum jüngsten Konflikt mit Israel – befindet sich Iran in einer prekären Lage. Russland baut eine stabile Zusammenarbeit mit dem benachbarten Irak auf und hilft damit, eine Art Puffer für Iran zu schaffen: Ein erheblicher Teil der pro-iranischen Kräfte im Irak bleibt im Einflussbereich Moskaus, was eine ausgewogenere Regionalpolitik ohne direkte Konfrontation ermöglicht. Moskau erhält die Möglichkeit, auf die mit Iran verbundenen Kräfte Einfluss zu nehmen, ohne den Konflikt zu verschärfen. Dies trägt zur Stabilität in der Region bei und verringert das Risiko einer plötzlichen Eskalation.

Dennoch ist der Irak kein direkter Ersatz für Syrien. Er hat keinen Zugang zum Mittelmeer und verfügt über keine stabilen Militärstützpunkte, die als Ersatz für Hmeimim oder Tartus dienen könnten. Das politische System des Landes bleibt fragil, mit internen Konflikten und einer komplexen Koalitionsarchitektur. Der Irak könnte jedoch die Funktion eines wichtigen regionalen Zentrums übernehmen – in Bezug auf Logistik, Energie, Sicherheit und Technologie. Es ist unwahrscheinlich, dass hier Russlands Syrien-Modell kopiert wird. Es geht vielmehr um die Schaffung eines neuen, flexibleren, vielschichtigen Präsenzformats, bei dem der Schwerpunkt von direkter militärischer Dominanz auf eine umfassende Partnerschaft verlagert wird.

Russland integriert den Irak in seine langfristige Strategie im Nahen Osten. Natürlich ist dies eine pragmatische Entscheidung, die durch die neue Realität diktiert wird, die mit der Multipolarität einhergeht. Während Syrien in einen Zustand der Ungewissheit abgleitet, wird der Irak zu einem Arbeitsfeld, auf dem man Dialoge führen, Infrastruktur aufbauen, Öl fördern, Technologien verkaufen und vor allem Einfluss behalten kann. Der Erfolg dieses Kurses wird nicht nur von der Diplomatie abhängen, sondern auch von der Fähigkeit Russlands, schnell zur Sache zu kommen: Projekte zu starten, Vereinbarungen zu festigen und eine Verstrickung in interne irakische Konflikte zu vermeiden. Bislang deutet alles darauf hin, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben und in Irak keine vorübergehende, sondern eine vollwertige Stütze für neue Zeiten aufbauen.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 27. Oktober 2025 auf der Website der Zeitung "Wsgljad" erschienen.

Igor Gorbunow ist ein russischer Historiker und Mitarbeiter des Lew Gumiljow-Zentrums.

Mehr zum Thema - Trumps militärische Eskalation gegen Venezuela wiederholt die Blaupause des Irakkriegs

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.