
Sollte Russland seine Atomwaffentests wieder aufnehmen?

Von Alexander Timochin
Moderne nukleare (und insbesondere thermonukleare) Munition ist aus technischer Sicht ein äußerst komplexes Produkt, dessen Herstellung eine leistungsfähige Atomindustrie und Infrastruktur erfordert. Ohne diese kamen Israel und das alte Südafrika zur Zeit der Apartheid aus, aber das israelische Atomarsenal ist mit dem der großen Atommächte nicht zu vergleichen. Letztere brauchten Jahrzehnte und umfangreiche Forschungen, um ihren heutigen Status zu erreichen. Atomtests waren ein notwendiger Meilenstein ihrer Bemühungen.
Seit 1944 haben die USA, ab 1949 die UdSSR und später auch andere Länder mehr als 2.000 nukleare Explosionen auf der Erde, unter der Erde, auf dem Wasser, unter Wasser, in der Luft und im Weltraum durchgeführt. Ohne dies wäre es nicht möglich gewesen, Fortschritte in der Erforschung von Atomwaffen zu erzielen.
So hatte die erste thermonukleare Sprengvorrichtung, die am 1. November 1952 in den USA im Rahmen der Ivy-Mike-Tests gezündet wurde, eine Masse von 73,8 Tonnen und sogar eine Kühlanlage in ihrer Konstruktion. Es handelte sich dabei nicht um eine Bombe im eigentlichen Sinne, aber sie lieferte den Amerikanern die notwendigen Informationen für ihre Entwicklung.

Die UdSSR stellte direkt eine thermonukleare Bombe vom Typ RDS-6s her, die aus einem Flugzeug abgeworfen werden konnte. Allerdings erwies sich die Herstellung dieser Sprengladung in nennenswerten Mengen als unmöglich, und die Lagerfähigkeit betrug nur wenige Monate. Dann gab es noch zwei weitere thermonukleare Sprengladungen, die nach einem anderen Prinzip funktionierten, und nur die zweite davon – die RDS-37 – wurde tatsächlich zu einer Waffe und nicht zu einem experimentellen Sprengkörper.
Danach war es noch ein langer Weg bis zu verschiedenen Serien von Standard-Sprengkörpern für Bomben und Raketen. Auch deren Wirksamkeit musste durch Tests bestätigt werden. Mit diesen Tests mussten auch die Zuverlässigkeit der Produkte und die Fehlerfreiheit der Konstruktion bestätigt werden. Damals gab es keine Möglichkeit, die Funktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft eines Sprengkörpers ohne dessen Explosion garantiert sicherzustellen.
Die Entspannung zwischen der UdSSR und den USA setzte den Explosionen jedoch ein Ende. Damals befand sich die politische Führung beider Länder in Euphorie über die Beendigung der gegenseitigen Konfrontation.
Die Einstellung der Tests (die unter anderem sehr kostspielig sind) war ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen, den Planeten vor einem möglichen Weltkrieg zu bewahren.
In den letzten Jahren haben wir jedoch festgestellt, dass die Zahl derjenigen, die einen großen Krieg gegen Russland führen wollen, weitaus größer ist, als man sich vorstellen kann. Atomwaffen sind nach wie vor ein Mittel der Kriegsführung, das aufgrund seiner Zerstörungskraft und seiner Folgen furchterregend ist, der Westen fürchtet sie jedoch nicht mehr so sehr wie früher. Dies wiederum könnte zu einer Situation führen, in der Atomwaffen schließlich doch eingesetzt werden müssen. Russland hat wiederholt betont, dass es sich das Recht vorbehält, im Falle einer Aggression seitens westlicher Länder Atomwaffen einzusetzen.
Nach dem Jahr 1990 wurden jedoch anstelle von Explosionen unter realen Bedingungen Tests einzelner Komponenten und Sprengstoffsysteme, Experimente mit subkritischen Massen von spaltbarem Material und mathematische Simulationen der Explosion auf leistungsstarken Computern durchgeführt. Dies kann tatsächlich ein Äquivalent zu Tests für ein fertiges Produkt sein, das bereits zuvor gesprengt wurde und für das alle Informationen über die Explosion sowie alle technischen Informationen über das Produkt selbst gesammelt wurden. Bei den Sprengkörpern, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR entwickelt wurden, sieht die Situation jedoch etwas anders aus – die Wahrscheinlichkeit, dass sie so explodieren, wie es die Simulation zeigt, ist geringer.
Erstens müssen alle Daten, auf deren Grundlage die Simulation durchgeführt wird, überprüft werden. Zweitens ist die normale Funktion aller Teilsysteme des Produkts auf dem Prüfstand einzeln keine Garantie dafür, dass sie auch zusammen gut funktionieren. Es gab Fälle, in denen technisch komplexe Waffen, die aus funktionsfähigen Komponenten zusammengesetzt wurden, nicht funktionierten.
Die Funktionsgarantie von Atomwaffen ist von entscheidender Bedeutung. Gerade die Gewissheit und Unvermeidbarkeit ihres Einsatzes unter bestimmten Bedingungen ist das Hauptprinzip der sogenannten nuklearen Abschreckung. Alles muss funktionieren und zum richtigen Zeitpunkt explodieren. Es ist technisch unmöglich, eine Garantie dafür zu geben, dass dies auch tatsächlich der Fall sein wird, ohne zumindest kleine Kontrollserien von bereits vorhandenen Sprengkörpern zu zünden.
All dies wird auch im Westen verstanden. Aus diesem Grund bereiten sich einige Länder bereits darauf vor, ihre Atomtests wiederaufzunehmen.
Den technischen Faktoren stehen jedoch politische entgegen. Atomtests sind, um es mit modernen Worten zu sagen, ein "toxisches" Thema. Es ist eine politisch schwierige Entscheidung mit einer Vielzahl unvorhersehbarer Folgen für jedes Land, das einen solchen Schritt als erstes unternimmt.
Die Unterstützung, die Russland in den Ländern des Globalen Südens genießt, würde nach dem Beginn russischer Atomtests mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Wanken geraten. Auch die Arbeiten der USA zur Modernisierung ihres Atomwaffenarsenals würden beschleunigt. Und neue Sanktionen wären unvermeidlich.
Mit anderen Worten: Die Entscheidung, Atomwaffen zu testen, hätte unvermeidbare Nebenwirkungen. Genau aus diesem Grund vertritt die russische Führung den Standpunkt, dass Russland solche Tests nicht als Erster durchführen wird – aber es wird diese als Reaktion durchführen, sollte jemand anderes diese zuerst ausführen. Solange die derzeitige Spannung anhält, ist davon auszugehen, dass diese Politik beibehalten wird.
Der Westen kann jedoch mit seinen Handlungen alles ändern. Wenn die Provokationen des Westens und der Druck der NATO auf Russland zunehmen, könnte die Wiederaufnahme von Tests als Folge irgendwann das kleinere Übel sein. Denn ein viel größeres Übel wäre es, wenn der Westen Zweifel an den technischen Aspekten des Einsatzes russischer Atomwaffen bekommen sollte.
Und dann könnte Russland erneut das Testgelände auf der Insel Nowaja Semlja benötigen – schließlich befindet es sich bis heute nicht umsonst in voller Bereitschaft. Ob Europa danach seine Pläne für einen weiteren "Feldzug nach Osten" überdenken wird oder nicht, ist ungewiss, aber zumindest wird man dort genau wissen, dass wir etwas haben, womit wir ihnen begegnen können.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 24. Oktober 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Alexander Timochin ist ein russischer Journalist.
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