
Lieber strahlend glücklich in Tschernobyl als von Kiews Menschenfängern in den Tod geschickt
Von Marina Achmedowa
"Ich lebe übrigens seit einem Monat in Tschernobyl", leitet ein Ukrainer einen Text in seinem Blog ein, in dem er anschließend seinen Alltag beschreibt. Er beschreibt unter anderem, wie er sich vermittels eines Solarpanels mit Strom versorgt – doch in der Sperrzone ist gerade Regenzeit, die Sonne ist weg und die Stromversorgung daher auf Sparflamme. Seinen Internetanschluss hat er in Form einer Starlink-Antenne, die er auf das moosüberwachsene Dach geworfen hat. "Funktioniert einwandfrei", teilt der Mann dem Publikum seines Blogs mit – und verhüllt beim Schießen von Bildern und bei Videoaufnahmen, auf denen man ihn selbst sehen soll, sein Gesicht vorsichtshalber mit einer Maske. Er sammelt Regenwasser in ein Auffangbecken – eine Badewanne, die mit einem schwarzen Plastiksack abgedeckt ist. Ringsum Stille, Trostlosigkeit, taubengrauer Nebel und junge Bäume – solche, die man nicht im Garten oder Haushof pflanzen würde, die sich aber ganz bis ans Haus herangeschlichen haben. Der Ukrainer fasst zusammen:
"So lebe ich im Jahr 2025 in Tschernobyl. Internet, Solarstrom – ich habe alles da."

Klar, alles ist da – aber es ist auch ein bisschen unheimlich.
Andererseits teilt der Einsiedler manchmal auch Videos über die Arbeit der ukrainischen Wehrämter, der TZK, deren Rekrutierer wahllos Männer in den Straßen fangen, um sie zum Kriegsdienst einzuziehen – und beim Zuschauen ertappt man sich bei dem Gedanken: Tschernobyl ist gar nicht schlimmer als ihre Arbeit. Eines der Videos beispielsweise, das unser Ukrainer mit der Frage "Was halten Sie von der Arbeit der TZK?" unterlegte, beginnt damit, dass Wehramtsmitarbeiter aus einem alten gelben Bus aussteigen – so alt, dass er direkt aus der Vergangenheit noch vor Tschernobyl zu stammen scheint. Sie umringen sofort einen jungen Mann in einem weißen T-Shirt und mit einem kleinen Rucksack. Wie in einem Horrorfilm ertönt ein schriller Kinderschrei, gefolgt von einer ganz hellen, hohen Frauenstimme, die ruft:
"Lauf! Renn!"
Die Menschenfänger des Militärs führen den jungen Mann zu ihrem Bus, doch direkt an der Tür dreht er sich um und rennt weg. Die TZK-Leute folgen ihm, einer fällt in eine Pfütze, der junge Mann entkommt, und die Militärkommissare kehren wie in Zeitlupe zu ihrem gelben Bus zurück. Grauenhaft!
Auch unser Einsiedler entschied also, dass die Mitarbeiter der TZK furchterregender sind als die Strahlung in Tschernobyl.
Seit dem Jahr 2024 tauchen in den ukrainischen sozialen Medien immer wieder Anzeigen auf, in denen nach einem Haus in der Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl gesucht wird. Und Stalker wie eben der unsere, der seit einem Monat dort lebt, kundschaften solche Häuser aus und schicken ihren Kunden Videos. Sie warnen jedoch vorsorglich davor, dort Öfen anzuzünden: Die ukrainischen Behörden haben bereits mindestens den Verdacht geschöpft, dass sich Tausende wehrfähige Männer in der Sperrzone verstecken. Die Menschenfänger der Wehrämter wollen sich nicht unnötig der dortigen Strahlung aussetzen und schicken zumindest zum Suchen dieser Männer Drohnen in die Tschernobyl-Zone, die Rauch aus Schornsteinen aufspüren können. Sogar das ukrainische Sozialministerium hegt den Verdacht, dass sich deutlich mehr als nur ein paar Tausend Männer in der Sperrzone verstecken – und hat darum angekündigt, dass ab dem Jahr 2025 nur noch diejenigen, die zwischen den Jahren 1986 und 1993 dort lebten, Anspruch auf Zahlungen für das Leben in kontaminierten Gebieten haben. Wer aber erst im Jahr 2024 oder 2025 dorthin zog, habe keinerlei solchen Anspruch.
Doch die Kriegsdienstverweigerer machen sich nichts daraus – und freuen sich stattdessen über die einfachen Dinge: Da gehst du raus, läufst raschelnd durch hohes, ungemähtes Gras, läufst ganz frei über ein Feld – und atmest in vollen Zügen frische Luft. Findest auch mal einen Friedhof rostiger Fahrzeuge, die die Tschernobyl-Dekontaminierungsmannschaften zurückgelassen hatten – setzt dich kurz ans Steuer eines der Fahrzeuge und denkst dir: Das ist besser, als tot in einem ausgebrannten Militärfahrzeug zu liegen. Findest vielleicht auch ein gut erhaltenes Haus. Ziehst an der Türklinke, die mit Spinnweben bedeckt ist. Gehst hinein, siehst einen Ofen, ein schönes Sofa, einen Teppich an der Wand, Ikonen und bestickte Vorhänge. Lässt das Gefühl auf dich wirken, als wären die Hausbewohner gerade eben erst hier gewesen. Man kann selbst in so einem Haus wohnen bleiben – oder es an einen anderen Kriegsdienstverweigerer verkaufen.
Du kannst hier den ganzen Tag dem Regen lauschen – es ist jetzt ja Herbst. Kannst den nahenden Nebel beobachten – obwohl er furchterregend ist, obwohl es scheint, als könnten die Geister der Vergangenheit jeden Moment daraus hervortreten … Doch solange es nicht die TZK-Mitarbeiter sind, ist alles gut. Du kannst alte Fotoalben durchsehen, zurückgelassen von Besitzern, die vor der Strahlung geflohen sind, Bilder von den Kindern anderer Leute, von den Hochzeiten anderer Leute. Und davon träumen, dass all dies eines Tages auch Teil deines Lebens sein wird – deines Lebens, das du dir von den Wehrämtern und Kiews Krieg nicht hast nehmen lassen. Dort kannst du die Luft der Freiheit atmen – und selbst, wenn sie auch strahlendes Material trägt, zeigt die ukrainische Realität doch, dass selbst die vergiftete Luft der Freiheit süßer ist als die Unfreiheit.
Übersetzt aus dem Russischen. Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegram-Kanal nachlesen.
Diesen Kommentar verfasste sie exklusiv für RT.
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