
Alternative zum Nobelpreis: Wie "Interlection" aussehen soll

Von Igor Karaulow
Die für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises zuständige Schwedische Akademie hat in diesem Jahr wieder eine trickreiche Entscheidung getroffen. Zum Laureaten wurde László Krasznahorkai. Auf den ersten Blick scheint die Wahl ganz normal zu sein – ein Bürger von Ungarn, das Russland nicht besonders feindlich gesonnen ist. Manch einer in Russland wird ihn durch Filme des Arthouse-Regisseurs Béla Tarr kennen, die auf Grundlage seiner Bücher gedreht sind.
Blickt man allerdings etwas tiefer, sehen wir einen typischen Kulturoppositionellen vor uns, der Viktor Orbán verabscheut, allseits die Ukraine unterstützt und Russland verurteilt. Kurz, wir haben schon wieder mit einer politisch motivierten Entscheidung zu tun: Irgendjemand will an Ungarn auch durch die Förderung von solchen literarischen Autoritäten rütteln. Das ist dermaßen wenig neu, dass es nicht einmal interessant ist, sich darüber aufzuregen.
Interessanter ist eine andere Frage: Wieso warten wir gespannt auf die Entscheidung von irgendwelchen schwedischen Akademikern und diskutieren danach eine weitere Lottokugel, die von ihnen ausgeschüttet wird? Gibt es denn in anderen Ländern keine Akademiker, die des Bücherlesens mächtig sind? Haben Akademiker in Nigeria, Argentinien oder Pakistan vielleicht auch etwas zur modernen Literatur zu sagen? Wenn schließlich die Rede vom Geld ist, die dem Preis ein besonderes Gewicht verleiht, so ist ein Nobelpreis weniger als eine Million Euro wert – eine Summe, die sowohl für den Haushalt vieler Staaten als auch für einzelne Mäzene durchaus zu stemmen ist.
Kein Wunder, dass auf die jüngste Nobelpreisverleihung gleich Vorschläge zur Stiftung eines alternativen Preises folgten. Nicht zum ersten Mal trat mit einem solchen Vorschlag der Schriftsteller Sachar Prilepin auf. Der Kern des Vorschlags besteht darin, gemeinsam mit China, Indien, Lateinamerika und "normalen Menschen in Europa" ein Pendant zu Nobelpreis, Oscar und sonstigen Formen von kulturellen Hierarchien zu schaffen.
Möglicherweise könnte Prilepin diesmal gehört werden. Immerhin haben wir bereits Erfahrung bei der Durchführung des Musikwettbewerbs Intervision. Warum sollte es da keine "Interlection" geben?

Doch eine Alternative um der Alternative willen wäre eine falsche Herangehensweise. Lohnt sich die Stiftung eines neuen Preises nur, weil der existierende regelmäßig an "die Falschen" verliehen wird? Darin läge ebenfalls eine gewisse Abhängigkeit und Nachahmung. Bevor entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, sollte die Ideologie eines solchen Preises geklärt werden: Wozu die ganze Hektik und Geldzuweisungen?
Die Preisträger stehen oft im Widerspruch zu ihren Heimatländern
Zunächst sollte die Ideologie der schwedischen Akademiker formuliert werden, die Literatur-Nobelpreisträger auswählen, oder des norwegischen Nobelkomitees, das eine weitere "humanitäre" Auszeichnung, den Friedensnobelpreis, verleiht. In beiden Fällen herrscht ein Prinzip: die Festigung der kulturellen und politischen Hegemonie des Westens. Ausgezeichnet werden Menschen und Institutionen, die den Zielen des Westens dienen und dem Erbe des Westens treu sind.
Gerade deswegen tritt die Auswahl der Preisträger so oft in Widerspruch zur öffentlichen Meinung in deren Herkunftsländern. So vertritt etwa Swetlana Alexijewitsch nicht die Mehrheit des weißrussischen Volkes, Orhan Pamuk ist in der Türkei unbeliebt, und László Krasznahorkai scheint in Ungarn gar nicht so populär zu sein. Würde der Nobel-Areopag die russische Literatur einer Beachtung würdigen, wäre die Wahl selbstverständlich auf jemanden unter den ausländischen Agenten, wie etwa Ljudmila Ulizkaja, gefallen.
Indessen wird der Nobelpreis zu einer der wenigen, wenn nicht der einzigen Quelle von Literatur anderer Länder. Daher kennt selbst ein gebildeter moderner russischer Leser unter den türkischen Autoren Pamuk und niemanden sonst. Aus Ungarn werden wir wohl auch allein Krasznahorkai kennen.
Das neue Weltparadigma, das wir oft als "multipolare Welt" bezeichnen, wird gleichzeitig in unterschiedlichen Ländern und auf unterschiedlichen Grundlagen geboren und entwickelt sich auf unterschiedlichen Wegen. Neues wächst überall, und es ist wichtig, es zu sehen, zu beschreiben und zu begreifen. Doch gerade das tut ein Schriftsteller. Und die Literatur erscheint mir als ein wichtiges Instrument zum Austausch von Ideen. Das Ziel dieses Austauschs soll keine Gleichschaltung, sondern eine Synchronisierung von Kulturen werden. Der globale Preisverleihungsprozess könnte zu einer Achse werden, um die ein solcher Austausch aufgebaut wird.
Diese Ideologie diktiert einen weiteren Unterschied des hypothetischen alternativen Preises vom Nobelpreis. Richtet sich der Nobelpreis vor allem an ältere, verdiente Autoren, die für die Gesamtheit ihrer Verdienste ausgezeichnet werden, sollte sich dessen Analogon auf jene orientieren, die hier und jetzt neue kreative Welten erschaffen.
Nein, die Rede ist nicht von literarischen Luftschlössern. Ich verstehe, dass es nicht ausreichen wird, im Rahmen der BRICS die Stiftung eines Preises, die Gründung eines Preiskomitees und die Auswahl einer Jury zu vereinbaren. Stellen Sie sich vor, wie viele Texte in wie vielen Sprachen dazu gelesen und übersetzt werden müssten, damit diese internationale Jury ein qualifiziertes Urteil fällen könnte.
In Russland wäre es dazu notwendig, die Übersetzungsschule wiederaufzubauen, die in der Sowjetunion existierte. Das ist kein einfaches Unterfangen, doch es ist notwendig, sich in diese Richtung zu bewegen, um nicht aus dem sich schnell formierenden neuen Weltkontext herauszufallen. Andernfalls wird dieser Kontext ohne uns gewoben.
Überhaupt wäre es logisch, wenn ausgerechnet Russland die führende Rolle bei der Entwicklung neuer kultureller Hierarchien übernehmen würde. Zumindest im Bereich der Literatur wäre eine russische Führung durchaus begründet. Immerhin sind wir das Land Tolstois, Dostojewskijs und Tschechows. Dieses Erbe soll der Sache der Entwicklung einer multipolaren Zukunft dienen. Auch neue Inhalte für die ganze Welt entstehen heutzutage unter anderem in Russland, das in eine offene Konfrontation mit dem Westen und der von ihm diktierten Weltordnung getreten ist. Heute werden Literaturpreise in Tolstois Landgut Jasnaja Poljana vom südkoreanischen Konzern Samsung verliehen, während sich dort der Hauptsitz unseres Nobelpreises befinden könnte.
Wir in den BRICS-Staaten brauchen auch unseren eigenen Friedenspreis oder, im breiteren Sinne, den Preis für den Dienst an der Menschheit. Der Kampf um "Demokratie" oder "Menschenrechte" in deren westlichen Auslegung darf nicht zum Kriterium für die Verleihung eines solchen Preises werden. Ein Mensch, der die Konsumgesellschaft und die Dehumanisierung herausforderte, wäre dagegen eines solchen Preises würdig.
Sowohl Russland als auch die Länder des Globalen Südens und Ostens sind in kultureller Hinsicht stark genug, um das symbolische Joch der Preisverleihungen westlicher Institutionen wie der des Nobelpreises abzuwerfen. Man muss sich nur entscheiden und diesen Weg konsequent beschreiten.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei der Zeitung Wsgljad am 17. Oktober.
Igor Karaulow ist ein russischer Dichter und Publizist.
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