
Seeblockade gegen die Russische Föderation: Kommt Russlands Pearl-Harbor-Moment?

Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Man schreckt unwillkürlich zurück, das imperialistische Japan der 30er- und 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der heutigen Russischen Föderation zu vergleichen. Zu unterschiedlich sind beide Staaten in Bezug auf Motivation und Durchführung der Kriegsführung. Das Massaker von Nanking mit Hunderttausenden Toten und andere japanische Kriegsverbrechen wie die grauenhaften Menschenversuche bei der Entwicklung eines eigenen Biowaffenprogramms für das Kaiserreich sind schließlich weltweit bekannt. Und Russland hat auch kein Meer überquert, um auf dem asiatischen Kontinent ein fremdes Volk zu unterjochen, sondern wurde in einen vom Westen angezettelten Bürgerkrieg innerhalb der postsowjetischen Welt verstrickt.
Nein, die Vergleichsebene liegt vielmehr im Vorgehen des Westens gegenüber Ländern, die entweder Systemkonkurrenten darstellen oder sich der Eingliederung in seinen Herrschaftsbereich verweigern. Wie das antike Rom nimmt auch der Wertewesten für sich in Anspruch, nur Verteidigungskriege zu führen. In seiner Selbstwahrnehmung agiert der Westen niemals aggressiv, sondern verteidigt sich nur oder schützt humanitäre Werte. Notfalls wird dem zu bekämpfenden Staat beispielsweise der Besitz von Chemiewaffen unterstellt. Oder man rechtfertigt sein Eingreifen mit der Bekämpfung des Drogenhandels. Aus westlicher Sicht ist es natürlich ideal, wenn man durch eine Einkreisungspolitik, die die Handlungsmöglichkeiten immer weiter einschränkt, den Gegner dazu bringen kann, in einer Verzweiflungstat als Erster zuzuschlagen. Die empörte Öffentlichkeit sieht dann – auch dank strenger Medienzensur im Westen – nur noch den Angriff, nicht die Vorgeschichte des Konflikts.

Im Jahr 1941 verhängten die USA und ihre Verbündeten ein Öl-Embargo gegen Japan, das zuvor Flugplätze im besetzten Französisch-Indochina besetzt hatte. Auch die japanischen Vermögenswerte wurden eingefroren. Das schädigte Japans Außenhandel stark. Da das rohstoffarme Land damals wie heute extrem auf den Import fossiler Brennstoffe angewiesen ist, blieb der japanischen Führung nur noch ein Zeitraum von wenigen Monaten, bis die Ölreserven aufgebraucht waren. Japan begann mit den Kriegsvorbereitungen und zugleich mit Verhandlungen mit den USA, den größten Öllieferanten des Inselreiches. Im Angebot war ein teilweiser Rückzug der Japaner aus China. Letztendlich scheiterten die Verhandlungen.
Die Amerikaner hatten von den japanischen Angriffsplänen Wind bekommen und durch das Knacken des Verschlüsselungscodes des japanischen Außenministeriums zugleich das Ausmaß der japanischen Verhandlungsbereitschaft aufgedeckt. Die Folge war die sogenannte Hull-Note, deren weitgehende Forderungen der japanische Premierminister Hideki Tojo als Ultimatum zur Unterwerfung Japans auffasste. Wichtig in diesem Zusammenhang ist nicht, ob die US-amerikanischen Forderungen akzeptabel waren oder nicht, sondern dass die Führung in Tokio Ende November 1941 keine andere Handlungsoption mehr sah, als den US-amerikanischen Pazifikhafen Pearl Harbor anzugreifen.
Nun ist Russland im Gegensatz zu Japan kein rohstoffarmes, sondern vielmehr ein rohstoffreiches Land. Und dennoch ist Russland genauso von Rohstoffen abhängig wie damals die Japaner. Und zwar durch seine Öl- und Gas-Exporte, die einen beträchtlichen Teil des russischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen und fast 60 Prozent der Exporteinnahmen stellen (Angaben aus dem Jahr 2023). Gelänge es dem Wertewesten, diese Exporte ganz zu stoppen oder zumindest stark einzuschränken, hätte das erhebliche Auswirkungen auf den russischen Staatshaushalt, trotz aller Versuche, sich unabhängiger von den Rohstoffeinnahmen zu machen oder sich neue Exportmärkte zu erschließen. Das ist der wahre Hintergrund des westlichen Vorgehens gegen die sogenannte russische Schattenflotte, nicht Umweltbedenken oder die Angst vor Sabotage an Unterseekabeln. Russland soll es unmöglich gemacht werden, die mittels der Deckelung des Rohölpreises verhängten Sanktionen zu umgehen.
Diese Einkesselungsstrategie hat natürlich auch eine militärische Komponente. Die Ostsee gilt immer mehr als reines NATO-Meer, in dem russische Schiffe (oder Schiffe, die russische Güter tragen) nichts verloren haben. Im Mai dieses Jahres versuchten estnische Marinesoldaten mit der Unterstützung polnischer Kampfjets, den Tanker "Jaguar" zu kapern, der auf dem Weg nach Russland war. Dieser Akt der Piraterie scheiterte nur, weil ein russischer Kampfjet der bedrängten Mannschaft des Tankers zu Hilfe kam. (RT DE berichtete). Und Anfang Oktober 2025 zwang dann die französische Marine den Öltanker "Pushpa", der russisches Öl transportiert haben soll, zu einer Kursänderung – der Übergriff erfolgte ebenfalls in internationalen Gewässern und war diesmal von Erfolg gekrönt. Je öfter sich solche Vorfälle häufen, desto schwieriger wird es für Russland, seine fossilen Brennstoffe in die Empfängerländer zu transportieren. Nicht immer gelingt es ihm, die Schiffe der "Schattenflotte" militärisch zu schützen.
Oder wie es NATO-Generalsekretär Mark Rutte auf der Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung des Militärbündnisses bezüglich der "Schattenflotte" formulierte: "Natürlich haben wir das Völkerrecht, das Seerecht und UNCLOS und so weiter, aber es gibt viel, was wir tun können, um es ihnen schwer zu machen. Und diese ganze Baltic Sentry an sich verursacht Russland bereits Kosten, weil sie diese Schiffe der Schattenflotte stärker schützen müssen als in der Vergangenheit. Sie müssen darüber nachdenken. Es kommt eine logistische Ebene hinzu, die sie nicht wirklich beherrschen, was ihnen sehr wehtut." Rutte nahm dabei Bezug auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den er mit den Worten zitierte: "Dies sollte eine neue Priorität für uns in Europa und in der NATO sein, gemeinsam alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Russen diese entscheidende Geldquelle abzuschneiden."
Rutte forderte, nun die nächsten Schritte bezüglich der "Schattenflotte" einzuleiten. Mit seiner Äußerung nahm der NATO-Generalsekretär offensichtlich eine Steigerung der Konfrontation in Kauf, denn das Vorgehen des Militärbündnisses gegen Russlands Handel ist im weitesten Sinne illegal. Der Zweck rechtfertigt die Mittel. Und der Zweck ist ganz klar die Vollsperrung Russlands in der Ostsee, die für Russland inakzeptabel ist. Mit allen damit implizierten Gefahren einer Eskalation.
Diese Gefahr nimmt die NATO offenbar gerne in Kauf. Mehr noch, es gibt Anzeichen dafür, dass dies gewollt ist. Eine weitere Äußerung, die Rutte bei der eben zitierten Pressekonferenz tätigte, lässt jedenfalls tief blicken:
"Wir vergessen nicht, dass ein Krieg, sollte es jemals dazu kommen – hoffen wir, dass es nie dazu kommt –, aber wenn die Russen so idiotisch wären, uns anzugreifen, und es zu einem vollständigen Krieg zwischen Russland und der NATO käme, dann wird das anders als der derzeitige Krieg zwischen Russland und der Ukraine sein. Er wird aus vielen Gründen anders sein, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, weil wir (die Russen) nicht schlauer machen wollen."
Bemerkenswerterweise wechselte Rutte innerhalb eines Satzes über die Perspektiven eines NATO-Russland-Krieges im englischen Original von Konjunktiv (would) ins Indikativ (will). Hat der Generalsekretär uns hier schon das angestrebte Szenario einer Nötigung Russlands zum Krieg skizziert?
Einer Seeblockade kommt in diesem Szenario eine Schlüsselrolle zu. Denn auch das Schwarze Meer ist für Russland so gut wie gesperrt. Die zivile Schifffahrt leidet ohnehin unter den Kampfhandlungen, und solange der Ukraine-Krieg dauert, dürfen russische Kriegsschiffe die türkischen Meerengen gemäß dem Vertrag von Montreux nicht mehr durchfahren. Damit bleibt noch die Arktisroute. Sie ist durch den Klimawandel zunehmend länger befahrbar. Erst kürzlich transportierte ein chinesisches Schiff zum ersten Mal Fracht durch die Nordostpassage in Richtung Europa. Die Region ist für Russland auch militärisch wichtig. In Murmansk, einer Küstenstadt am Nordpolarmeer, liegt ein wichtiger Stützpunkt der russischen Nordflotte. Bereits im Zweiten Weltkrieg war die Gegend um Murmansk hart umkämpft, denn dort verlief die zeitweise einzige Schifffahrtsroute, auf der die Alliierten die Sowjetunion mit Waffen versorgen konnten. Die deutsche Kriegsmarine unternahm deshalb auch im Sommer 1942 das Unternehmen Rösselsprung, um einen alliierten Konvoi abzufangen.
Auch dieser nördliche Zugang Russlands zum Atlantik ist wieder in Gefahr. Konstatiert hatte dies bereits Anfang des Jahres Rudolf Hermann in einem Artikel für die NZZ (hinter Bezahlschranke). Für ihn war bereits damals die Barentssee zu einem militärstrategischen Hotspot geworden. Denn nicht nur die berühmte GIUK-Lücke aus dem Kalten Krieg, ein strategischer Engpass, der von der dänischen Insel Grönland über Island bis nach Großbritannien reicht, bietet eine Möglichkeit, den Zugang zum Atlantik zu kontrollieren oder zumindest Durchbrüche zu überwachen und die feindlichen Schiffe zu verfolgen. Weniger bekannt, aber militärstrategisch womöglich noch bedeutender ist die sogenannte Bären-Lücke, platziert zwischen Spitzbergen, der Bäreninsel und dem Nordkap. Dieses Seegebiet müssen sowohl Frachter als auch die russische Marine durchfahren, um auf den Atlantik zu gelangen.
Bemerkenswert ist, wie sehr sich die Bundesrepublik Deutschland neuerdings für die Arktis interessiert, ein Land, das eigentlich nicht als Arktis-Anrainer bekannt ist. Nicht mehr nur der Indopazifik, sondern auch die Arktis und der Nordatlantik gelten dem Ministerium der Verteidigung als eine für Deutschland strategisch wichtige Region. Bei einem Besuch auf Grönland erklärte im Sommer der Parlamentarische Staatssekretär Nils Schmid (SPD) ganz unumwunden: Man dürfe einzelne Regionen nicht isoliert betrachten, sondern müsse sie als zusammenhängenden Konfliktraum vom Schwarzen Meer bis zum Nordatlantik erkennen. Vorgeblich kümmert sich Deutschland natürlich um die Arktis, um sie vor Russlands Herrschaftsanspruch zu schützen und die Seehandelswege freizuhalten (!). Einer Erläuterung, wessen Handelswege Russland in der Arktis denn bedroht, blieb Schmid schuldig. In seinem eigenen Herrschaftsanspruch auf Seegeltung ist Deutschland im Oktober derweil weiter vorangeschritten.
Vergangenen Sonntag war Verteidigungsminister Boris Pistorius auf der Atlantikinsel Island. Er vereinbarte dort mit der isländischen Außenministerin (Island hat kein eigenes Militär), dass Island künftig als Anlaufpunkt für deutsche Kriegsschiffe, U-Boote und Versorgungsschiffe dienen werde (RT DE berichtete). Deutsche Seefernaufklärer vom Typ P-8A Poseidon (konzipiert für die U-Boot-Jagd) sollen ebenfalls auf der Vulkaninsel stationiert werden. Diese Militarisierung soll angeblich auch dem Schutz Islands vor hybriden Angriffen dienen. Schon im vergangenen Jahr wurden auf der Insel Befürchtungen laut, russische Sabotageakte an Unterseekabeln könnten die Isländer vom Rest der Welt abschneiden. Auch die deutsche Rüstungskooperation mit dem Arktisanlieger Kanada will Pistorius vorantreiben. Das deutsche Verteidigungsministerium postete denn auch prompt eine Karte der GIUK-Lücke auf seiner Homepage mit möglichen beiderseitigen Angriffsrichtungen.
Auffälligerweise sind es nicht die USA, die trotz aller zuweilen erratischer Äußerungen aus dem Munde Präsident Donald Trumps und mancher Sanktionsforderung seiner Administration den Konflikt mit Blockade-Plänen gegen Russland weiter anschüren. Trump bemüht sich nicht nur um einen Friedensgipfel mit dem russischen Präsidenten in Budapest, mittlerweile werden auch Pläne bekannt, die Beringstraße, also die Meerenge zwischen Russland und den USA, mit einem Tunnel zu überbrücken. Zumindest zeigt sich Trump gegenüber dem Vorschlag des russischen Staatsfonds-Chefs Kirill Dmitrijew nicht völlig abgeneigt. Ein vielversprechendes Projekt, das auf eine friedliche gemeinsame Erschließung der Schätze der Arktis statt auf das Isolieren Russlands setzt, auch wenn Skeptiker wie der geostrategische Analyst Juri Podoljaka auf die damit verbundenen mannigfachen Schwierigkeiten und Risiken hinweisen. Aber ganz offensichtlich ist dies nicht der Weg, den NATO-Europa und seine außereuropäischen Verbündeten (darunter insbesondere Kanada) gehen wollen. Sie hoffen immer noch, sich die russischen Bodenschätze ohne Kooperation mit dem ihnen verhassten Land aneignen zu können. Ihre Blockade-Pläne gegenüber Russland sind – selbst falls sie technisch machbar sind (was auch nicht ganz sicher ist) – völlig aus der Zeit gefallen. Mit Kooperationsdenken in einer globalisierten Welt haben sie nichts mehr zu tun, sondern erinnern an die Zeiten der beiden Weltkriege mit Dutzenden Millionen Toten.
Der Plan einer Vollsperrung Russlands grenzt damit ganz klar an verbrecherisches Hasardieren. Russland agiert derzeit noch sehr defensiv, es will offensichtlich eine Ausweitung des Konflikts vermeiden. Sollte das Land jedoch zu sehr in die Enge getrieben werden, könnte es sich zu einem verzweifelten Befreiungsschlag getrieben sehen. Verantwortliche im Wertewesten, die noch einen Funken Restvernunft besitzen, sollten ein solches Szenario unbedingt zu verhindern suchen. Im Gegensatz zu Japan ist die Russische Föderation eine Atommacht.
Mehr zum Thema – EU bereitet 19. Sanktionspaket vor – USA und Russland wollen wirtschaftlich kooperieren
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

