Meinung

Die Zeit der Piraten

Wenn es nach den deutschen Medien geht, wurde da die Gaza-Flotille "gestoppt", und vor der französischen Küste "Putins Tanker". Alles ganz unschuldig. Alles in Ordnung. Kann man ja mal machen, Schiffe anhalten. So sieht es das Seerecht allerdings nicht.
Die Zeit der Piraten© Global Sumud Flotilla

Von Dagmar Henn

Es sind zwei unterschiedliche Ereignisse an unterschiedlichen Orten, aber sie eint ein ähnliches Vorgehen. Und, dass die westlichen Medien diese Ereignisse gleichermaßen falsch berichten, nämlich nicht als die Rechtsverletzungen, um die es sich dabei handelt.

Der eine Fall sind die Schiffe der Gaza-Hilfsflotte, die inzwischen fast alle von Israel aufgebracht wurden. Das wird noch getreulich berichtet. Auch, dass die Menschen, die auf diesen Schiffen waren, von der israelischen Armee gefangen genommen wurden, nach Israel gebracht und von dort dann abgeschoben werden sollen. Aber die entscheidende Information in diesem Zusammenhang fehlt: in internationalen Gewässern.

Genau so verhält es sich auch mit dem Tanker Boracay, der derzeit in der Bucht von Biscaya ankert, nachdem das Schiff geentert und der Kapitän festgenommen wurde. Dem Kapitän wird übrigens vorgeworfen, er sei, so formuliert es der Spiegel, einer "behördlichen Anordnung" nicht gefolgt. Auch hier: Das französische Militär enterte den Tanker, als er sich in internationalen Gewässern befand. Als Begründung dient der Vorwurf, von diesem Schiff seien Drohnen gestartet worden, die angeblich in Dänemark vor einigen Tagen den Flugverkehr zum Stillstand gebracht hätten.

Der Witz an der Geschichte: Auf diesem Schiff ist noch nicht einmal eine russische Mannschaft ‒ der Kapitän und sein erster Offizier sind Chinesen. Der 18 Jahre alte, in Japan gebaute Tanker (IMO 9332810) befand sich auf dem Weg von Primorsk nach Indien und transportierte russisches Öl. Ansonsten fährt er derzeit unter der Flagge von Benin. Das Schiff hat seit 2013 viermal den Besitzer gewechselt und sechsmal das Management, aber das ist kein Skandal. Es hat ein leicht unterdurchschnittliches Alter (das Durchschnittsalter der Öltanker weltweit beträgt 19,5 Jahre), ist mit Sicherheit nicht in London versichert, aber ein gewöhnliches, solides Schiff, dessen letzte Namen an einen indischen Eigner denken lassen (für viel Geld könnte man das auch nachsehen).

Der einzige Grund, warum der Besatzung des Tankers vorgeworfen wird, irgendwelche Drohnen gestartet zu haben, ist, dass sich die EU über den Kauf russischen Öls durch Indien ärgert und der französische Präsident Emmanuel Macron immer tiefer in der Staatskrise versinkt und vielleicht denkt, mit so ein klein wenig Piraterie könne er sein Image verbessern. Schließlich hatte er in Kopenhagen auf dem EU-Gipfel vorgeschlagen, "das Geschäftsmodell zu zerstören, indem man diese Schiffe für ein paar Tage oder Wochen festhält", und offenbar gleich beschlossen, diese Gedanken in die Tat umzusetzen.

Ja, das ist das Wort, das die beiden Ereignisse verknüpft: Piraterie. Wobei es dann besonders dreist ist, dem Kapitän der Boracay auch noch zum Vorwurf zu machen, nicht auf die französischen Piraten gehört zu haben, die, wenn es nach dem internationalen Seerecht geht, froh sein dürfen, nicht unter Feuer geraten zu sein.

Wobei natürlich sogar der Begriff Piraterie noch verharmlost. Nach Artikel 110 der Seerechtskonvention gibt es nur drei denkbare Gründe, die Kontrolle über ein Schiff in internationalen Gewässern zu übernehmen: Es besteht ernstlicher Grund zur Annahme, dass das Schiff Seeräuberei oder Sklavenhandel betreibt, oder dass es der Nationalität des kapernden Staates angehört, aber falsch beflaggt ist.

Französisch ist die Boracay aber wohl eher nicht. Also gibt es keine Rechtsgrundlage für diesen Angriff, was übrigens exakt so auch für die Schiffe der Gaza-Flotte gilt. Und jetzt, warum der Begriff Piraterie sogar noch verharmlost: Davon spricht man bei privaten, kommerziellen Akteuren. Wenn dieselbe Handlung, also die unrechtmäßige Übernahme der Kontrolle über ein fremdes Schiff, von einem Staat begangen wird, dann ist das eine Kriegshandlung. Und zwar ‒ das ist der einzige Grund, warum das nicht sofort eskaliert ‒ gegen den Flaggenstaat.

Im Falle der Boracay also gegen Benin. Im Falle der Global Sumud Flotilla ist das Angebot an Flaggenstaaten groß: die Alma, das Flaggschiff, lässt sich anhand ihrer MMSI-Nummer als britisch identifizieren, die Adagio als spanisch, so wie auch die Adara, die All In als französisch, die Aurora als italienisch, die Mohammad Bar als niederländisch, die Seulle verweist auf San Marino. Nach Angaben der Flotilla selbst sind auch noch mehrere Schiffe unter polnischer Flagge, eins unter algerischer und sogar eins, die Catalina, unter deutscher Flagge beteiligt.

All diese Schiffe, so klein sie auch sind, sind Territorium des Flaggenstaats. Die israelische Armee hat also durch das Kapern dieser Schiffe einen Kriegsakt gegen Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, die Niederlande und San Marino begangen. Die Menschen auf diesen Schiffen wurden nicht festgenommen, sie wurden entführt. So, wie das auch die Piraten vor Somalia zu machen pflegten. Das erklärt auch, warum die Schiffe der spanischen und italienischen Marine längst nicht mehr in der Nähe der Flotilla waren ‒ sie hätten womöglich auf diesen israelischen Angriff reagieren müssen.

Hätten sie die israelische Marine unter Feuer genommen, wäre das vom Völkerrecht gedeckt gewesen. Sie haben sich lieber zurückgezogen und die Kriegshandlung geschehen lassen. Ein Schiff, die in Frankreich registrierte Mikeno, hat übrigens als bisher einziges Schiff der gesamten Flotille die Hoheitsgewässer vor Gaza erreicht. Die Global Sumud Flotilla berichtete, es gebe keinen Kontakt mehr, hat aber inzwischen die Kennzeichnung auf "vermutlich abgefangen" geändert.

Die Besatzungsmitglieder der aufgebrachten Schiffe sollen, so die Presseerklärung der Flotilla, auf das Containerschiff MSC Johannesburg gebracht worden sein, ein 23 Jahre altes Gefährt, das in seiner Jugend einmal der Großreederei Maersk gehörte und aktuell gerade auf dem Weg in den israelischen Hafen Aschdod ist. Übrigens eine interessante Frage, wie sich der Flaggenstaat Liberia dazu verhält, an diesen Entführungen beteiligt worden zu sein, wenn die Angabe mit der MSC Johannesburg stimmt.

"Das ist eine widerrechtliche Entführung, in direkter Verletzung des Völkerrechts und grundlegender Menschenrechte. Humanitäre Schiffe in internationalen Gewässern abzufangen ist ein Kriegsverbrechen", heißt es ‒ rechtlich zutreffend ‒ in der Presseerklärung.

Gestern hatte es im Funk einen Wortwechsel zwischen einem Mitglied der Flotilla und einem Angehörigen der israelischen Armee gegeben. "Der internationale Gerichtshof", so der Brasilianer Thiago Avila, "entschied in seinem vorläufigen Beschluss, dass jeder Versuch, eine humanitäre Mission nach Gaza zu behindern, nach dem Völkerrecht verboten ist."

Die Begründungen, warum diese kriegerischen Handlungen erfolgen, sind eigentlich völlig irrelevant, weil sie an der Rechtslage nichts ändern. Frankreich hat mit der Kaperung des Tankers nur bewiesen, dass es ebenso illegal zu handeln vermag, wie man das von Israel schon lang gewöhnt ist. Wobei die Begründung für den Angriff der französischen Marine, die Euronews liefert, durchaus Unterhaltungswert hat: "Laut der französischen Marine führte das Schiff verdächtige Manöver durch und bewegte sich in einem Bereich nahe den französischen Hoheitsgewässern in Kreisen." Und wenn es Vierecke oder Sterne gewesen wären ‒ internationale Gewässer bleiben internationale Gewässer...

Immerhin, der Angriff auf die Global Sumud Flotilla hat noch andere Folgen. Dass das Auswärtige Amt auf die Kaperung eines Schiffes unter deutscher Flagge nicht mehr zustande bringt, als "bitte bitte" für die Sicherheit der Besatzungen zu machen, ist keine Überraschung. Aber die größte italienische Gewerkschaft hat zu einem Generalstreik aufgerufen ‒ das, nachdem jüngst die Hafenarbeiter von Genua die Abfertigung von Waffenlieferungen nach Israel verweigerten. Und Kolumbien hat die diplomatischen Kontakte zu Israel abgebrochen.

Wird die Kaperung der Boracay Folgen haben? Wenn sich Macrons Idee, künftig alle Schiffe, die russisches Öl nach Indien oder China transportieren, auf diese Weise zu behandeln, weiter verbreitet, verblieben zwei Möglichkeiten: militärische Begleitung oder bewaffnetes Personal auf den Schiffen. Nach dem Seerecht ist es legal, sich gegen Piraten zur Wehr zu setzen. Das fällt unter Notwehr. Wenn es ein Staat ist, der das versucht, ist es ebenso legal, nennt sich aber dann Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff.

Es wird auf Dauer nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Weil das, was da versucht wird, eine massive Erosion des Völkerrechts darstellt. Würden alle so handeln, wäre der internationale Seehandel tot. Ein regelloser Akteur wie Israel, das geht vielleicht eine Zeit lang gut. Aber je länger die Liste wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Konfrontationen eskaliert. Oder dass eben Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Es hat schon seinen Grund, dass im ganzen Kontext dieses "Schattenflotte"-Märchens mal hier, mal da ein Nadelstich erfolgt, jetzt eben in Frankreich. Gleich, wie sehr man die Erzählung aufhübscht, es bleibt ein kriegerischer Akt. Es ist die Zeit der Piraten.

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