
Eine "islamische NATO" wird es niemals geben

Von Sergei Lebedew
Die moderne Theorie der internationalen Beziehungen gelangt allmählich zu der Erkenntnis, dass das politische System der Welt weniger auf die Aufrechterhaltung eines Kräftegleichgewichts als vielmehr auf die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts der Bedrohungen abzielt – einfacher ausgedrückt: Staaten verbünden sich nicht gegen den Stärksten, sondern gegen den Gefährlichsten. Das Konzept des "Gleichgewichts der Bedrohungen" ist eine der Schlüsselideen von Stephen Walt, dem nach John Mearsheimer zweitwichtigsten Theoretiker des Neorealismus.
Aus Sicht dieser Konzeption scheint die Schaffung einer "islamischen NATO" tatsächlich ein sich allmählich abzeichnender Trend zu sein. Die jüngsten Aktionen Israels – die Angriffe auf Doha – haben alle arabischen Regierungen dazu veranlasst, sich die Frage zu stellen, wer das nächste Opfer eines israelischen Angriffs wird. Katar ist einer der engsten "Verbündeten" der USA in der Region; unweit von Doha befindet sich der US-Luftwaffenstützpunkt Al Udeid, der von der US-Luftwaffe als ständiger Stützpunkt genutzt wird. Mit anderen Worten: Doha schien der unwahrscheinlichste Kandidat für einen israelischen Angriff zu sein, insbesondere, weil gerade wieder Gespräche über einen Waffenstillstand im Gange waren. Die komplexen Beweggründe des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahus verdienen eine gesonderte Betrachtung, aber eines der offensichtlichen Ergebnisse seines Handelns ist die allmähliche Verwandlung Israels in eine existenzielle Bedrohung für die Regime im Nahen Osten. Die Liga der Arabischen Staaten und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit verurteilten den Angriff auf Doha umgehend und bezeichneten ihn als Aggression gegen alle arabischen und islamischen Staaten insgesamt. Dies könnte als ernst zu nehmender Grund für die Bildung eines militärisch-politischen Blocks gegen Israel angesehen werden.

Allerdings wird ein solches Projekt unweigerlich auf ein ernsthaftes Hindernis stoßen. Gegenwärtige Experten stellen fest, dass in der Region ein anhaltendes "Ungleichgewicht" (underbalancing) zu beobachten ist – einfacher gesagt, es bilden sich dort keine wirksamen Allianzen gegen jemanden. Der Forscher Mark Haas, Professor an der katholischen Duquesne University in Pittsburgh, der diesen Begriff in die politikwissenschaftliche Fachsprache eingeführt hat, betont, dass die Hauptursache für das Ungleichgewicht fast immer ideologische Widersprüche zwischen möglichen Verbündeten sind. Wenn die Konfrontation auf der internationalen Bühne ausschließlich zwischen zwei Doktrinen stattfindet, ist alles einfach – entweder ist man für die eine oder die andere Seite. Wenn es jedoch mehr als zwei Doktrinen gibt, wird die Definition des "Erzfeindes" zu einer schwierigeren Aufgabe. Haas ist der Ansicht, dass dies einer der Gründe war, warum sich bereits in den 1930er Jahren keine wirksame internationale Koalition gegen die Nazis bilden konnte – die angelsächsischen Staaten konnten sich nicht entscheiden, ob sie die Diskussionen über die Herrenrasse oder die wachsende internationale Autorität der Sowjetunion mehr beunruhigten. In einer solchen Situation (Konkurrenz von drei oder mehr Ideologien) entscheiden sich die meisten Politiker dafür, sich herauszuhalten, während die Vertreter der zwei anderen Doktrinen miteinander kämpfen, um dann zu versuchen, die Überlebenden zu vernichten.
Nach Ansicht des renommierten Nahostpolitik-Experten F. Gregory Gause ist in dieser Region ein anhaltendes Ungleichgewicht zu beobachten – so gelang es beispielsweise den sunnitischen Regimen (sowohl den monarchistischen als auch den bedingt demokratischen) nicht, eine wirksame Koalition gegen den schiitischen Iran zu bilden. Die Regierungen im Nahen Osten haben Probleme, die größte Bedrohung zu erkennen – zum Beispiel denkt das Königshaus von Saudi-Arabien zu Recht, dass demokratische Interpretationen des sunnitischen Islam (die zum Beispiel von der Türkei gefördert werden) sogar gefährlicher seien als das schiitische geopolitische Projekt. Die Aussicht auf innere Unruhen erschreckt die Herrscher oft mehr als eine äußere Bedrohung. Angesichts dessen scheint es sehr schwierig zu sein, dass sich islamische Regierungen auf die Schaffung eines antiisraelischen Militärblocks einigen können.
Zweifellos ist man sich dessen auch in Riad bewusst. Genau aus diesem Grund sollten die saudisch-pakistanischen Vereinbarungen nicht als erster Baustein für eine "islamische NATO" betrachtet werden, sondern vielmehr als Signal an regionale Parteien und externe Akteure, allen voran die USA.
Wie pakistanische Kollegen zu Recht bemerken, ist das Abkommen von "strategischer Unbestimmtheit" geprägt – die wichtigsten Punkte der Vereinbarung werden nicht offengelegt, und die Beamten verwenden bewusst eine zahnbrechende Bürokratensprache. Als beispielsweise ein saudischer Beamter direkt gefragt wurde, ob Pakistan seinen Atomschild auf Riad ausweiten werde, antwortete er (anstatt einfach mit "Ja" oder "Nein"), dass es sich um ein "umfassendes Verteidigungsabkommen" handele, das "alle militärischen Mittel" umfasse. Das Fehlen konkreter Angaben und die komplizierten Wortkonstruktionen sind kein bürokratischer Kretinismus, sondern eine bewusste Strategie. Da ein potenzieller Gegner weiß, dass Pakistan mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent keine Atomwaffen zum Schutz eines anderen Staates einsetzen wird, wird er immer das verbleibende ein Prozent im Hinterkopf behalten.
Abgesehen von den regionalen Akteuren ist das saudisch-pakistanische Abkommen jedoch auch ein Signal an die USA, dass sich Washington intensiver mit der Geopolitik im Nahen Osten befassen muss, wenn das Weiße Haus nicht will, dass sich seine traditionellen regionalen Verbündeten selbst organisieren. Über diese zweifellos wichtigen Aufgaben hinaus wird das Abkommen zwischen Riad und Islamabad jedoch kaum hinausgehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 30. September 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Sergei Lebedew ist ein russischer Politikwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und Strategie an der Wirtschaftshochschule Moskau.
Mehr zum Thema – Nach Bombe auf Doha: Katar fordert eine Entschuldigung Israels
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.