Meinung

Die Sprachenfrage sprengt die Ukraine von innen

Die Ukraine ist und bleibt, wie zuvor in den Jahren 1991–2013, sprachlich gespalten. Kiews Schüler, die mit russophober Maidan-Propaganda aufgewachsen sind, sprechen weiterhin untereinander Russisch.
Die Sprachenfrage sprengt die Ukraine von innenQuelle: Gettyimages.ru © SOPA Images

Von Sergei Mirkin

Jelena Iwanowskaja, die Sprachbeauftragte der Ukraine, hat erklärt, dass sie entgegen den Forderungen ukrainischer Aktivisten "entscheidende Maßnahmen" gegen die russische Sprache und russischsprachige Bürger nicht akzeptieren werde. Die Rede ist vor allem von "Sprachpatrouillen", deren Aufgabe darin besteht, auf den Straßen ukrainischer Städte Menschen aufzuspüren, die auf Russisch sprechen und sie zu "überzeugen", dies nicht zu tun. Gleichzeitig sollen jene Menschen, die Russisch im Dienstleistungssektor verwenden, identifiziert, denunziert und bestraft werden. Iwanowskaja unterstütze diesen Sprachterror nicht, weil viele Menschen gar keine Möglichkeit gehabt hätten, die ukrainische Sprache zu erlernen. Aus ihrem Interview für das Internetportal Glawkom geht hervor, dass sie in Sprachfragen für Überzeugung statt Zwang eintritt. Insbesondere berichtete Iwanowskaja, dass sie ihre jugendliche Tochter dazu überredet habe, in den sozialen Netzwerken keine Texte auf Russisch zu schreiben.

Iwanowskajas Äußerungen sind für ukrainische Maßstäbe unerhört tapfer. Doch man kann vermuten, dass sie als Sprachrohr von Selenskijs Amt auftrat – es ist zu bezweifeln, dass sie einen Konflikt mit den "Sprachaktivisten" ohne den Segen ihrer Vorgesetzten eingehen würde. Nein, Selenskij ist nicht plötzlich zu einem Demokraten und Menschenbeschützer geworden, sein Team hat schlicht Angst vor den Initiativen der ukrainischen Aktivisten bekommen. Die "Sprachpatrouillen" sollen rein theoretisch die Menschen überzeugen, sich auf Ukrainisch zu unterhalten. In der Praxis aber werden die Aktivisten, unter denen es jede Menge gewöhnliche Nazis gibt, einfach russischsprachige Menschen verprügeln und erniedrigen. Im Grunde tun sie das auch jetzt schon. Aber später wird sich dann diverser Abschaum hinzuschalten, der den Patrouillen gar nicht angehört, und einfach unter dem Vorwand des Kampfes für die ukrainische Sprache Menschen verprügeln.

Im Jahr 2022 wurden in der Ukraine Menschen angeblich wegen Diebstahls an Pfähle gebunden. Im Falle der Schaffung und Entwicklung eines Instituts für "Sprachpatrouillen" wird sich diese Situation selbstverständlich wiederholen, allerdings werden diesmal die russischsprachigen Bürger die Opfer sein. Und das wird sicherlich nicht unbeantwortet bleiben: Die Menschen, die Russisch sprechen, werden sich vereinigen und die Sprachaktivisten angreifen. Dies wird zu einem Krieg auf den Straßen ausarten – vor allem in den russischsprachigen Regionen, zu denen auch Kiew gehört. Traditionell ukrainischsprachige Städte werden ebenfalls nicht im Abseits bleiben – Nationalisten aus Lwow und Iwano-Frankowsk klagen bereits in den sozialen Netzwerken darüber, dass viele russischsprachige Menschen aus anderen Regionen in die Städte eingereist seien und sich weigerten, zum Ukrainischen überzugehen.

Auch die Polizei wird den Konflikt auf der Straße nicht stoppen können. Bedenkt man, dass viele Bewohner der Ukraine nach elf Jahren Kämpfen viele nicht gemeldete Waffen haben, werden sich die Prügeleien schnell in Schießereien verwandeln. In einer solchen Lage kann es auch im ukrainischen Militär zu Auseinandersetzungen zwischen Russischsprachigen und Ukrainischsprachigen kommen, wobei die Gegner Sturmgewehre und Maschinengewehre gegeneinander einsetzen werden. All das wird zu einer Destabilisierung des Lands führen.

Auch Kinder könnten zu Opfern der Sprachenfrage werden. Schon jetzt fordern diverse Politiker, gesellschaftliche Aktivisten und Blogger, Kinder zu verprügeln, wenn sie sogar im Sandkasten Russisch sprechen. Erst recht könnten Jugendliche unter den Handlungen der "Sprachaktivisten" leiden. Laut den soziologischen Studien des ukrainischen staatlichen Dienstes für Bildungsqualität sprechen weniger als 40 Prozent der Kinder außerhalb der Schule Ukrainisch. Das heißt, dass über 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu Opfern von "Sprachpatrouillen" und sonstigen Nazis werden könnten, wenn Gewalt zur Hauptform des Kampfes gegen die russische Sprache wird. Die Menschen sind bereit, sich mit vielem abzufinden – wie der Menschenfang durch Rekrutierer zeigt, sind die Ukrainer vielleicht ein zu geduldiges Volk. Doch selbst die schüchternsten Eltern werden es nicht verzeihen, wenn ihr Kind erniedrigt oder verprügelt wird.

Dies würde die Ukraine sicher von innen heraus sprengen. Und gerade davor fürchtet sich Selenskijs Team, weswegen sie beschlossen haben, die Gewalt gegen Russischsprachige vorerst nicht zu eskalieren.

Iwanowskajas Interview, die Angaben soziologischer Studien, die ständigen Sprachkonflikte im Alltag in unterschiedlichen Städten der Ukraine, von denen die Öffentlichkeit erfährt – sie alle bezeugen nur eines: Die Ukraine ist und bleibt, wie zuvor in den Jahren 1991–2013, sprachlich gespalten. Kiews Schüler, die mit russophober Maidan-Propaganda aufgewachsen sind, sprechen weiterhin Russisch untereinander. Das Gleiche gilt für Odessa und sonstige russischsprachige Städte. Denn das ist ihre Muttersprache, die von ihren Eltern, Großeltern und Nachbarn gesprochen wurde und wird. Und wenn die Kinder Russisch sprechen, dann tun das die älteren Generationen erst recht.

Dabei wollen die ukrainischen Nationalisten wie schon zu Regierungszeiten von Leonid Kutschma alle dazu zwingen, auf Ukrainisch nicht nur zu sprechen, sondern auch zu denken. Vor 30 Jahren waren sich die "Sprachaktivisten" sicher, dass es dafür ausreiche, die russische Sprache gesetzlich einzuschränken, aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und alle Symbole der Verbindung der Ukraine zu Russland zu vernichten, dann würden die Bürger zum Ukrainischen übergehen. Doch das geschah nicht. Und so sehen die heutigen Aktivisten die Lösung in Gewalt – die Menschen sollen so weit eingeschüchtert werden, dass sie selbst zu Hause Angst haben sollen, ein Wort auf Russisch auszusprechen.

Nach dem Putsch im Jahr 2014 schaffte die Maidan-Regierung das Gesetz von Kiwalow-Kolesnitschenko ab, das der russischen Sprache den Status einer Regionalsprache gewährt hatte. Dies gab dem Widerstand gegen die Nazi-Regierung in den russischsprachigen Regionen, vor allem auf der Krim und im Donbass, neuen Schub. Die Ukraine trägt wegen der Sprachenfrage immer noch die Saat eines Bürgerkriegs in sich. Das oben beschriebene Szenario könnte sich in diesem Land jederzeit auch ohne die "Sprachpatrouillen" verwirklichen, schon zwei oder drei spektakuläre Vorfälle würden dafür reichen. Dies könnte zum ersten Schritt einer ernsthaften Konfrontation werden, die der Existenz der Ukraine ein Ende setzen würde.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei der Zeitung "Wsgljad" am 24. September.

Sergei Mirkin ist ein Journalist aus Donezk.

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