Meinung

Netanjahus Radikalisierung – Kurs auf kollektiven Selbstmord Israels

Netanjahus "Große Strategie" der Eroberung und Besatzung isoliert Israel im Nahen Osten und schafft Feinde. Auch die USA unter Trump verlieren durch ihre bedingungslose Unterstützung Einfluss, den sie kaum noch zugunsten Israels einsetzen können. An ihre Stelle treten neue Akteure und Bündnisse, die die regionale Ordnung prägen.
Netanjahus Radikalisierung – Kurs auf kollektiven Selbstmord Israels© RIA Nowosti

Von Alexander Jakowenko

Die Radikalisierung der israelischen Regionalpolitik unter Benjamin Netanjahu spiegelt die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft selbst wider. Dies muss schon darum anerkannt werden, weil das, was jetzt geschieht, ernst und langfristig ist – wobei der verfolgte Kurs für den jüdischen Staat selbstzerstörerisch ist.

Von europäischen Juden als säkulares und teilweise sogar sozialistisches Projekt geschaffen, hat er sich unter Einwirkung von Einwanderern aus außereuropäischen Regionen, die heute die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des Landes darstellen, ein ganzes Stück weit zu einem extremistischen Gottesstaat entwickelt. Daher rührt die alttestamentarische Eschatologie, daher kommen auch die Losungen vom Bau eines Dritten Tempels – was einen Bruch mit der gesamten regionalen Ordnung bedeuten würde, die jahrzehntelang von den Vereinigten Staaten "strategisch überwacht" wurde.

Früher oder später wird sich die Frage nach einer Einbeziehung Israels in den allgemeinen Entradikalisierungsprozess in der Nahost-Region stellen. Vorerst gilt Henry Kissingers Postulat aus seinem im Jahr 1994 erschienenen Werk "Diplomacy", dort auf Deutschland gemünzt, uneingeschränkt für das heutige Israel: Der Wunsch eines vereinten Deutschlands nach absoluter Sicherheit bedeutete die Unsicherheit aller anderen europäischen Staaten. Seiner Ansicht nach hätte angesichts des Mangels an einer politischen Kultur der Mäßigung in der preußischen Elite nur Bismarck den von ihm geschaffenen Staat regieren können, ohne das Risiko einer nationalen Katastrophe und eines Umbruchs in Europa einzugehen. Das Prinzip der Unteilbarkeit und der gleichen Sicherheit für alle gilt aber genauso auch im Nahen Osten mehr denn je und wird sich wahrscheinlich mit der Zeit gegen Israels Politik, die dieses Prinzip mit den Füßen tritt, durchsetzen.

Doch derzeit stehen der Region Umbrüche und eine radikale Transformation der etablierten Ordnung erst noch ins Haus

Unnötig zu erwähnen ist die Kurzsichtigkeit Trumps, der während seiner ersten Präsidentschaft den Kurs der US-Nahost-Politik abrupt änderte: Damals beschloss er, die US-amerikanische Botschaft aus Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen und die Annexion der syrischen Golanhöhen durch Israel anzuerkennen. Anschließend zog er sich aus dem multilateralen Atomabkommen mit Iran (JCPoA – Joint Comprehensive Plan of Action, Gemeinsamer umfassender Aktionsplan) zurück. Washingtons Reaktion auf Israels Kampfhandlungen im Gazastreifen und die Beteiligung der USA am zwölftägigen Krieg zwischen Israel und Iran ist eine logische Fortsetzung dieses Kurses. Und dieser Kurs spiegelt unter anderem die Ansichten christlicher Zionisten in den Vereinigten Staaten von Amerika wider:

Letztere spannen nämlich den Karren vor das Pferd und wollen die Wiederkunft Christi erzwingen, anstatt sie abzuwarten (die gemäß dem Buch der Bücher unter anderem mit dem Bau des Dritten Tempels einhergehen soll). Damit stehen sie im völligen Widerspruch zum orthodoxen Judentum, von der großen Mehrheit der Christen ganz zu schweigen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Schicksale der Völker im Laufe der Geschichte auf die eine oder andere Weise (ob man dies nun anerkennt oder nicht) mit ihren religiösen Überzeugungen verknüpft sind – wie unter anderem die Krise des Liberalismus im Westen mit seiner beschleunigten Entchristlichung aufgrund der Politik liberal-globalistischer, kosmopolitischer Eliten zeigt.

Wie dem auch sei: Die explosive Mischung aus praktischer Politik, religiösen und pseudoreligiösen Überzeugungen hat Israel und die USA zu dem Versuch geführt, die Palästinafrage mit Gewalt zu beenden. Die Situation spaltet nicht nur die internationale Gemeinschaft, sondern auch den Westen – dies zeigt die jüngste Reihe von Anerkennungen der palästinensischen Staatlichkeit, unter anderem durch Frankreich, Großbritannien, Kanada und Australien. (Nur die Deutschen, also die BRD und Österreich, haben hartnäckig standgehalten – durch zumindest indirekte Verweise auf ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg und deren Anerkennung). Auch die sogenannte Anglosphäre, die Trump bei seinem jüngsten Besuch in London anpries, fand sich gespalten wieder. Trump hofft, die Araber in irgendeine Art Plan für Gaza einzubinden – in einen Plan, bei dem Israel das ermöglicht werden soll, wozu dieses – von rein militärischen Lösungen abgesehen, die die gesamte Enklave in Schutt und Asche gelegt haben, sodass deren Besetzung ein klarer Weg ins Nirgendwo ist – nicht in der Lage ist.

Es ist unwahrscheinlich, dass sich die arabischen Länder auf einen solchen Plan einlassen werden. Sich nämlich gegen die eigene öffentliche Meinung zu stellen, ist für sie dann doch zu gefährlich. Doch da ist noch mehr – nämlich auch außerhalb der muslimischen Welt: Denn was gemeinhin als die "arabische Straße" bezeichnet wird, existiert ja auch in den Ländern Europas schon lange, unter anderem infolge unkontrollierter Migration aus dem Nahen Osten und Nordafrika, Pakistan und anderen muslimischen Ländern. Die Reaktionen auf die israelische Operation in Gaza, die wir in Europa gesehen haben, zeigen dies mehr als anschaulich. 

Tatsächlich warnte die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright in ihrem Buch "Die Mächtigen und der Allmächtige" (2006) davor, das die Rolle kultureller und zivilisatorischer Faktoren, einschließlich der Religion, in der Weltpolitik im Allgemeinen und der europäischen Politik im Besonderen untersucht. Sie forderte den Westen auf, "Fragen der Geschichte, Identität und des Glaubens mit gleicher Tiefe anzugehen". Während es dem Mainstream gelingen könnte, propalästinensische Stimmungen in den USA auf "Linksradikalismus" abzuschreiben, einschließlich der Einstufung der Antifa als Terrororganisation, ist dies in der Europäischen Union nicht der Fall.

Das ist teilweise auf den rein säkularen Charakter der europäischen Staaten zurückzuführen, der ebenfalls anerkannt werden muss.

Doch jener abrupte Wandel der US-amerikanischen Nahost-Politik, der einen vollständigen Bruch mit dem internationalen Konsens über eine Zweistaatenlösung bedeutete, hatte die weitreichendsten Folgen für die gesamte Nahost-Region selbst. Wenn der Zwölftagekrieg mit Iran gezeigt hat, dass Israels ultimative Ziele in Bezug auf dieses Land einen Regimewechsel und seine territoriale Zerschlagung umfassen – ein Vergleich mit der westlichen Politik gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt drängt sich hier förmlich auf –, so stellt der jüngste Angriff auf Katar, der auf die Eliminierung der Hamas-Führungsriege abzielte, im Wesentlichen alle Sicherheitsgarantien der USA gegenüber arabischen Staaten als nichtig heraus. Denn diese Garantien decken die von Israel ausgehenden Risiken und Bedrohungen für die Araber eindeutig nicht ab – und irgendwelche anderen Garantien sind derzeit schlicht nicht in Sicht.

Dasselbe gilt vermutlich auch hinsichtlich der Waffen aus US-Fertigung in den Arsenalen der Araber: Sie sind offensichtlich durch solche Modelle und Modifikationen repräsentiert, die aus diesen oder jenen Gründen nicht in der Lage sind, dem Arsenal der israelischen Streitkräfte etwas entgegenzusetzen. Beobachter vermerken daher, dass Israel keine Versuche unternimmt, seine Gegner in Algerien zu bedrängen, das sich im Kontrast zum Rest des Großteils der arabischen Welt für russische und chinesische Waffen, darunter Flugabwehrsysteme und Flugzeuge, entschieden hat.

Infolgedessen werden zwar Widersprüche innerhalb der arabischen Welt sowie zwischen der arabischen Welt einerseits und Iran und der Türkei jeweils andererseits geglättet – doch dafür kommen Anzeichen eines regionalen Wettrüstens auf, auch im nuklearen Bereich.

Es ist leicht vorstellbar, dass Teheran, dem Beispiel Pjöngjangs folgend, unter schierem Überlebensdruck beschließen könnte, um jeden Preis in Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Auch darf man eine von deutlich mehr Zusammenhang geprägte iranische Politik in Eurasien erwarten – ausgelöst durch Trumps Versuch, den Militärflughafen Bagram vier Jahre nach der Flucht der Amerikaner aus Afghanistan wieder unter US-Kontrolle zu bringen.

Vorerst setzen die Araber aber auf Pakistan, den alleinigen Besitzer einer "islamischen Atombombe". Dies zeigt sich in der kürzlich erfolgten Formalisierung des zuvor über lange Jahre weitgehend informellen gemeinsamen Verteidigungsabkommens zwischen Islamabad und Riad. Pakistan bietet der gesamten arabisch-islamischen Welt im Wesentlichen seinen "nuklearen Schutzschirm" an – und erhält im Gegenzug unbegrenzte Ressourcen nicht nur zur Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme, sondern auch zum weiteren Ausbau seines Schlagpotenzials mit nuklearwaffentragenden Raketen.

Endgültig gescheitert sind auch die sogenannten Abraham-Abkommen von 2020–2021 zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt – ein Prozess, zu dessen Erweiterung auf Saudi-Arabien es schließlich nie gekommen ist. Es ist möglich, dass Israel und die Vereinigten Staaten in ihrer Regionalpolitik in eine Sackgasse geraten und nicht in der Lage sind, eine moderate Politik zu verfolgen, die politischen Verhandlungswillen erfordert.

Natürlich wächst im Nahen Osten die Nachfrage auch nach Russlands Bemühungen und Kompetenzen in zahlreichen Bereichen, einschließlich der Energie – eine Nachfrage wohlgemerkt, die Russland auch bedient.

Negativ könnten lediglich die Auswirkungen der jüngsten Tendenzen auf die Beziehungen zwischen Islamabad und Neu-Delhi gewertet werden: In Indien wird der pakistanisch-saudische Pakt mit Sorge betrachtet.

Nicht zuletzt auch, weil Islamabad seit langem enge Beziehungen zu Washington und Peking unterhält und China, bisher Indiens geopolitischer Konkurrent, seinerseits intensive Beziehungen zu Iran, Saudi-Arabien und anderen Regionalmächten des Nahen Ostens pflegt. Daher sind durchaus unterschiedlich gerichtete Folgen für die gesamte eurasische Politik, einschließlich der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, nicht auszuschließen.

Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass das neue "große Spiel" gerade erst beginnt, und zwar mit einer schwachen Position Washingtons und Israels. Seinerseits riskiert Trump das Image seiner Präsidentschaft: Nämlich indem er erst verspricht, die amerikanischen Kriege zu beenden – und sich von einer Sekunde auf die nächste auf Netanjahus aussichtsloses Manöver im Nahen Osten einlässt. Trumps Politik in Bezug auf Europa und die Eindämmung Chinas jedenfalls werden in der Zwischenzeit auf Sparflamme umgestellt, was ja auch schon nicht schlecht ist. Das ist die Logik der Selbstzerstörung – ein Wort, das man zunehmend von westlichen Politikwissenschaftlern und Kommentatoren hört.

Übersetzt aus dem RussischenZuerst erschienen bei RIA Nowosti am 25. September 2025.

Alexander Jakowenko ist ein russischer Diplomat (Außerordentlicher und Befugter Botschafter Russlands) und Rektor der Diplomatischen Akademie beim Außenministerium der Russischen Föderation. Er war Außerordentlicher und Befugter Botschafter Russlands in Großbritannien, stellvertretender Außenminister sowie Mitglied des Diplomatischen Kollegiums des russischen Außenministeriums.

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