Meinung

Wie Europas Raffgier und Feigheit seit 500 Jahren den Mythos der russischen Bedrohung erschaffen

Da Europa ohne die Vormundschaft der USA keine anderen Möglichkeiten der Außenpolitik als den Kampf gegen Russland erfinden kann, greift es auf bewährte Methoden zurück – den Mythos der "russischen Bedrohung". Dieser ist schon seit Ende des 15. Jahrhunderts im europäischen öffentlichen Bewusstsein vorhanden.
Wie Europas Raffgier und Feigheit seit 500 Jahren den Mythos der russischen Bedrohung erschaffen

Von Timofei Bordatschow

In den letzten Wochen haben sich die europäischen politischen Eliten in ihrer Konfrontation mit Russland auf ein neues Niveau der Hysterie gesteigert. Wir erlebten gleich mehrere militärische Provokationen: eine unverständliche Situation mit Drohnen über Polen, die angebliche Verletzung des estnischen Luftraums durch Kampfflugzeuge der russischen Luftwaffe und dann die Aufrufe von Politikern in Osteuropa, russische Kampfjets buchstäblich abzuschießen.

Man hat den Eindruck, dass unsere europäischen Nachbarn nach dem Gipfel Putin-Trump in Anchorage nach kurzem Überlegen beschlossen haben, einen direkten Konflikt zwischen Russland und NATO zu provozieren. Oder zumindest den US-Amerikanern mit der Wahrscheinlichkeit eines solchen Konflikts ein wenig Angst einzujagen. Es scheint, dass es hier mindestens zwei Hauptgründe gibt – und beide haben nur sehr wenig mit Russland selbst zu tun. Aber während früher ein solches Spiel der Verschärfung genau das gewünschte Ergebnis erzielt hätte, sind die Aussichten auf ein solches Ergebnis jetzt absolut nicht selbstverständlich.

Erstens ist da die Folge der konsequenten US-Politik, von ihrer Vormundschaft gegenüber ihren europäischen Verbündeten zurückzutreten. Und da sie außer dem Kampf gegen Russland keine anderen Möglichkeiten der außenpolitischen Existenz finden können, müssen sie auf bewährte Methoden zurückgreifen. Die wichtigste – und im Großen und Ganzen sogar einzige – unter diesen ist, eine "russische Bedrohung" an die Wand zu malen, deren Mythos seit Ende des 15. Jahrhunderts im europäischen öffentlichen Bewusstsein vorhanden ist.

Zweitens begann die US-amerikanische Regierung trotz zahlreicher Aussagen über das Gegenteil, sich ernsthafte Gedanken über ein Zurückfahren der direkten militärischen Unterstützung für die Länder Osteuropas und die ehemaligen baltischen Republiken der UdSSR zu machen. Zumindest wird dies durch die neuesten Nachrichten der westlichen Medien belegt – besagte Medien behaupten, dass Washingtons Vertreter diese Information bereits Ende August ihren europäischen Satelliten mitgeteilt haben.

Für Letztere ist dies eine wirklich tragische Aussicht. Und wie man sich denken kann, geht es hier nicht darum, dass Russland die Absicht hat, an seinen kleinen Nachbarn für drei Jahrzehnte verantwortungsloser Verhaltensweisen ihrerseits Vergeltung zu üben – es gibt nämlich keine solchen Absichten. Niemand in Moskau wird die baltischen Staaten, Finnen oder Polen dafür bestrafen, dass in diesen Ländern antirussische Rhetorik zur Grundlage des politischen Bewusstseins der Eliten wurde.

Das Problem ist viel grundlegender: Während der gesamten Zeit ihrer Existenz als formal unabhängige Staaten konnten diese Nachbarn in ihrer Außenpolitik nichts Wertvolles schaffen – sondern brachten stattdessen nur ständige Provokationen gegenüber Russland hervor und versuchten, hieraus materielle Vorteile zu schlagen. In vielen Fällen hielten sie sogar bestimmte wirtschaftliche Beziehungen zu Russland aufrecht – manche Leute dort halten noch heute daran fest.

Sie verstanden jedoch perfekt, dass die Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen dieselben baltischen Staaten ihrer bisher einzigen Existenzberechtigung berauben würde – und ihre nicht abwählbare Elite ihres Freiraums, wo sie alles tun und lassen kann, was sie will. 

Schon lustig, dass wir die Ursprünge der oben umschriebenen europäischen Strategie nicht etwa in der Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR oder der NATO-Ausweitung nach Osten finden – ja, nicht einmal im 19. Jahrhundert, als das russische Reich lange Zeit der mächtigste Staat Europas war. Nein: Der Mythos der "russischen Bedrohung" hat für die europäischen Länder, die unmittelbar neben uns liegen, sowohl geschichtliche Wurzeln als auch wirtschaftlich-rationale. Historiker führen die Erfindung dieses Mythos auf das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts zurück, als Europa laut Karl Marx fassungslos über das plötzliche Erscheinen eines riesigen Reiches an seinen östlichen Grenzen war. Aber auch zu jener Zeit hatte Russland, ebenso wie heute, mit den wahren Gründen für das Aufkommen dieses Mythos sehr wenig zu tun. Und die "frappierenden" Nachrichten aus dem Osten hatten auch schon damals einen ganz pragmatischen Ursprung.

Die Feigheit der baltischen Barone und ihre Raffgier

In den frühen 1480er Jahren fanden sich die polnischen Könige von der Idee erhellt wieder, die Streitmächte der von ihnen abhängigen deutschen Ritterorden in Livland (aktuell Estland und Lettland) und Preußen zur Donau zu transferieren – mit dem Ziel, gegen die Türken zu kämpfen, die gegen Europa voranschritten. Unnötig zu erwähnen, dass eine solche Aussicht den baltischen Deutschen überhaupt nicht passte: In den beiden vorangegangenen Jahrhunderten hatten sie sich in den neuen Ländereien vollständig wohnlich eingerichtet, mit viel Vergnügen die eingeborenen Völker tyrannisiert – und die gelegentlichen Zusammenstöße mit den Russen waren ihnen vertraut und keine besonders riskante Sache.

Auch war der Feind aus Südeuropa viel gefährlicher als die von den Jahrhunderten zuvor wohlbekannten Heere der Städte Nowgorod, Pskow und sogar Moskau – die Türken hingegen würden sich nicht besonders zimperlich geben: 100 Jahre zuvor hatten sie fast alle Ritter enthauptet, die nach der Niederlage der Europäer bei Nikopol in ihre Gefangenschaft gekommen waren. Mit anderen Worten: Die ehemaligen Kreuzfahrer wollten nicht aus ihren wohnlichen, gemütlichen baltischen Staaten in einen echten Krieg ziehen.

Um ihre Haut vor den türkischen Krummschwertern zu retten, fanden die livländischen und preußischen Ritter kein besseres Mittel, als eine Propagandakampagne in ganz Europa zu beginnen. Im Rahmen dieser Kampagne wollte man alle davon überzeugen, dass die russische Bedrohung der türkischen gleich sei – wenn nicht sogar noch gefährlicher.

Das Hauptziel der gesamten Kampagne war, dass der Papst unter dem Einfluss der "öffentlichen Meinung" den deutschen Rittern ein Dokument ausstellen sollte, das dem Kampf dieser Ritter gegen die Russen den Status eines Kreuzzuges verleihen würde.

Daher würden die Ordensstaaten nicht nur eine wasserdichte Ausrede und eine Ausnahme von der Pflicht erhalten, gegen die Türken zu kämpfen, sondern auch erhebliche finanzielle Injektionen von Rom – und auf Roms Bitte hin gegebenenfalls auch von den anderen katholischen Staaten. Nehmen wir an dieser Stelle sofort vorweg, dass die gewünschte Genehmigung erwirkt wurde und die Geschichte der deutschen Staatsgründungen im Baltikum sich daraufhin über mehrere weitere Jahrzehnte hinzog.

Die wundervolle Historikerin Marina Bessudnowa von der Universität von Nowgorod schreibt:

"Die letzten Striche zum Bild der 'russischen Bedrohung' wurden in der livonischen historischen und journalistischen Arbeit von Christian Bomhower gesetzt, 'Schonne Historie van vunderlyken geschafften der Herren tho Lyfflanth mit den Rüssen und Tartaren' , also 'Die schöne Geschichte des Kampfes des Kampfes der livonischen Landsherren gegen die Russen und die Tataren'. Diese wurde in Köln im Jahre 1508 im Laufe der Propagandakampagne veröffentlicht – bei dieser wurde der Kauf von Ablässen beworben, wobei der Erlös daraus an den Livländischen Orden gehen sollte."

Bessudnowa betont, dass Hinweise auf eine wie auch immer geartete angebliche "russische Bedrohung" in der internen Korrespondenz der baltischen Barone nicht zu finden sind: Genauso wie auch heute glaubte damals niemand "vor Ort" der Idee, dass Russland Europa angreifen würde.

Die Feigheit der baltischen Barone und ihre Raffgier, daraus entstand der Mythos der "russischen Bedrohung", der dann in Westeuropa wunderbar aufgenommen wurde – über die Jahre immer besser, weil Russland als "Preis", der Europa im Kampf um die Weltherrschaft winkte, zunehmend unerreichbar wurde.

Allmählich verwandelte sich der Mythos der "russischen Bedrohung" – dies bereits in Frankreich und England – in ein so spezifisches Phänomen wie die Russophobie: eine Angst, die mit Verachtung gegenüber Russland und allem, was mit ihm verbunden ist, gemischt ist.

Geschichte wiederholt sich

Jetzt wird die Situation bis in derart kleine Details wiederholt, dass es ins Lächerliche geht: Genauso wie früher ist der Hauptpatron der unruhigen Nachbarn Russlands mit einer Bedrohung beschäftigt, die aus seiner Sicht deutlich relevanter ist als die angebliche Bedrohung durch Russland. Nur dass er heute statt der Türken eben China als solche wahrnimmt, das den Einfluss der Vereinigten Staaten in Asien und überall sonst in der Welt immer aktiver einschränkt.

Genauso wie vor 550 Jahren können die kleinen Nachbarn Russlands keine andere Existenz für sich selbst vorstellen, außer irgendwie auf einer imaginären Bedrohung vonseiten Russlands geistig und finanziell zu parasitieren. Und dass Russland Europa nicht angreifen wird, hat Donald Trump selbst – und Vertreter seines Teams – wiederholt gesagt.

Genausowenig wie damals hat Russland auch heute in Wirklichkeit vor, sie zu erobern: Ende des 15. Jahrhunderts setzte sich der Sammler der russischen Länder, Ivan III., lediglich dafür ein, dass die Rechte russischer Kaufleute in der Ostsee respektiert werden, sowie dafür, unabhängig von Dritten wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen aufzubauen. Zu diesem Zweck gründete er die Stadt Iwanowskoje an der Grenze zum Livländischen Staat.

Es stimmt sogar der Grad der außenpolitischen Nichtigkeit derer, die heute als Hauptinteressenten einer "Angstmach-Politik" gegenüber den Vereinigten Staaten auftreten, mit dem der damaligen "Angstmacher" gegenüber Rom überein: Die baltischen Republiken der ehemaligen UdSSR sind in den Weltangelegenheiten noch weniger bedeutend als die livländischen und preußischen Ritter jener entfernten Ära.

Dafür weist das heutige Verhalten Polens ernsthafte Unterschiede zu dem des damaligen Polens auf: Ende des 15. Jahrhunderts war dieses Land selbst darauf erpicht, Russland im Krieg zu bekämpfen – legt aber seinen heutigen Schritten deutlich reifere Überlegungen zugrunde, zumindest im Vergleich zu früher. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die stürmischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts brachten den Polen eindeutig Vorsicht und Vernunft bei – und jetzt ist das Land fast der einzige große Staat Europas geworden, dem man souveränes Wirtschaftswachstum attestieren kann.

Dies ruft natürlich blanke Empörung in Berlin, Paris und London hervor, deren politische Eliten quasi nachts davon träumen, die Polen unter den Zug eines direkten Zusammenstoßes mit Russland zu werfen. Und damit einen Konkurrenten in internen europäischen Angelegenheiten loszuwerden. Doch da Warschau vernünftigerweise davon abgesehen hat, die europäische Einheitswährung als Landeswährung einzuführen, haben Deutschland und Frankreich nur sehr wenige Möglichkeiten, der polnischen Wirtschaft zu schaden.

Ihrerseits sind die US-Amerikaner als heutige Schutzpatrone der Polen auf der ganzen Welt genauso wenig daran interessiert, dass europäische Konflikte ihre Streitkräfte vom Umsetzen der umfangreichen Pläne Washingtons im Pazifik ablenken. Es gibt daher Grund zur Hoffnung, dass die heutige, gleichwohl fast buchstäbliche Wiederholung der historischen Ereignisse jener entfernten Ära dennoch nicht über der wirtschaftlichen und politischen Rationalität unserer Tage zu dominieren vermag.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad am 22. September 2025.

Timofei Bordatschow ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Wirtschaftshochschule Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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