Meinung

Demonstration "gegen Migration" in London? Das ist nur die Oberfläche...

Es sei die größte rechte Demonstration, die man seit langem in England gesehen habe, heißt es. Aber um zu verstehen, was die Menschen wirklich in London auf die Straße trieb, muss man das gesamte Bild betrachten. Ein vernachlässigtes Land.
Demonstration "gegen Migration" in London? Das ist nur die Oberfläche...Quelle: www.globallookpress.com © Stephen Chung/Keystone Press Agency

Von Dagmar Henn

Für die Konservativen in Großbritannien ist die Londoner Demonstration ein Menetekel ‒ mindestens 100.000 bis 150.000 Menschen marschierten selbst nach Schätzungen liberaler Medien am Samstag durch London, in einem Zug, dessen ursprüngliches Thema die Einschränkung der Meinungsfreiheit war, als "Festival der freien Rede", der sich aber auch infolge der Auseinandersetzungen in jüngerer Zeit in eine Demonstration gegen illegale Einwanderung verwandelte.

Das lag bei weitem nicht nur am Organisator der Demonstration, Tommy Robinson, einer etwas zwielichtigen Gestalt, die Anfang des Jahrtausends tatsächlich Mitglied der britischen Nazipartei British National Party (BNP) war. Außerdem Hooligan, Flugzeugmechaniker, Journalist, Spieler und Berater der Brexit-Partei UKIP ‒ und stets in Aktivismus gegen Migration, insbesondere islamische, involviert. Ein Mann, der bereits mehrere Gefängnisaufenthalte wegen gewalttätigen Verhaltens hinter sich hat. Ginge es um Robinson und nicht um die unzähligen Probleme, die die britische Gesellschaft derzeit plagen, hätte das Zahlenverhältnis nie mehr als 100.000 auf der Demonstration und nur 5.000 auf der Gegendemonstration betragen ‒ viele Jahrzehnte lang waren die Zahlenverhältnisse umgekehrt.

Aber auch Großbritannien hat ein Migrationsproblem. Im vergangenen Jahr allein kamen 36.816 illegale Einwanderer per Boot, über den Ärmelkanal, nach England. Das ist etwas weniger als 2022, aber damals war eigentlich versucht worden, diesen Weg zu versperren ‒ die französische und die deutsche Polizei versuchten damals, auch in Deutschland den Kauf von Schlauchbooten und Motoren für diesen Zweck zu unterbinden. 90 Prozent dieser Boote sollen in Deutschland erworben worden sein. Allerdings gibt es inzwischen Mitteilungen über einen Schmuggel von Schlauchbooten zur Kanalüberquerung bis aus der Türkei. Im August wurden auf britische Bitten an der bulgarischen Grenze 70 Boote beschlagnahmt, die für diesen Zweck in Lastwagen verborgen worden waren.

Dennoch haben im laufenden Jahr bereits 30.164 Personen so den Kanal überquert ‒ allein am Samstag, dem 6. September, mehr als 1.000. Im Juli waren 45.000 Asylbewerber in Hotels untergebracht, zu Kosten von 6 Millionen britischen Pfund (6,93 Millionen Euro) täglich. Die Migranten, die über den Ärmelkanal kommen, machen jedoch nur einen Teil der Einwanderer aus. Die weit überwiegende Mehrheit kommt legal, mit einem Besuchs- oder Arbeitsvisum, und bleibt. Allein in London wird nach einer neueren Studie die Zahl der Illegalen auf bis zu 585.000, also jeden zwölften Stadtbewohner, geschätzt.

Die Migranten auf den Booten kommen überwiegend aus Afghanistan und Eritrea, Iran und Syrien. Insgesamt sind Indien, Polen, Pakistan und Rumänien die Hauptursprungsländer von in Großbritannien lebenden Ausländern. Allerdings sind gerade von Indern und Pakistanis viele längst eingebürgert worden. Seit 2006 hat sich die Zahl der nicht in Großbritannien geborenen Einwohner von 5,2 Millionen auf 10,3 Millionen im Jahr 2023 fast verdoppelt. Leicester, London, Birmingham, Manchester, Slough und Luton sind Städte, in denen die Briten nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Der derzeitige Labour-Bürgermeister von London, Sadiq Khan, ist ein Brite pakistanischer Abstammung. Die Generation seiner Eltern gehörte noch zu jenen, die als Angehörige des Commonwealth, also der ehemaligen britischen Kolonien, einfach einreisen konnten.

Aber im Gegensatz zum Jahr 1968, als Khans Eltern in London eintrafen, ist Großbritannien heute weder ein Industrieland noch in wirtschaftlich guter Verfassung. Nachdem Maggie Thatcher als Premierministerin in den 1980ern die Deindustrialisierung eingeleitet hatte, ist inzwischen nur noch wenig Industrie übrig: Das letzte Stahlwerk des Landes ‒ Scunthorpe ‒, das einmal die Stahlproduktion mit Kokskohle erfunden und damit die Industrialisierung ermöglicht hatte, wurde im April durch Verstaatlichung vor der Schließung gerettet. Das Erdöl aus der Nordsee, das die Folgen dieser Deindustrialisierung überdeckt hat, ist inzwischen weitgehend erschöpft, und die Finanzwirtschaft in der City of London hangelt sich seit 2008 auch nur von Blase zu Blase, selbst wenn die Zahlen den Anschein erwecken, da werde Geld verdient.

Die Entscheidung für den Brexit, also den Ausstieg Großbritanniens aus der EU, wurde auch durch die Hoffnung motiviert, dadurch die Migration unter Kontrolle zu bringen. Die Regierungen nach dem Brexit, gleich, ob Konservative oder Labour, machten diese Hoffnungen jedoch zunichte. Schlimmer noch ‒ seit der Eskalation des Ukraine-Konflikts ist Großbritannien immer mit dabei, dann eben über die NATO, wenn nicht über die EU. Immerhin war es ein britischer Premierminister, Boris Johnson, der die eigentlich erfolgreichen Verhandlungen in Istanbul zwischen Kiew und Moskau Anfang April 2022 zum Absturz brachte, und seitdem ist jeder britische Premier unter den aggressivsten Anhängern Kiews zu finden.

Was natürlich auch im Budget bemerkt wird. Erst im März hatte der aktuelle (Labour-)Premier Keir Starmer einen "Kreditvertrag" mit Selenskij in Kiew unterzeichnet, über 2,74 Milliarden Euro, nach einem Winter, in dem armen britischen Rentnern die Heizbeihilfen gestrichen wurden, weil nicht genug Geld dafür vorhanden gewesen sei. Auch Aufrüstung soll betrieben werden: Sechs neue Waffen- und Munitionsfabriken sind geplant. 240.000 britische Haushalte lebten, nach Aussage der Lloyds Bankengruppe vom Oktober 2024, in Notunterkünften, darunter 150.000 Kinder, und auf den Wartelisten für Sozialwohnungen, die auch dort zur immer knapperen Ressource werden, stehen 1,5 Millionen Haushalte ‒ mit Wartezeiten von bis zu 55 Jahren. Die Bank kommt übrigens in ihrer Veröffentlichung zu einem überraschenden Schluss bezüglich der Vorteile des sozialen Wohnungsbaus: "Hausbau unterstützt zwischen 4,1 und 4,5 Vollzeitjobs pro errichtetem Haus, und für jeden Job in der Bauwirtschaft werden weitere 1,7 Jobs in der übrigen Wirtschaft geschaffen. Mehr als die Hälfte jeder staatlichen Förderung für Sozialwohnungen könnte durch Zunahme der Steuereinnahmen wieder hereingeholt werden. Zusätzlich, so zeigt ein Bericht der National Housing Federation, würde die Errichtung von 90.000 Sozialwohnungen binnen drei Jahren 37,8 Milliarden Pfund in die Wirtschaft leiten."

Als wäre dieses Elend nicht genug, hat Großbritannien auch noch das schärfste Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit in Europa. Dabei werden gleich zwei Seiten ins Visier genommen ‒ es gibt ein extrem hartes Vorgehen gegen Aussagen gegen Migranten (schon der Satz "Sprich Englisch" gilt als Beleidigung), aber auch gegen die Palästina-Proteste, die in London ebenfalls gigantisches Format erreichten. Jüngst wurde sogar die propalästinensische Gruppe "Palestine Action", die einen Farbanschlag auf eine britische Niederlassung der israelischen Rüstungsfirma "Elbit Systems" durchgeführt hatte, zur terroristischen Organisation erklärt.

Vergangene Woche wurde ein irischer Komiker, Graham Linehan, am Flughafen Heathrow verhaftet, weil er im April auf X einige Bemerkungen gepostet hatte, die als "Verdacht, Gewalt gegen Transgendermenschen online zu fördern", bewertet wurden. Eine davon lautete, wenn man eine Transgenderfrau in einem Bereich "nur für Frauen" antreffe, solle man "eine Szene machen, die Polizei rufen, und, wenn das alles nichts nützt, ihm in die Eier treten".

Fünf Polizisten umringten ihn dafür auf dem Flughafen, was selbst die Fraktionsvorsitzende der derzeit opponierenden Konservativen, Kemi Badenoch, dazu brachte, zu sagen, das sei "keine Polizeiarbeit, sondern Politik". Die Ressourcen der Polizei würden "für Gedankenkontrolle verschwendet". Tatsächlich ist die britische Justiz äußerst großzügig in der Verteilung von Haftstrafen für Beiträge auf sozialen Medien. Auch ein kultureller Bruch mit dem Land, das Fußball und Punk erfand und in dem nun Sprache kontrolliert wird wie zuletzt unter Königin Victoria.

Es ist diese verbreitete Zensur, die dazu führte, dass auch Elon Musk einen Redebeitrag bei der Londoner Demonstration hielt. Großbritannien hat keine geschriebene Verfassung ‒ das erschwert die Verteidigung von Grundrechten, wenn sie einmal ernsthaft gefährdet sind. Aber die Repression zumindest funktioniert.

Auffällig bei der Demonstration waren die vielen Georgskreuze, rot auf weißem Grund. Auch das ein Detail, bei dem die offizielle Politik selbst für eine Eskalation gesorgt hatte. Es handelt sich dabei nämlich um die Fahne Englands. Der bekanntere Union Jack steht für England, Schottland, Wales und Nordirland. Man kann sie immer mal wieder sehen, wenn die englische Nationalmannschaft spielt. Seit sie im vergangenen Sommer aber bei Protesten gegen Migration aufgetaucht ist, geht die Polizei dagegen vor, weil sie für Rassismus stehen soll ‒ ohne dass sich an ihrem offiziellen Status etwas geändert hat. Was bedeutet, dass die Polizei des Landes die Landesfahne verbietet...  Wer die Briten kennt, insbesondere jene aus der Arbeiterklasse, weiß, dass sie nichts stärker motiviert, etwas zu tun, als es zu verbieten. Die Georgsfahne hat also längst den Status eines Protestsymbols erreicht, das sich gegen die Zustände als Ganzes, samt Regierung, richtet, während die Behörden so tun, als ginge es nur um Migration.

Ein weiterer Punkt, der sich in der Teilnahme an dieser Demonstration manifestierte, ist der Verfall des britischen Parteiensystems. In so gut wie allen Umfragen liegt inzwischen Nigel Farages Reform-Partei weit vor den Konservativen und Labour, obwohl Letztere noch im vergangenen Jahr die Wahlen gewonnen hatten. Aber es gibt nicht nur Farage: Auf der Linken arbeitet der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn ‒ der von den neoliberalen Fans Tony Blairs aus der Partei gemobbt wurde (als "Antisemit", weil er für Palästina eintrat) ‒ an der Gründung einer neuen Partei links von Labour. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten sich Konservative und Labour die Wähler und die Ämter geteilt, während Labour von der gewerkschaftsdominierten klassischen Sozialdemokratie wegmutierte, mit nur ein paar Liberaldemokraten dazwischengestreut. Jetzt erreicht Farage in den Umfragen so viel wie Labour und Konservative zusammen, die also, da Großbritannien ein Mehrheitswahlrecht hat, darauf hoffen müssen, dass Corbyns Gründung Erfolg hat, weil sie dann wenigstens noch mitkoalieren könnten.

Und noch immer nicht ist man am Ende des britischen Elends angelangt. Vergangene Woche kursierte das Gerücht, Großbritannien sei so pleite, dass es beim IWF um einen Kredit bitten müsse ‒ ein Zustand, den es mit Frankreich teilt. Und dann kam auch noch die Bombe mit Peter Mandelson, dem britischen Botschafter in den USA, der gerade gefeuert wurde. Mandelson, alter Labour-Adel und schon zu Zeiten von Tony Blair die graue Eminenz, stolperte über seine Nähe zu ‒ Jeffrey Epstein. Kurz vor der Jahrtausendwende verfasste er zusammen mit dem deutschen Kanzleramtsminister Bodo Hombach das Blair-Schröder-Papier, das den neoliberalen Niedergang beider Parteien anbahnte. Von 2004 bis 2008 war Mandelson EU-Handelskommissar.

Starmer hatte erst kurz zuvor seine Stellvertreterin Angela Rayner entlassen müssen, die über Steuerhinterziehung bei einem Immobiliengeschäft gestolpert war. Rayner war bereits die achte Ministerin, die in der Amtszeit von Starmer, die im Juli 2024 begann, ausgeschieden ist. Nun wird im Gefolge der Affäre um Mandelson auch Starmers Stabschef Morgan McSweeney in Frage gestellt, der eng mit Mandelson verknüpft ist. Unter der Regierung von Tony Blair war McSweeney Mandelsons Mitarbeiter.

Gewürzt wird diese ganze Melange aus Elend und Verfall auch noch durch Affären wie jene um pakistanische Gangs, die über Jahrzehnte hinweg und an vielen Orten von der Polizei gedeckt junge Mädchen missbrauchten. Das ist nicht die Wurzel des Übels, aber es beeinflusst, welche Gestalt der Zorn darüber annimmt. Gleich, ob Konservativ oder Labour, die Missachtung der Bedürfnisse der gewöhnlichen Bevölkerung kennzeichnet sie beide. Und beide erklären zwar gelegentlich gern, den Zufluss von Migranten eindämmen zu wollen, ändern aber praktisch nichts. Beide stehen ebenso sehr hinter dem völkermörderischen Israel wie hinter der Ukraine, und ersetzen einen Versuch, die Probleme im Inneren zu lösen, durch großspurige außenpolitische Auftritte. Oder durch Vorschriften für CO2-neutrale Bestattungen.

Insofern ist die Haltung zur Migration oder selbst zur Meinungsfreiheit nur die Oberfläche ‒ darunter findet sich ein vielstimmiges, vielgestaltiges "Es reicht!". George Galloway, wirkliches Urgestein der klassischen, also nicht woken, britischen Linken, teilte einen Beitrag eines Labour-Abgeordneten, der über einen Freund berichtete, der an der Londoner Demonstration teilnahm. "Die Regierung hört uns nicht zu", zitiert er ihn, und: "Ich will mich wieder stolz fühlen können für mein Land." Und setzt selbstkritisch nach: "Wir haben eine Gesellschaft errichtet, die den Menschen zu wenig gibt, was sie miteinander gemein haben, keine kollektive Geschichte darüber, wer wir sind oder wofür wir sind."

Das Kriegsgeschrei, das auch die britischen Regierungen ausstoßen, ist nichts, was Menschen mit ihrem Land verbindet. Was sich da unter der Mischung von Union Jack und Georgsbanner versammelt hat, ist ein Ausdruck der Qual und des Protests, der wohl erst dann zu einem Ausdruck von Hoffnung werden kann, wenn der Verfallsprozess des politischen Systems in Großbritannien abgeschlossen ist.

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