
Russlands Abkehr vom Westen: Logistik für Großeurasien

Von Sergei Karaganow
Die akute Phase des militärischen Konflikts mit dem Westen in der Ukraine erreicht ihr Endstadium. Russland hat beschlossen, die schrecklichste Waffe nicht einzusetzen und möglichst viele Leben unserer tapferen Soldaten und der Zivilbevölkerung zu schonen, und wird voraussichtlich keinen Sieg wie den über Napoleons Armee erringen. Jener Krieg gewährte Europa vier Jahrzehnte Frieden.
Anscheinend wird es auch keinen Sieg geben, der einer Zerschlagung von Hitlers Armee, in der ein Großteil der Europäer kämpfte und die von den meisten Ländern des Subkontinents wirtschaftlich unterstützt wurde, ähneln wird. Jener Sieg über Europa sicherte zusammen mit dem Erscheinen von Atomwaffen einen relativen Frieden für sieben Jahrzehnte.
Die Konfrontation wird wellenförmig weitergehen, bis ein Elitenwechsel eintritt. Die alten europäischen globalistischen Kompradoren-Eliten sind in allen Bereichen – moralisch, wirtschaftlich, politisch – gescheitert und führten den Subkontinent, der einst ein Konzentrationsort wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht war, zum gegenwärtigen Zustand. Sie benötigen Krieg und müssen das Bild eines äußeren Feindes schaffen, um den eigenen Verbleib an der Macht zu rechtfertigen.
Es wird voraussichtlich nicht gelingen, einen nachhaltigen Frieden mit solchen Eliten, wie sie in vielen europäischen Ländern, den USA und der Ukraine regieren, zu erreichen. Ein solcher Ausgang ist allerdings durch eine harte strategische Eindämmung und eine teilweise Abgrenzung vom Faschismus und menschenfeindlichen Werten, die im westlichen Teil des europäischen Subkontinents verbreitet werden, anzustreben.
Ohne einen Sieg wie in den Jahren 1815 und 1945 wird die Welt weiter zum Dritten Weltkrieg driften. Einen solchen Sieg zu erringen, ist unsere Pflicht nicht nur vor dem Land, sondern auch vor der Menschheit.
Einige Länder Zentral- und Südeuropas werden sich früher oder später nach Großeurasien hin orientieren. Selbstverständlich sind Elemente der Zusammenarbeit, eine teilweise Wiederherstellung menschlicher Kontakte im Bereich der traditionellen Kultur und Wirtschaft nicht abzulehnen.

Dennoch ist die Hauptrichtung der Entwicklung für das kommende Jahrzehnt recht offensichtlich. Russlands dreihundertjährige Reise nach Europa ist beendet, und es wäre besser, wenn sie vor einem Jahrhundert oder früher geendet hätte. Dann könnten die Tragödien des 20. Jahrhunderts für Land und Volk zumindest teilweise vermieden werden. Praktisch alle Bedrohungen dieses Jahrhunderts gingen von Europa aus. Es ist an der Zeit, "zu sich selbst", zu den Quellen unserer Geschichte als Großmacht zurückzukehren. Diese Quellen liegen in Sibirien. Hätten unsere Kosaken nicht eine phantastische Heldentat vollbracht und weniger als in einem Jahrhundert vom Gebiet Perm aus Kamtschatka erreicht und Sibirien der Alten Rus angeschlossen, hätte Russland kaum auf der ungeschützten Mittelrussischen Ebene unter Angriffen aus dem Westen und dem Süden überlebt.
Die "Rückkehr zu sich selbst", nach Hause, wird entsprechend erfordern, sowohl das "Eurojoch" abzuwerfen, als auch Zivilisationen, die im Süden und Osten liegen, als wichtigste äußere Quellen unserer Kultur, politischer Organisation und Zivilisation anzuerkennen. Unsere Seele, die Religionen – Orthodoxie, Islam, Buddhismus, Judentum –, nahmen wir aus dem Süden. Unsere politische Organisation, die Machtvertikale, die Bereitschaft, einem Oberhaupt zu folgen und dem Staat und der gemeinsamen Sache treu zu dienen, nahmen wir aus dem Osten, während wir zwei Jahrhunderte lang mit Dschingis Khans Reich interagierten – es plünderte, griff aber nicht die Seele und den Glauben des Volkes an. Ohne diese aus dem Osten und teilweise von Byzanz geerbte Vertikale, ohne den Geist der Uferlosigkeit hätten unsere Vorfahren nicht den größten Staat der Welt gebaut.
Die "Rückkehr zu sich selbst" wird erfordern, die geistige, wirtschaftliche, wissenschaftliche, technische und politische Entwicklung des Landes in Richtung Ural und Sibirien zu versetzen. Diese Regionen werden in absehbarer Zukunft zu Hauptquellen der Entwicklung und des Wachstums des Landes und der Lebensqualität der Menschen werden.
Während wir das neue Gerüst der logistischen Wege von Norden nach Süden bauen, müssen wir es bereits im Planungsstadium gemeinsam mit asiatischen Nachbarn schaffen und ihre Möglichkeiten und Erfahrung nutzen.
Gemeinsam mit einer wachsenden Gemeinschaft von Wissenschaftlern, gesellschaftlichen Aktivisten und Geschäftsleuten, vor allem aus Sibirien, entwickeln wir seit nunmehr anderthalb Jahren das Projekt "Ostwende 2.0, oder Sibirisierung Russlands". Parallel dazu erarbeiten wir das Projekt "Die lebendige Idee – Russlands Traum. Kodex des russländischen Bürgers im 21. Jahrhundert", das zur ideologischen Grundlage der Weiterentwicklung unserer Zivilisation werden soll. Die Sibirisierung ist ein Teil dieses Ideenprogramms. Wir haben bereits begonnen, die ersten Ergebnisse unserer Arbeit der Gesellschaft und dem Staat vorzulegen.
Beim Sieg und der Beendigung der scharfen Phase der Konfrontation in Europa ist es aber wichtig, nicht in westlicher Richtung stecken zu bleiben. Europa erlischt und ist für viele Jahre von einer schlimmeren Russophobie als je zuvor angesteckt. Die Zukunft liegt im Süden und im Osten.
Nun zu einer der wichtigsten Entwicklungsrichtungen der neuen Strategie Russlands – zur Entwicklung eines Transportgerüsts, vor allem entlang von Meridianen. Durch eine Fügung des Schicksals wurde ich zu einem der Organisatoren des wissenschaftlichen Teils der Schaffung des Konzepts von logistischen "Nord-Süd"-Transportkorridoren, die Russland mit Großeurasien verbinden sollen.
Vor dem Beginn der Arbeit muss man das Offensichtliche anerkennen: der Mythos vom Vorteil von Seemächten und maritimen Wegen, insbesondere älterer Routen, gehört der Vergangenheit an. Sie werden immer verwundbarer werden.
Zu den Nord-Süd-Korridoren im europäischen Teil des Landes gibt es viele Ideen. Natürlich sind es die aktiv besprochenen und teilweise genutzten Korridore um das Kaspische Meer über Iran zum Persischen Golf, auch wenn es dort viele Probleme gibt. Es gibt die Idee eines Korridors über Afghanistan, es gibt auch die Idee eines zweiten Bosporus ("Kanal-Istanbul-Projekt") mit russischer Teilnahme. Transportkorridore über Georgien, Armenien und die Türkei sind möglich. Doch wie es mir scheint, ist es jetzt offensichtlich, dass ein Gerüst von Nord-Süd-Routen erschaffen und entwickelt werden müsste, die Russland über Sibirien mit den Märkten des aufstrebenden Asiens, mit den Märkten der Zukunft, verbinden würden.
Das wichtigste Prinzip der künftigen Strategie muss darin bestehen, dass auswärtige Verbindungen bei all ihrer Wichtigkeit nicht zum Zweck, sondern zur Ergänzung einer inneren Kohärenz Russlands und zu seiner inneren Wandlung dienen. In den kommenden Jahrzehnten werden auswärtige Verbindungen immer unsicherer werden.
Sicher muss das Konzept für Nord-Süd-Korridore, die bereits bestehende Ost-West-Korridore ergänzen, in enger Zusammenarbeit mit Spezialisten aus unseren asiatischen Nachbarländern ausgearbeitet und entwickelt werden. Freunde aus China haben bereits die großartige Initiative der Neuen Seidenstraße eingeleitet. Diese logistischen Routen sind allen zugänglich, allerdings müssen sie durch ein vertikales Netz von Routen ergänzt werden, um ein unabhängiges logistisches Gerüst Großeurasiens zu schaffen.
Sie sollen nicht nur eine sichere und erfolgreiche Entwicklung der Länder Großeurasiens begünstigen, sondern auch kulturelle und menschliche Interaktionen vertiefen, die in vielerlei Hinsicht durch die fünfhundertjährige Dominanz der westlichen Seemächte unterbrochen wurden, die vorsätzlich die innerkontinentalen Routen zerstörten.
Ich schlage vor allem, aber nicht nur für Russland folgende Prinzipien der Entwicklung des logistischen Gerüsts "Nord-Süd" vor:
Erstens: Wirtschaftliche Berechnungen sind notwendig, doch zum wichtigsten Kriterium bei der Schaffung des Konzepts eines solchen Gerüsts müssen Faktoren der Sicherheit und der langfristigen Entwicklung werden. Privatunternehmen können und sollen zur Arbeit an konkreten Projekten herangezogen werden, doch die große Logistik ist ein Vorrecht und eine Pflicht von Staaten. Insgesamt dient der Ökonomismus aus, auch wenn Wirtschaftsexperten benötigt werden, um Strategen zu helfen und deren Eifer zu zügeln.
Als der russische Minister Sergei Witte die Notwendigkeit des Baus der Transsibirischen Eisenbahn gegenüber seinen Verbündeten begründete, war der Widerstand sowohl vonseiten der Finanzkreise, als auch vonseiten der Kaufleute, die keine Konkurrenz im Fuhrwerksverkehr wollten, riesig. Hätte Witte nicht gewonnen, hätte Russland nicht überlebt.
Aus Unterhaltungen mit Kollegen weiß ich, auf welchen Widerstand das Projekt des Baus einer Brücke über den Fluss Lena in Jakutien stieß. Das Hauptargument war der bisher geringe Verkehrsfluss. Hätte Witte auf solche Argumente gehört, hätten wir niemals die Transsibirische Eisenbahn gebaut. Ihm gelang es, eine große PR-Kampagne zu organisieren und das größte russische Genie, den aus Sibirien stammenden glänzenden Wissenschaftler, Beamten und Industriellen Dmitri Mendelejew dazu heranzuziehen. Ohne Witte hätte Russland den schwersten Krieg der Menschheitsgeschichte – den Zweiten Weltkrieg oder den Großen Vaterländischen Krieg – nicht gewonnen.
Zweitens: Das Zentrum der infrastrukturellen Entwicklung soll aus dem europäischen Teil nach Sibirien verlagert werden, auch wenn die Infrastruktur im Uralvorland aus rein wirtschaftlicher Sicht effektiver ist. Blickt man auf oder über den Horizont hinaus – und gerade ein solcher Blick ist bei der Planung der logistischen Strategie notwendig –, soll das Zentrum sowohl des Verkehrsbaus als auch der geistigen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes ausgerechnet hinter den Ural verlegt werden. Ebenso soll dort die dritte, vierte oder fünfte Hauptstadt gegründet werden, indem einige Konzerne oder Ministerien dorthin verlagert werden. Ich bin froh, dass unter anderem meine Aufrufe, Teile von Konzernen in jene Regionen zu verlegen, wo sie hauptsächlich tätig sind, auch von Wladimir Putin gehört werden. Er unterzeichnete eine Anordnung über die Sitzverlegung von fast 150 Konzernen an Orte, wo sie ihre Haupttätigkeit betreiben.
Drittens: Russland ist keine Seemacht, sondern eine Flussmacht. Einst versuchte es, sich vom kontinentalen Fluch zu lösen. Unter Peter dem Großen setzten wir auf einen Durchbruch zum Meer. Das war richtig. Doch damals wie heute nutzen wir unseren gigantischen Wettbewerbsvorteil für den Verkehr und den Wiederaufbau des Landes nicht: große Flüsse und hochwertiges Süßwasser, vor allem in Sibirien, die im Überfluss ins Nordpolarmeer münden. Selbstverständlich geht es dabei nicht um idiotische Pläne einer Umkehr sibirischer Flüsse.
Zweifellos muss unser Flussverkehr wiederbelebt und an andere logistische Korridore angeschlossen werden. In jüngster Zeit fand ich nach meinen Studien, meinen Reisen über die Flüsse Jenissei und Lena und nach meinen Befragungen von Kollegen, die Ob und Irtysch passiert hatten, dass Sibiriens Flüsse schmerzlich untergenutzt sind. Mit Ausnahme der Lena verloren sie das Potenzial der kleinen Eisbrecherflotte, die den Flussverkehr um einen bis anderthalb Monate verlängern kann. Ich weiß, dass heute das Programm des 73. Längengrads, unter anderem die Wiederbelebung des Transportkorridors über Irtysch und Ob zum Nordpolarmeer, ausgearbeitet wird. Über Irtysch soll dieser Korridor nach Kasachstan und sogar ins benachbarte China führen.
Viertens: Die neue logistische Verkehrsstrategie soll unter anderem auf die Entwicklung und den Erhalt von Kleinstädten, auf die neue Runde der Erschließung Sibiriens, auf die Sibirisierung des ganzen Landes zielen.
Fünftens: Die Verkehrskorridore müssen die Wiedergeburt der zivilisatorischen Einheit Eurasiens in seiner ganzen Vielfalt begünstigen.
Sechstens: Die neue logistische Matrix soll nicht nur die Transsibirische Eisenbahn und die Baikal-Amur-Magistrale ergänzen, sondern auch Franklin D. Roosevelts New-Deal-Programm ähneln. Nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 leitete er einen massenhaften Transportbau ein, nicht nur um das Verkehrsgerüst der USA zu stärken, sondern auch, um die gigantische Masse der Arbeitslosen mit Arbeit zu versorgen und soziale Spannungen zu mildern.
Wir haben eine solche Krise nicht. Doch Kämpfer, die vom Krieg gegen den Westen aus der Ukraine zurückkehren werden, müssen nicht nur die administrative Klasse ergänzen, sondern auch eine aussichtsreiche hochqualifizierte und gut bezahlte Arbeit erhalten, indem sie Sibiriens neue Infrastruktur bauen. Viele von ihnen werden dort bleiben, wie es beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn und der Baikal-Amur-Magistrale der Fall war.
Siebtens: Hier muss sich eine neue russische Elite bilden, die nicht, wie viele in Moskau und anderen zentralrussischen Städten, durch Westlertum und Europhilie angesteckt ist und intellektuell immer kontraproduktiver und moralisch immer verkommener wird. Die neue Elite und das ganze Land müssen sich als Erbauer des großen Projekts eines neuen sibirischen Russlands, eines Großeurasiens, fühlen. Russland braucht große Projekte, ohne sie entwickeln wir uns nur mit Mühe. Der Bau des Transportnetzes des sibirischen Russlands und Großeurasiens muss zu einem solchen Projekt werden.
Achtens: Während wir das neue Gerüst der Nord-Süd-Routen bauen, müssen wir es schon in der Projektphase gemeinsam mit unseren asiatischen Nachbarn erschaffen und ihre Möglichkeiten und Erfahrungen nutzen. Chinas Neue Seidenstraße wird bei uns oft wie ein Konkurrent der Transsibirischen Eisenbahn interpretiert, doch warum sollte sie nicht von einem anderen, viel angemesseneren Standpunkt aus betrachtet werden. Man sollte überlegen, wie Nord-Süd-Korridore mit Chinas Neuer Seidenstraße verbunden werden könnten. Dann werden wir neue Wege nach Iran, Pakistan, zu warmen Meeren, nach Indien und Afrika erhalten.
Neuntens: Wir müssen nicht nur neue logistische Verkehrswege entlang der Nord-Süd-Linie schaffen, sondern auch mit deren Hilfe unsere Denkweise ändern. Indem wir neue Verkehrswege und Magistralen bauen, werden wir uns vom veralteten und schädlichen Eurozentrismus lösen und zu einem souveränen eigenständigen Bewusstsein übergehen. Einst bildeten die großen sibirischen Baustellen die neue russische und sowjetische Elite. Auch neue Projekte sollen diesem Ziel dienen – nicht nur absolut notwendig für die Entwicklung des Landes, sondern auch erhebend für den Geist, so wie es einst beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn, der Erschließung der Nordostpassage, dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale, von Komsomolsk am Amur, Bratsk und vieler weiterer Projekte der Fall war.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst veröffentlicht bei "Rossijskaja Gaseta" am 8. September 2025.
Professor Sergei Karaganow ist Ehrenvorsitzender des Russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und akademischer Leiter der Fakultät für Internationale Wirtschaft und Außenpolitik der Higher School of Economics (HSE) in Moskau.
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