
Deutsche Opfer, russische Täter: Wie das Land Hessen Flucht und Vertreibung von 1945 lehrt

Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Dass Deutschlands Lehrer überlastet sind, ist allgemein bekannt. Deshalb greifen sie gern auf Angebote von Webseiten zurück, die ihnen vorgefertigte Unterrichtsmaterialien anbieten. Einer dieser Anbieter ist die Eichstätter Firma "Digitale Lernwelten" (Dilewe), die eigenen Angaben zufolge schon seit Jahren mit den Kultusministerien deutscher Bundesländer zusammenarbeitet.
Nun hat "Digitale Lernwelten" im Auftrag des hessischen Landesverbandes des Bundes der Vertriebenen und gefördert durch das hessische Innenministerium ein Digitalportal "Flucht und Vertreibung im europäischen Kontext" freigeschaltet, das deutsche Lehrkräfte in neun Hauptkapiteln und zahlreichen Unterkapiteln üppig mit Unterrichtsmaterialien und Arbeitsaufträgen für die Schüler versorgt. Das Unternehmen bewirbt das Projekt als "digitales Standardwerk" mit insgesamt 400 Textseiten und über 1.000 Fotografien. In Zusammenarbeit mit der Hessischen Lehrkräfteakademie können die hessischen Lehrer auch mehrere Fortbildungen zu diesem Unterrichtsstoff buchen. Das Thema – zuvor lange vernachlässigt – wird also im Gedenkjahr 2025 groß aufgearbeitet. Und das auch für die jüngeren Jahrgangsstufen, denn etliche Veranstaltungen sind ausdrücklich für Lehrkräfte der Sekundarstufe I gedacht.

Die Konzentration auf das Thema "Flucht und Vertreibung" und damit zwangsläufig auf das letzte Kriegsjahr führt dazu, dass Deutsche nahezu ausschließlich als Opfer dargestellt werden, Russen fast durchweg als Täter. Die Ersteller des Lernmaterials bieten zwar Bilder vom Ostfeldzug der Wehrmacht. Das Leid der Sowjetbevölkerung wird allerdings nur in einem einzigen Bild angedeutet, das eine Fernaufnahme von Flüchtlingen aus Stalingrad zeigt. Was mit diesen Menschen vorher geschehen ist, warum sie ihr Zuhause verloren haben und auf freiem Feld kampieren, muss dem Schüler unklar bleiben. Ebenso ihr weiteres Schicksal. Auch heute noch ist beispielsweise der mörderische Luftangriff der Luftwaffe auf Stalingrad am 23. August 1942 mit über 40.000 Toten in Deutschland weitgehend unbekannt.
Dabei hätte es sich bei der Auseinandersetzung mit europäischen Fluchtbewegungen geradezu angeboten, nicht nur die Deportation der Wolgadeutschen zu erwähnen, sondern auch die Evakuierungen und Fluchtbewegungen innerhalb der Sowjetunion im Allgemeinen. Ebenso, dass die sowjetische Bevölkerung Grund hatte, die Deutschen zu fürchten und vor ihnen zu fliehen. Massaker wie in Chozum, bei dem 188 Menschen ‒ darunter 60 Kinder ‒ im Gebiet Brjansk erschossen wurden, oder im ukrainischen Korjukowka, wo 6.700 Zivilisten getötet wurden, beweisen es.
Nun ist es nicht so, als ob der verbrecherische Charakter der nationalsozialistischen Rassentheorie und ihre Umsetzung in den Eroberungsfeldzügen der Nazis unerwähnt bleiben würden. Ja, man erwähnt sogar, dass sich die deutschen Truppen "seit Ende 1942 immer mehr aus der Sowjetunion zurückziehen mussten und auch dabei schlimme Verbrechen begingen" (welche Verbrechen, bleibt unklar). Aber schon bei der Behandlung des "Generalplans Ost" mit dem Projekt des "Lebensraums im Osten" treten empfindliche Lücken bei der pädagogischen Vermittlung zum Vorschein. Die Verbrechen "an den Völkern in den osteuropäischen Ländern" werden pauschal benannt, im Folgenden kommen dann allerdings lediglich der Holocaust und die Unterdrückung und Zwangsumsiedlung der Polen vor.
Was aber nicht konkretisiert wird, bleibt im Gedächtnis der Schüler nicht hängen. Hauptthema des Kapitels "Generalplan Ost" ist die (Zwangs-)Umsiedlung deutschstämmiger Osteuropäer in den sogenannten "Warthegau" sowie die Auswanderung der Deutschbalten im Jahr 1939, nicht jedoch der Völkermord durch Verhungernlassen, den die Nationalsozialisten gerade für die Sowjetunion vorgesehen hatten. Es kommen lediglich deutsche Zeitzeugen zu Wort, Berichte osteuropäischer Opfer der Umsiedlungsaktionen fehlen völlig. Ihr Leid wird nur aus zweiter Hand angedeutet (wenn zum Beispiel eine deutsche Zeitzeugin berichtet, wie ihre Familie von der SA eine polnische Villa samt Hund geschenkt bekam).
Opferkunde opulent gestaltet
Im Kapitel "Flucht und Vertreibung aus dem Osten" lernen die Schüler das brutale Vorgehen der Roten Armee kennen: "Das Vorrücken der Roten Armee auf dem Gebiet des Deutschen Reichs ging mit zahllosen Plünderungen, Vergewaltigungen und Morden einher. Es war auch die Rache für all die Gräueltaten, die die Deutschen in der Sowjetunion angerichtet hatten." Während der genaue Charakter der deutschen Gräueltaten in der UdSSR im Unklaren bleibt, bekommen die Kinder und Jugendlichen die Einzelheiten des Massakers von Nemmersdorf geschildert. Die propagandistische Ausschlachtung dieses Verbrechens wird zwar erwähnt (Überschrift einer zeitgenössischen Zeitung: "Bestien wüten in Ostpreußen"), als Fazit bleibt zuletzt stehen: "In Nemmersdorf geschah also definitiv ein Kriegsverbrechen sowjetischer Soldaten."
Der Untergang des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" aufgrund der Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot findet ebenfalls Erwähnung. Es wird zwar betont, dass Experten nicht von einem sowjetischen Kriegsverbrechen ausgehen ‒ unter anderem, weil sich auch deutsche Soldaten an Bord befunden haben. Aber warum stellt man den Schülern gleich im Anschluss eine Aufgabe, die als Alternative auch folgende Erklärung bietet: "Es war ein Verbrechen, also das Ergebnis der böswilligen Entscheidung eines Menschen (oder einer Gruppe von Menschen), der sich auch anders hätte entscheiden können."? Auch hier wieder das völlige Ausblenden von Ereignissen, die Sympathie oder Mitgefühl mit den Russen erwecken könnten. So wird zwar der Untergang weiterer deutscher Flüchtlingsschiffe erwähnt sowie die Irrfahrten der Schiffe "St. Louis" und "Exodus" mit jüdischen Flüchtlingen, nicht aber die Evakuierung von Sowjetbürgern aus Tallinn 1941 – ein Seetransport Richtung Kronstadt, der ebenso tragisch endete wie die Flucht der Ostpreußen auf der "Wilhelm Gustloff".
Zusätzliche Brisanz erhält das Ganze zudem durch den tendenziösen Gegenwartsbezug auf den Ukraine-Krieg. In der Fortbildungsankündigung heißt es: "Die deutsche Erfahrung von Flucht und Vertreibung, die 1945 und in den nachfolgenden Jahren mehr als 14 Millionen Menschen aus ihrer angestammten Heimat gerissen hat, ist nicht nur zentral für die historische Gründung unserer gesellschaftlichen Verantwortung zur Verteidigung von Menschenrechten, Frieden und Freiheit, sie verdeutlicht auch, warum wir nicht wegschauen, wenn Flüchtlinge etwa aus der Ukraine (und darunter auch viele Ukrainedeutsche) zu uns kommen und warum wir grundsätzlich an der Seite von Angegriffenen stehen." Keine Andeutung, dass der Ukraine-Konflikt komplexe Ursachen hat (unter anderem die Diskriminierung und den Beschuss Russischsprachiger im Donbass sowie die Einmischung des Westens). Und sind nicht auch die Erfahrung deutscher Verbrechen und ihre Sühne konstituierend für die heutige gesellschaftliche Verantwortung?
Peiniger von damals und heute
Exemplarisch für das Versagen des Nachkriegsvorsatzes "Nie wieder Krieg!" wird Russlands Militärische Sonderoperation in der Ukraine genannt. Trotz aller guten Vorsätze gerate auch heute die Zivilbevölkerung bei kriegerischen Konflikten ins Visier, Menschen würden auch heute noch "aus ihrer Heimat vertrieben oder kollektiv umgebracht". O-Ton Dilewe:
"Der mit allen grausamen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung geführte Krieg Russlands in der Ukraine, der im Jahr 2022 begann, ist dafür ein trauriges Beispiel. Menschen werden aus Städten zwangsumgesiedelt oder willkürlich beschossen."
Es fällt ins Auge, dass man Russland dafür verurteilt, dass es den Krieg angeblich mit allen "grausamen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung" führt. Das setzt zumindest horrende Opferzahlen voraus, was allerdings laut offiziellen, im Westen anerkannten Statistiken nicht der Fall ist. Der Ukraine-Krieg, der gern auch als "großangelegter Angriffskrieg" bezeichnet wird, forderte seit Beginn vor mehr als 3,5 Jahren laut UNO-Angaben etwa 14.000 Menschenleben unter Zivilisten (Tausende Getötete in Russland und in den russisch kontrollierten Gebieten nicht mitgezählt) und um dutzende Male mehr Opfer unter den Soldaten auf beiden Seiten. Dieses Verhältnis, aber auch die Referenz zum Gaza-Krieg, der nach zwei Jahren Bombardements durch die israelische Armee 64.000 Menschenopfer (darunter mehr als 18.000 Kinder) forderte, spricht nicht dafür, dass die russische Militäroperation speziell gegen die Zivilbevölkerung geführt wird.
Im Kontext des Themas der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg setzt der Hinweis auf angebliche "grausame Mittel" der russischen Kriegsführung etwas Entsetzliches wie Massenerschießungen, Aushungernlassen oder Massentötung in Gaskammern voraus. Ein Schüler, der das liest, kann nur Wut empfinden über diese Russen, die nach seinem Empfinden schon seine Vorfahren gequält haben und jetzt die Ukrainer, wie beschrieben, "auf grausamste Weise" quälen.

Ist fairer Unterricht möglich?
Nun ist im hessischen Geschichtsunterricht zwar auch der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion laut Kerncurriculum zumindest in der Oberstufe Thema, dazu fehlen allerdings ähnlich ausführlich ausgestaltete Lerneinheiten von Dilewe. Und nur weil etwas im Schulbuch steht, heißt das noch lange nicht, dass es dann auch im Unterricht behandelt wird (ganz zu schweigen zur Beschäftigung mit erschütternden Einzelschicksalen aus der Masse von 27 Millionen Opfern). Ohnehin sind die deutschen Verbrechen nach dem Überfall am 22. Juni 1941 ein stiefmütterlich behandeltes Thema in der deutschen Öffentlichkeit, nicht nur im Schulunterricht, sondern auch in den Medien. Die Folge ist ein Mangel an Mitgefühl, gerade was das Leid des russischen Volkes im Zweiten Weltkrieg betrifft.
2026 ist der 85. Jahrestag von "Unternehmen Barbarossa". Ist die deutsche Öffentlichkeit bereit, von den gegenwärtigen geopolitischen Spannungen abzusehen und das Leid der sowjetischen Bevölkerung (also auch der Russen) uneingeschränkt anzuerkennen? Wird deutschen Schülern das Schicksal der gleichaltrigen Tanja Sawitschewa aus der Blockadehölle Leningrads bekannt gemacht werden? Wird deutschen Lehrern bezüglich des Vernichtungskriegs im Osten eine ähnlich opulente Materialsammlung angeboten wie beim Thema "Flucht und Vertreibung"? Zumindest nicht in Hessen. Unter den Fortbildungsangeboten der Lehrkräfteakademie ist nichts zu den Stichworten "Unternehmen Barbarossa" oder "Überfall auf die Sowjetunion" zu finden.
Aber angesichts des täglich fortschreitenden Kurses der Bundesregierung hin auf eine Konfrontation mit Russland und einer damit zwangsläufig einhergehenden Dämonisierung des vermeintlichen Feindes erweist sich die Frage nach einem angemessen fairen Geschichtsunterricht zu den Geschehnissen im Zweiten Weltkrieg als unerfüllbares Wunschdenken.
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