
Ukraine oder Polen – Kampf um die Erstplatzierung in der Opferrolle

Von Elem Chintsky
Am ersten September wird von den Regierenden in Warschau – besonders unter der PiS – für die Deutschen häufig die abgenutzte Platte der bisher immer noch nicht angegangenen Reparationen abgespielt: Für die Schäden und Verluste, die im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Okkupation Polens entstanden sind. Es ist egal, welche Systempartei in der BRD regiert – aus Sicht der deutschen Staatsräson ist die Frage der Reparationen gegenüber Polen seit knapp einem Dreivierteljahrhundert – also erstmals bei der Verzichtserklärung Polens 1953 – geklärt und abgeschlossen. Und auch bei einer hypothetischen Regierungsbeteiligung der AfD, irgendwann in der Zukunft, ist zu erwarten, dass sich gerade diese deutsche Position keineswegs ändern wird.
Als der 2025 neu gewählte polnische Staatspräsident Karol Nawrocki zur diesjährigen Gedenkfeier in Danzig seine Rede hielt, hatte er Folgendes zu sagen:
"Um eine Partnerschaft aufzubauen, die auf Wahrheit und guten Beziehungen basiert, müssen wir die Frage der Reparationen durch den deutschen Staat klären, die ich als polnischer Präsident zum Wohle aller unmissverständlich fordere [...] Reparationen sind keine Alternative zur Geschichtsvergessenheit, aber Polen als Frontstaat, als wichtigstes Land an der Ostflanke der NATO, braucht Gerechtigkeit, Wahrheit und klare Beziehungen zu Deutschland, aber auch Reparationen durch den deutschen Staat."

Die bilaterale Geschichte dieses Zwists ist reich an Vorkommnissen, und geführt wird dieser Streit bis in die Gegenwart. Aber eine signifikante Verschärfung ergab sich ab 2004, als die rechtskonservative PiS unter Jarosław Kaczyński begann, die polnische Verzichtserklärung von 1953 als ungültig abzutun, da sie kein demokratisches Mandat gehabt habe und damals von Moskau forciert gewesen sei.
Anders als die heutige Bundesrepublik Deutschland, die sich widerspruchslos als staatliche Erbin des Dritten Reiches versteht sowie die Russische Föderation als Erbin der Sowjetunion, will die polnische Republik eher einen selektiven Weg der eigenen Staatsgeschichte gehen und behaupten, dass meist über die polnischen Köpfe hinweg entschieden wurde.
Die deutsche Seite argumentiert zudem, wenn das von der PiS popularisierte Argument über die fehlende demokratische Legitimation stichfest bleiben soll, dann müsste heute auch die territoriale Zugehörigkeit der einst deutschen Oder-Neiße-Gebiete grundsätzlich infrage gestellt werden.
Dies aber ist eine Frage, welche die polnische Elite beschlossen hat, in der Causa Reparationszahlungen zu vermeiden. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag (1990–1991) war die letzte große Gelegenheit für das schon seit 1989 souveräne Polen, Reparationen gegenüber Berlin (damals Bonn) geltend zu machen. Sie taten dies damals aber ebenfalls nicht, da die parallelen Verhandlungen zum polnisch-deutschen Grenzvertrag (1990) die Oder-Neiße-Gebiete endgültig für Warschau sichern sollten.
Die Polen wissen oft (aber nicht immer), wann man schweigen soll und wann man lauthals klagen muss: Anfang Mai 2004, als der EU-Beitritt Polens mit großem Fleiß und enormer Vorfreude errungen wurde, gab es seitens Warschaus ebenfalls keine Vorbedingungen bezüglich deutscher Reparationen, die erst an sie ausgezahlt werden müssten. Hätte es diese gegeben, dann wäre Polen bis heute kein EU-Mitglied und könnte heute nicht von sich behaupten, das vermeintliche Wirtschaftswunderland Europas zu sein. Und in den Verhandlungen über den NATO-Beitritt Polens (im März 1999, da war das Land schon eine Dekade lang "souverän" und von Moskau emanzipiert) vergaß Warschau ebenfalls, die Reparationsforderungen an Deutschland als unbedingt zu erfüllende Bedingung auf den Tisch zu legen.
Aber wer ist Nawrocki eigentlich? Er ist die Verkörperung der spezifischen polnischen Geschichtsnarrative, die – kurz zusammengefasst – besagen, dass "alle schuld sind, außer die Polen". Früher war Nawrocki Chef des polnischen Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej) und Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Demnach waren die Deutschen und die Russen Okkupanten. Davor waren die Engländer und Franzosen im Jahr 1939 die Verräter, zu denen sich die US-Amerikaner 1945 hinzugesellten. Interessant ist, dass auch die Ukrainer nicht fehlen: Sie sind die Verräter und blutrünstig mordenden Nazi-Kollaborateure, die für das Massaker von Wolhynien und für den Klau der ursprünglich polnischen Stadt Lwów (Lemberg) verantwortlich sind. Von den Zwischenkriegsjahren (1918–1939) und den damals verübten Verbrechen an der deutschen Minderheit im eigenen Land oder gegenüber der damaligen Tschechoslowakei im Herbst 1938 (in Abstimmung mit Nazideutschland) ist in den großen Museen Polens, die Nawrocki bis vor kurzem kuratierte, derweil nichts zu erfahren.
Viele Prozesse – darunter eine tiefe soziopolitische Krise innerhalb der Ukraine, wachsende Fremdenfeindlichkeit in Polen gegenüber ukrainischen Migranten, polnische Genozid-Vorwürfe, zuletzt womöglich Gebietsansprüche – laufen gleichzeitig auf einen singulären Kollisionspunkt hinaus. Ende August hatte Nawrocki drei von insgesamt acht Gesetzesentwürfen mit seinem Veto blockiert – darunter einen, der die Staatshilfe für in Polen lebende Ukrainer noch erweitern sollte. Wortwörtlich sagte Nawrocki dazu:
"Wie ich bereits [im Wahlkampf] sagte: 'Polen zuerst – die Polen zuerst' ist nicht nur ein Wahlkampfslogan, sondern ich glaube, dass wir hier eine Art soziale Gerechtigkeit erreichen sollten."
Der Preis im Wettbewerb um den Status des vom "russischen Imperialismus" am stärksten betroffenen Landes Europas ist sowohl in Warschau als auch in Kiew eine begehrte Trophäe. Die Ukraine hat hierbei den Vorteil des zeitgenössischen Effektes des Internet-Zeitalters: Sie erntet seit 2013/2014, und verstärkt seit Februar 2022 – mit nur kleinen Unterbrechungen – die populärsten Plätze im westlichen Nachrichtenfluss. Ganz zu schweigen von der milliardenschweren monetären und militärischen Hilfe des Westens – davon hätte im (inflationsangepassten) Äquivalent ein Polen in den Jahren 1939 bis 1945 nicht einmal ansatzweise träumen können. Allem Anschein nach wollen sich beide nicht solidarisch den ersten Platz auf dem Opfer-Podium teilen.
Auch der Wahlsieg Nawrockis ist ein potenzieller Indikator für die zivilisatorische Etappe des neuen Unmuts im heutigen Polen, der sich irgendwo eine Gelegenheit zur Entladung suchen wird. Wo aber könnte das hin kanalisiert werden? Die Deutschen werden keine Reparationen zahlen, denn sie haben mehrfach betont, dass die Angelegenheit für sie völkerrechtlich abgeschlossen sei. Die USA, Frankreich und Großbritannien werden nicht belästigt – sie sind geografisch zu weit weg und jegliche Klagen Polens würden in den dortigen auf Geschichtsvergessenheit und pragmatische Profitmaximierung getrimmten Salons nur Gelächter auslösen. Zumal die geopolitische Ehrfurcht Warschaus vor Paris, London und Washington, D.C., einen solchen Impuls im Keim ersticken würde.
Für eine diplomatisch-ökonomisch gestaltete Konfrontation mit Russland sind die Polen zwar stets zu haben gewesen, aber allen tollkühnen Behauptungen zum Trotz würde es für eine militärische Entladung an Waffen und Soldaten fehlen. Das einzig verbliebene, bespielbare und verfügbare Ziel, das wie ein tödlich verwundetes Tier gerade am Boden liegt, ist also die Ukraine. Wenn Warschau behauptet, dass "jeder uns etwas schuldig ist" und Kiew ebenfalls behauptet, dass "jeder uns etwas schuldig ist" (beide berufen sich dabei auch auf ihre prominente Position an der NATO-Ostflanke) – wo ist da die symbiotische Schnittmenge oder der Raum für einen kohärenten Kompromiss? Sie ist wohl eher nirgends zu finden. Aber laut dem polnischen Unmut, an dessen Spitze Nawrocki nun herausragt, muss von irgendjemandem zumindest eine der Rechnungen beglichen werden.
Noch sollen wohl auf den ersten Blick solche Deutungen vermieden oder mit dem Siegel "russischer Propaganda" entschärft werden, wenn man den weiteren Gedanken Nawrockis lauscht:
"Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf enthält auch eine für uns Polen sehr wichtige Komponente: Er soll der russischen Propaganda ein Ende setzen und die polnisch-ukrainischen Beziehungen auf der Grundlage echter Partnerschaft, gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Sensibilität aufbauen. Ich bin der Meinung, dass wir den klaren Slogan 'Stoppt den Banderismus' in diesen Gesetzentwurf aufnehmen und das Bandera-Symbol im Strafgesetzbuch mit Symbolen gleichsetzen sollten, die dem deutschen Nationalsozialismus, allgemein bekannt als Nazismus, und dem sowjetischen Kommunismus entsprechen. Wir sollten auch das Gesetz über das Institut der Erinnerung der Nationalen Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen das polnische Volk im Hinblick auf die Verbrechen der OUN-UPA korrigieren."
Aber genau in diesen harmlos formulierten, sogar vernünftigen Bedingungen geht Nawrocki mit Kiew auf Kollisionskurs, wenn man sich die ukrainische Reaktion auf seine Vorschläge anschaut. Für das heutige Kiewer Regime gibt es ohne den Banderismus eben keinen ukrainischen Nationalstolz – und ohne ukrainischen Nationalstolz keine Ukraine, die sich gegen Russland verheizt. Wobei wohl die einzigen, die tatsächlich eine echte 'Stoppt den Banderismus'-Kampagne verfolgen, die Russen seit Februar 2022 sind. Die tragische Schizophrenie der Polen ist, dass sie den für sie wahrhaft widerwärtigen ukrainischen Banderismus dem russophoben NATO-Diktat zuliebe zähneknirschend dulden und beschönigen mussten. Dieser Trend beginnt aber nun schrittweise in eine Kehrtwende einzubiegen.
Wenn also jemals NATO-Truppen in die Ukraine geschleust werden, könnte es sein, dass als Erstes die Länder vorgeschickt werden, die historisch halbwegs nachvollziehbare (potenzielle) Gebietsansprüche machen könnten: Polen selbst, Rumänien und Ungarn. Zumal jede dieser Nationen ganz eigene Beweggründe dafür haben wird. Wie es der Zufall will, sind all diese Länder stolze NATO-Mitglieder. Und Warschau wird sich diese seltene Gelegenheit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht entgehen lassen wollen. Folglich könnte die polnische Republik dem Spitznamen "Hyäne Europas", den sie einst von Winston Churchill verliehen bekam (in "The Gathering Storm" von 1948, zu finden auf Seite 311), erneut gerecht werden.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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