Meinung

Geschichte ist nötiges politisches Handwerkszeug

Abgesehen von der bizarren "Staatsräson" und als Begründung für Repression bezieht sich deutsche Politik eigentlich nicht auf die Geschichte. Im Gegenteil. Schon eine tiefere Beschäftigung damit gilt als suspekt. Dabei ist das für vernünftige Politik unverzichtbar.
Geschichte ist nötiges politisches HandwerkszeugQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Eibner-Pressefoto/Jonas Lo

Von Dagmar Henn

Als Tucker Carlson im vergangenen Jahr den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewte, konnte man in vielen Kommentaren auch deutscher Zeitungen dazu lesen, wie nervig doch Putins historische Ausführungen seien. Tatsächlich wirken politische Aussagen etwa innerhalb der EU eigenartig geschichtslos, mal abgesehen von dem fixierten Narrativ, nach dem Russland immer das Böse war; was nicht einer gewissen inneren Logik entbehrt, weil dieser nun durch wirtschaftlichen und politischen Zwang zusammengetriebene Block EU aus einem Territorium besteht, auf dem hunderte von Kriegen in verschiedensten Koalitionen stattfanden, das also die "europäischen Werte" nur konstruieren kann, indem Widersprüchlichkeiten geleugnet werden. Die natürlich dennoch immer wieder hervorbrechen, beispielsweise wenn aus Polen Reparationsforderungen gegen Deutschland ins Spiel gebracht werden...

Nun mag man es für eine Geschmacksfrage halten, ob man sich mit Geschichte befasst, um Politik für die Gegenwart zu formulieren oder nicht. Schließlich verbrachte man im Westen die letzte Generation damit, den Aberglauben zu verbreiten, alles ließe sich mit betriebswirtschaftlichen Berechnungen entscheiden, und je mehr sich Staaten und alle politischen Körperschaften darunter wie Unternehmen verhielten, desto besser könnten sie ihre Aufgaben lösen. Das Dumme ist nur: für die Steuerung politischer Prozesse ist die Betriebswirtschaft völlig ungeeignet, und historisches Wissen ist eine notwendige Voraussetzung, um richtige Entscheidungen zu treffen. Dafür gibt es starke technische Gründe.

Einer der Begriffe, der erkennen lässt, warum, ist der Planungshorizont. Der langsamste Zyklus in einer Fabrik ist der Erneuerungszyklus großer Maschinen. Weit größere Aufmerksamkeit liegt allerdings auf den Geldumlaufzyklen von Rohstoffen bis zum verkauften Endprodukt, und Quartalsbilanzen sind da mittlerweile die Norm. Im Bereich der Spekulation sind die Zyklen teilweise auf Sekunden geschrumpft; der naturgegebene Jahreszyklus von Agrarprodukten wirkt schon fast wie Zeitlupe.

Die politischen Horizonte sind anders. Selbst bei vergleichsweise einfachen, überschaubaren Fragen wie der, wieviele Kindergartenplätze und Erzieher gebraucht werden, ist die Grundlage die Geburtsstatistik und der Zeitraum, den die Planung umspannen muss, beträgt mehrere Jahre. Große Infrastrukturinvestitionen, wie der Bau von U-Bahnen, erfordern meist Prognosen zur Entwicklung einzelner Stadtteile, über einen Zeitraum von mindestens ein, zwei Jahrzehnten. Wer mal einen Blick auf Projekte von Stadtplanung geworfen hat, wird feststellen, dass gelegentlich zwischen dem ersten Auftauchen eines Projekts und dessen tatsächlicher Umsetzung bis zu hundert Jahre vergehen.

Den Rekord in dieser Hinsicht dürfte übrigens der Rhein-Main-Donaukanal halten, der das erste Mal bereits zu Zeiten von Karl dem Großen versucht wurde. Reste der Fossa Carolina aus dem Jahr 793 sind bis heute erhalten; es ist aber unklar, ob sie die angestrebte Verbindung zwischen dem zum Rhein führenden Flüsschen Rezat und der zur Donau führenden Altmühl jemals hergestellt haben.

Aber die Folgen, wäre dieses Kanalprojekt gelungen und erfolgreich gewesen, könnten enorm sein - hätte sich das kleine Wikingerfürstentum, das dem heutigen Russland vorausging, je so entwickelt, wenn es lange zuvor schon eine etablierte Handelsverbindung nach Byzanz über Rhein und Donau gegeben hätte? Hätte die Kirchenspaltung zwischen Ost und West im Jahr 1054 überhaupt stattgefunden, wenn die Handelsverbindung einfacher und schneller gewesen wäre? Welchen Einfluss hätte das auf die Mongolenstürme gehabt, hätte es zu diesem Moment bereits seit Jahrhunderten diese dann vermutlich bereits erweiterte Abkürzung gegeben?

Das ist ein Bauwerk, und natürlich reine Spekulation, aber es dient auch nur als Beispiel, von welchen Zeiträumen man hier unter Umständen redet, und um eine Vorstellung von der Größenordnung möglicher Folgen zu vermitteln. Tatsächlich müssen kluge politische Entscheidungen auch den langen Horizont mit einbeziehen, nicht notwendigerweise Jahrhunderte, aber auf jeden Fall Jahrzehnte.

Aber im Gegensatz zur Betriebswirtschaft, in der es durchaus standardisierte Verfahren gibt, mit denen sich Produktionsprozesse bewerten lassen, von der Fehlerquote bis hin zur Kapitalverzinsung, gibt es diese Verfahren bezogen auf das politische Feld weitestgehend noch nicht. Der Ausgangspunkt der marxistischen Theorie war der Versuch, den Triebkräften der Geschichte auf die Spur zu kommen. Inzwischen gibt es erste Ansätze insbesondere bezogen auf politische Krisen, durch die Untersuchung möglichst großer Mengen statistischer Daten auf belegbare Zusammenhänge zwischen politischen Entscheidungen und ihren Folgen zu kommen, aber das sind bisher nur einzelne Fragen, und die Technik ist noch Lichtjahre von dem entfernt, was der US-Schriftsteller Isaac Asimow mal als "Psychohistorie" erfand.

Immerhin lassen sich einige Eckdaten feststellen, die allerdings nicht überraschen: Verschlechterungen der Sozialleistungen haben ein höheres Potential für Unruhen als Steuererhöhungen, soziale Abstiege dominanter Bevölkerungsgruppen erhöhen das Risiko für Bürgerkriege, und soziale Ungleichheit destabilisiert. Nichts wirklich Überraschendes, wenn man etwas bessere historische Kenntnisse hat. Der große deutsche Bauernkrieg, der sich heuer zum 500. Mal jährt, war das Resultat einer vergleichsweise abrupten Verschlechterung in den Lebensverhältnissen der leibeigenen Bauern (abrupt heißt in diesem Zusammenhang, in weniger als einer Generation), so wie auch ein Zusammenhang zwischen den durch den Ausbruch eines isländischen Vulkans ausgelösten Missernten und der Französischen Revolution auch ohne statistischen Beleg sehr wahrscheinlich ist.

Aber zumindest, solange diese statistische Methode nicht auf eine weit größere Anzahl von Fragestellungen ausgeweitet wurde, gibt es nur eine Möglichkeit, um auch nur ein Gespür für das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung auf längere Zeit zu bekommen: möglichst umfassende historische Kenntnisse. Denn nur auf diese Weise kann man womöglich an ähnliche Fragestellungen kommen und zumindest Vermutungen darüber anstellen, welche Folgen eine bestimmte Entwicklung haben könnte.

Und letztlich sind es die langfristigen Entwicklungen, die über Erfolg oder Misserfolg politischer Entscheidungen bestimmen. Einfaches Beispiel: seit die Kommunen ihre Aufträge bereits bei relativ geringen Beträgen europaweit ausschreiben müssen, gingen örtlichen kleinen Handwerkern große Teile ihrer Aufträge verloren, zumindest in den Metropolen. Also konkretisiert: die öffentlichen Aufträge gehen in einer Stadt wie München immer an Handwerker von außerhalb, weil die Münchner Mieten so hoch sind (was teilweise, muss man der Ehrlichkeit halber sagen, dann durch subventionierte Gewerbemieten kompensiert wurde).

Diese Vergabe hat langfristig einen Einfluss auf das Angebot an, sagen wir einmal, Klempnern und Schlossern in der Stadt - es werden sich kaum noch welche finden. Im Endeffekt wird dadurch für alle, nämlich auch für die Einwohner, die handwerkliche Leistung teurer, als sie es zuvor war; und gleichzeitig wird allein dadurch, dass bestimmte notwendige Fähigkeiten verschwinden, die gesamte Stadtgesellschaft instabiler. Wenn man daran denkt, dass manche der Probleme, für die man Klempner oder Schlosser braucht, wieder zu einem volkswirtschaftlichen Schaden führen können, weil andere Arbeiten zwischenzeitig nicht verrichtet werden können, wird klar, dass die anfänglich wirksame Einsparung am Ende keine ist. Das ist keine Wirkung, die von heute auf morgen eintritt, aber eine, die nach zehn, zwanzig Jahren zu merken ist.

Es gibt, sofern man sich etwas tiefgehender mit historischen Themen beschäftigt, noch andere wichtige Punkte zu lernen: den Unterschied zwischen Selbstbild und historischer Wahrnehmung beispielsweise; wie Ereignisse mythologisiert werden (also gelegentlich von zwei entgegengesetzen Erzählungen keine stimmt); auf welche Weise sich Interessen tatsächlich umsetzen, oder unter welchen Umständen sich wessen Interessen durchsetzen können. Wodurch Entwicklungen außer Kontrolle geraten können. Sprich, es schafft die Voraussetzung, auch das eigene Handeln selbstkritisch zu betrachten.

Allerdings: wenn jemand Politik nur als Karriereoption betreibt, also gar kein wirkliches Interesse am Resultat seiner Arbeit hat, dann stellen sich auch diese Fragen nicht. Innerhalb des Parteienapparats ist es nicht notwendigerweise willkommen, wenn man sich den Themen zu gründlich stellt; einfach nur wiederkäuen, was gerade die aktuelle politische Mode gebietet, ist nützlicher, um voranzukommen. Und das Publikum, die Wählerschaft, die eigentlich ein Recht auf Rechenschaft hat, und auf eine objektiv meßbare Leistung, wird mit viel Theatralik auf wenig relevante Felder gelenkt - Transtoiletten statt bezahlbarer Wohnungen.

Für eine Politik im Interesse der Bevölkerung ist historisches Wissen unverzichtbar. Für eine Politik, die anderen Interessen dient und deren Politiker vor allem nach eigenem Vorteil streben, ist sie unnützer Ballast und lenkt von den wirklich wichtigen Dingen ab, wie den Parteiintrigen und erfolgreichen Werbemaßnahmen für die eigene Karriere. Der Wähler allerdings, der seine eigenen Interessen im Blick hat und deren Umsetzung erwartet, kann jene, die ihm nicht nützen werden und nicht nützen wollen, unschwer daran erkennen, dass sie die Beschäftigung mit Geschichte für überflüssig halten.

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