Meinung

Mordfall Parubij: Wofür sich ein Vater an der Politik rächen wollte

Das Attentat auf den ukrainischen Politiker Andrei Parubij galt jedem Politiker, der für den Krieg gegen den Donbass verantwortlich ist. Marina Achmedowa hat sich die Geschichte des Attentäters, seiner geschiedenen Ehefrau und des zum Nationalismus verführten Sohnes genauer angesehen.
Mordfall Parubij: Wofür sich ein Vater an der Politik rächen wollte© Foto aus sozialen Netzwerken

Von Marina Achmedowa

Nach Aussage des Mörders des Nazis Andrei Parubij, Michail Szelnikow, sei diese Tat Rache für seinen im Krieg gefallenen Sohn gewesen. Allerdings richte sie sich nicht persönlich gegen Parubij, sondern gegen den gesamten ukrainischen Staatsapparat, der die sterblichen Überreste seines Sohnes nicht zurückgebracht habe. Er wünsche sich lediglich, im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Russland überstellt zu werden, um die Möglichkeit zu haben, die Leiche seines Sohnes zu finden.

Der Sohn des Attentäters – Michail Szelnikow, Jahrgang 1993 – trat 2022 freiwillig in die ukrainischen Territorialverteidigungskräfte ein. Sein Rufzeichen war "Lemberg". Er kam im Mai 2023 bei Artjomowsk ums Leben. Seine Leiche wurde nicht geborgen. Und jetzt reden alle über den Vater als Mörder, aber Szelnikow junior hatte ja auch noch eine Mutter.

Die Mutter ist keine Unbekannte: Die Schriftstellerin Elena Tscherninkaja aus Lwow hat nach dem Tod ihres Sohnes ein Buch mit dem Titel "Lemberg. Mama, bitte weine nicht" geschrieben. Zuerst versuchte sie ihr Trauma in sozialen Netzwerken zu verarbeiten, indem sie Geschichten über ihren Sohn erzählte, und sammelte diese dann in einem Buch. Nun reist sie mit einer schwarzen Rose im Haar durch die ukrainischen Städte, um ihr Buch vorzustellen, und versammelt Säle voller weinender Frauen.

Das Buch beginnt so:

"Am 13. Oktober wurde ein Junge geboren, den man Michailo nannte. Ein Junge, der nie weinte. Passiert so etwas? Ich hätte es selbst nicht geglaubt, wenn es nicht mein Sohn gewesen wäre."

Zweifellos weinte sie, als sie dies schrieb, und erlebte die Kindheit ihres Sohnes noch einmal.

Anschließend schrieb sie die Geschichte über ein Eichhörnchen auf, das sie sich mit ihrem Sohn angeschafft hatten. Sie fanden für das Tier lange keinen passenden Tiernamen, bis sie schließlich auf "Chtos" (ukr: Irgendjemand) kamen. Aber Chtos wurde bald krank und verstarb.

Einige Kapitel später erzählt Tscherninkaja, wie sie einen Anruf von der Telefonnummer ihres Sohnes erhielt, wobei die Stimme von einem Fremden stammte.

"Ist etwas passiert?", fragte sie. "Ist er verletzt?"

"Leider wurde er getötet."

"Oh Gott", sagte die Mutter, "ist das wirklich so?"

Wie jede andere Mutter ist auch Elena Tscherninkaja davon überzeugt, ihr Sohn sei der allerbeste Mensch gewesen. Das klingt aufrichtig, zumal er bis 2014 die Heldentaten der sowjetischen Soldaten bewunderte und ihnen für den Sieg über den Faschismus dankbar war. In den sozialen Netzwerken sprach er sich gegen den Nationalsozialismus aus.

Nach dem Sieg des Maidan begann er, Ukrainisch zu sprechen und US-Soldaten zu loben.

Im Jahr 2014 war sein Tod jedoch noch weit entfernt, und seine Mutter verfasste zu dieser Zeit Bücher mit ganz anderem Inhalt. Die Buchtitel sagen alles: "Selfie in Paris", "Die weibliche Brust. Leidenschaft und Schmerz", "Der Hof der verdorbenen Seelen". Während ihr Sohn aufwuchs, gab sie Interviews, in denen sie ganz offen erzählte, dass sie und ihre Schwester in Lwow geboren wurden, ihre Mutter aus Ternopol stammt, ihr Vater aus Belgorod, dass sie sowohl Russisch als auch Ukrainisch als Muttersprache sprechen und dass sie in Moskau gelebt hat. Wie wurde eine Frau aus Galizien in Moskau empfangen? "Ausgezeichnet! Die Menschen sind überall gleich."

In dem Buch über ihren Sohn erwähnt Tscherninkaja immer wieder, dass er ein freier Mensch war. Er sei Vertreter einer neuen Generation von Ukrainern gewesen, für die die Ukraine nicht nur ein Wort, sondern ein Lebensprinzip sei. Und für dieses Prinzip könne man sein Leben riskieren. Alle, die zu den Waffen gegriffen hätten, seien sich ähnlich: Sie seien freie Menschen, die in einem freien Land geboren worden seien und nicht wüssten, was es bedeute, in Unfreiheit zu leben.

Als ob ihr früheres Leben mit Umzügen zwischen Lwow und Moskau und der freien Wahl der Sprache Unfreiheit gewesen wäre ... Die "Maidan"-Ereignisse haben vielen eine Weggabelung vorgegaukelt, auf der stand: "Hier ist Freiheit. Dort ist Unfreiheit". Nur hat irgendjemand zuvor die Wegweiser vertauscht.

Wenn man das Interview mit Tscherninkaja liest, dann kann man sich bildlich ausmalen, wie sie selbst ihren Sohn an der Hand nahm und ihn auf den falschen Weg führte. Einen Weg, an dessen Ende er, der sich zunächst den russischen Rufnamen "Lwow" gewählt hatte, auf Drängen seiner "Kameraden" ihn in "Lemberg" ändern musste. Und sie musste am Ende des Weges diesen einen eindringlichen Satz sprechen: "Oh Gott, ist das wirklich so?"

Elena Tscherninkaja verweist häufig auf den Psychologen Viktor Frankl, der das Konzentrationslager überlebte, und zieht daraus Parallelen. Frankl sagte jedoch, dass unter unerträglichen Umständen diejenigen überleben, die einen Lebenssinn haben und verstehen, wofür sie leben – um aus dem Konzentrationslager zu entkommen und ihre Eltern oder Kinder wiederzufinden.

Für Tscherninkaja liegt der verbliebene Lebenssinn darin, dass sie in ihrem "Hof der verdorbenen Seelen" anderen Müttern mit Geschichten über ihren Sohn hilft, das Verlusttrauma zu verarbeiten. So erzählt sie auf selbstlose Weise, wie sie und ihr Sohn im Park das Eichhörnchen Chtos begraben haben, dann nach Hause zurückgekehrt sind und sie aus dem Badezimmer seltsame Geräusche hörte. Es dauerte etwas bis sie begriff, dass sie zum ersten Mal das Weinen ihres Sohnes hörte.

Der Vater lebte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr mit ihnen zusammen. Es scheint, dass ihm niemand dabei half, sein Trauma zu bewältigen. Er versuchte es auf die eigene Weise: Er tötete einen Nazi.

Übersetzt aus dem Russischen.

Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin und Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation. Man kann ihr auch auf ihrem Telegram-Kanal folgen. Diesen Beitrag verfasste sie exklusiv für RT.

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