Meinung

Russland kann keine Waffenruhe gebrauchen: Ukraine ganz einnehmen oder Kiew zur Kapitulation zwingen

Angesichts der Verhandlungen Trumps mit Putin in Alaska, die nicht zuletzt einer Beilegung des Ukraine-Konflikts gelten, stellt sich manchen erneut die Frage: Bringt Russland ein rein politischer Frieden etwas oder ist dieser – im Gegenteil – vielleicht sogar gefährlich?
Russland kann keine Waffenruhe gebrauchen: Ukraine ganz einnehmen oder Kiew zur Kapitulation zwingen© Soziale Medien

Von Timur Schehrsad

Der Preis für einen Abbruch der Sonderoperation ist höher, als er manchen vielleicht scheint. Der Gegner, vertreten nicht nur durch die Ukraine, sondern vor allem auch durch die meisten westlichen Länder, hat erkannt, dass er Russland militärisch nicht besiegen kann. Der langjährige Zermürbungskampf trägt zudem noch deutlich handfestere Früchte – die ukrainischen Streitkräfte erleiden einen Fronteinbruch nach dem anderen. Unter diesen Bedingungen ist der Gegner wahrscheinlich bereit, Frieden zu schließen – allerdings immer noch keinen solchen, der es Russland ermöglichen würde, die Ziele seiner militärischen Sonderoperation auch ohne Kampfhandlungen zu erreichen.

Die ukrainischen Regierungsbehörden bereiteten sich bereits seit dem Jahr 2014 auf einen umfassenden militärischen Breitfronten-Konflikt mit Russland vor. Nicht weniger wichtig als der Bau von Befestigungsanlagen und Ähnlichem war die Indoktrination und psychologische Aufrüstung der Bevölkerung. Mit Beginn der Sonderoperation im Jahr 2022 schließlich war dieser Aspekt der Kriegsvorbereitung im Kontrast zwischen den beiden Gesellschaften besonders deutlich spürbar.

Wenn Russland am Ende nicht in der einen oder anderen Form die Kontrolle über die gesamte Ukraine übernimmt, wird auch diese Indoktrination und psychologische Aufrüstung weitergehen. Zerstörung, Verlust von Menschen und Gebieten – die Propaganda des Feindes wird all dies Russlands böswilligen Absichten zuschreiben und nicht seiner eigenen kurzsichtigen Politik. Und die ukrainische Gesellschaft wird daraus eine grundlegend falsche Schlussfolgerung ziehen – wie zuvor die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, als die Dolchstoßlegende und die aufrichtige Überzeugung, sie hätten mit nur wenig mehr Aufwand gewonnen, den Zweiten Weltkrieg ermöglichten.

Somit würde Russland durch ein hypothetisches Ende seiner Operation, das nicht durch das Erreichen aller gesetzten Ziele – ob nun auf militärischem oder diplomatischem Wege –, sondern allein durch politischen Willen erzwungen wird, sich selbst in eine Lage bringen, in der der Konflikt zwar später, aber unweigerlich zu Ende ausgetragen werden muss. Das heißt: Ein Frieden, der nicht mit "Entnazifizierung und Demilitarisierung" samt funktionierenden Mechanismen zum Überwachen ihrer Umsetzung einhergehend herbeigeführt wird, wird sich nur als eine Verschnaufpause von fünf, zehn oder 15 Jahren erweisen.

Falls es aber wirklich eine Atempause gibt, dann bestimmen die Bedingungen, unter denen alle Parteien ihr zustimmen, die Ausgangslage für das nächste Entbrennen des Konflikts. Und den Zustand, in dem jeweils nicht nur Russland, sondern auch der Gegner "den Satz angehen" wird.

Wird Russland von einer solchen hypothetischen Atempause Vorteile haben? Ja. Zeit für Armeereformen, die Produktion von Waffen und militärischer Ausrüstung, das Auffüllen der Arsenale, Lager und Depots mit Munition. Und die von Gefechten ermüdeten Soldaten können zeitweilig aufatmen, die Mobilisierten kehren nach Hause zurück. Doch neben den Vorteilen müssen wir auch die Nachteile verstehen.

Müdigkeit

Militärische Operationen erschöpfen jeden, keine Frage, doch ein russisches Sprichwort sagt:

"Wo der Dicke sich nur schlank hungert, wird der Dünne krepieren." 

Und Russland und die Ukraine befinden sich nun mal jeweils in unterschiedlichen Gewichtsklassen – der Unterschied in Größe, Bevölkerung und wirtschaftlichem Entwicklungsstand beeinflusst eben auch die Vergleichbarkeit der Truppenmüdigkeit.

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: In Russland leben mehr Menschen. Das bedeutet, dass der Ukraine bestimmte Kategorien kampfbereiter Männer schneller ausgehen – ganz gleich, mit welcher Einstellung zur Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt. Russland führte beispielsweise eine teilweise Mobilmachung nur durch, als es dringend notwendig wurde, den Konflikt vom Manöver- in den Stellungskrieg zu überführen und eine kontinuierliche Front zu schaffen. Seitdem diese Aufgabe gelöst wurde, führte Russland die Kampfhandlungen nur noch unter Anwerbung von Freiwilligen durch. In der Ukraine sind diese jedoch längst ausgeschöpft – der Gegner rekrutiert Verstärkung, indem er Menschen buchstäblich auf der Straße einfängt und sie, in Kleinbusse gestopft, zu den Übungsplätzen und zunehmend sogar direkt an die Front bringt. Sogar der militärische Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Alexander Syrski, gab dies zu: Anfang August erklärte er, Kiew habe große Probleme mit seiner Mobilmachung, während die Russen ihre Truppen ihm zufolge stetig um 9.000 Mann pro Monat aufstocken.

"Dort graben die mit ihren Händen schneller als wir hier mit Baggern",

schreibt sichtlich gereizt einer der ukrainischen Blogger über die Aktionen der Stoßtrupps des Truppenverbands Mitte, die einen tiefen Durchbruch erzielt haben.

Kein Wunder: Denn der Durchschnittsbürger, der auf der Straße erwischt und in einen Kleinbus gepfercht wurde, arbeitet sogar noch mit einem Bagger extrem träge und langsam. Mehr verfügbare Leute bedeuten außerdem mehr Zeit zum Ausruhen. Russland kann sich mehr Rotationen und Urlaub für seine Soldaten leisten. Gleichzeitig werden die kampfbereitesten Brigaden der ukrainischen Streitkräfte von einem komplizierten Frontabschnitt zum anderen gescheucht. Klar: Alle werden müde. Es ist für alle hart, aber der Gegner erreicht eben deutlich schneller den Zustand "fix und alle". Ein müder und ausgelaugter Mensch macht häufiger Fehler. Er neigt auch eher dazu, die Einheit unerlaubt zu verlassen, Befehle zu missachten oder zu sabotieren, hysterisch zu werden und die Konzentration zu verlieren. Er kann sich ergeben oder Selbstmord begehen, weil er entscheidet, dass es gar nicht mehr weitergeht oder "nichts mehr Sinn macht".

Darüber hinaus ist Russlands Feuerkraft deutlich höher. Dies galt selbst auf dem Höhepunkt westlicher Ausrüstungs- und Waffenlieferungen an die Ukraine. Und jetzt gilt es umso mehr: Russland verfügt über eine vollwertige Luftwaffe mit einem Arsenal von Lenkgleitbomben bis zu ungelenkten Raketen, es hat in allen Teilstreitkräften mehr Lenkflugkörper, es hat mehr Rohr- und Raketenartillerie und Geschosse für sie. Es gibt Nuancen hinsichtlich der Qualität des Teils der Artilleriemunition, der im Ausland produziert wird, allerdings … mehr ist auch dann noch mehr, zumindest ist mehr nicht weniger.

Was die Drohnen angeht, hängt es davon ab, wen man fragt. Die Soldaten auf beiden Seiten, die von Drohnen des Gegners angegriffen werden, neigen zu der Ansicht, dass der jeweilige Gegner hier auf diesem Gebiet stärker ist. Diejenigen, die die Drohnen losschicken, denken im Gegenteil, dass sie stärker aufgestellt sind. Besonderheiten der Wahrnehmung. Zumindest durchdringen russische Langstrecken-Angriffsdrohnen die Stellungen gegnerischer Luftabwehrsysteme deutlich besser – das belegen die vielen Ansichten brennender Militäreinrichtungen in Kiew und anderswo, die auf Bild- und Videomaterial im Internet verfügbar sind.

Mehr Feuerkraft bei uns bedeutet höhere Verluste für den Feind. Die ukrainischen Streitkräfte haben daher weniger verfügbare Infanterie und …? Richtig, sie sind erschöpfter.

Wenn man also jetzt die Sonderoperation stoppt, profitiert der Gegner stärker von der Atempause als Russland. Einfach deshalb, weil er jetzt körperlich erschöpfter ist. Er hat die Pause nötiger.

Und wenn die Ukraine fünf bis zehn Jahre lang in Ruhe gelassen wird, hat auch Europa Möglichkeiten und Zeit, seine Waffenproduktion hochzufahren. Danach werden die ukrainischen Streitkräfte wieder deutlich mehr Panzer, Raketen und Granaten erhalten, und all dieses Eisen muss erneut in langwierigen, blutigen Schlachten zermahlen werden. Wenn aber die Bilanz der Vorteile durch eine Atempause nicht zu Russlands Gunsten ist, so bedeutet das, dass in Zukunft noch mehr Blut vergossen werden muss.

Außerdem wird der Feind sein Militärpersonal auf Kosten einer neuen Generation von Ukrainern wiederaufstocken können. Deren Gehirne werden natürlich von Kindheit an durch Propaganda einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen – und es wird danach nicht schwer sein, sie zum Kämpfen im Krieg zu motivieren. Die Ukraine wird gedemütigt sein, aber nicht zerstört, und dabei gleichzeitig paradoxerweise ermutigt – gemäß der Idee: Da sie sich gegen das große Russland behauptet hat, bedeutet das, dass sie auch eine Revanche auf die Beine stellen kann.

Gleichzeitig wird im Falle einer hypothetischen Atempause für Russland alles anders sein. Und hier ist der Grund.

Nicht mit Übermacht siegen, sondern mit Können

Kampfhandlungen bedeuten Stress, hohe Risiken und meist die Unmöglichkeit, gut auszuschlafen. Das ist Verschleiß von Gesundheit und Nerven. In einem Zermürbungskrieg brennen die Menschen aus. Wenn der Krieg dann zu allem Überfluss nicht mit der Niederlage des Gegners und dem Erreichen der gesetzten Ziele endet, wird Enttäuschung erschwerend hinzukommen – und Menschen mit überaus umfangreicher, wertvoller Kampferfahrung werden die Armee verlassen. Nachdem sie im Kampfgebiet schweren Stress erlebt haben und dabei nicht von ultranationalistischer Propaganda durchtränkt sind, werden sie ein zweites Mal nicht mehr mit dem gleichen Eifer wie beim ersten Mal in die Reihen eintreten. Ihre erneute Rekrutierung wird mehr Geld und Mühe erfordern – und wenn der Tag X kommt, wird der Löwenanteil der Armee dann doch aus neuen Leuten bestehen – die noch keine Gelegenheit hatten, an Kampfhandlungen teilzunehmen.

Im Klartext: Die Kampferfahrung, die während der Sonderoperation erworben wurde, ginge Russlands Militär dann verloren – wie einer jeden Armee auf der Welt, die längere Zeit nicht gekämpft hat; in diesem Fall vielleicht noch etwas mehr. Wir können uns anhand des Korea-Krieges und des ersten Tschetschenien-Krieges vor Augen führen, wie sich so etwas auswirkt: Sowohl die Streitkräfte der Sowjetunion beziehungsweise Russlands als auch die US-amerikanischen traten, gelinde gesagt, unvorbereitet in diese Konflikte ein. In beiden Fällen geriet die Kampferfahrung jeweils innerhalb von nur fünf Jahren in Vergessenheit – und in beiden Fällen kostete es Blut, sie wieder wachzurufen.

Der Durchbruch, den der Truppenverband Mitte gerade erzielt hat, zeigt, dass Russland endlich ein Gegenmittel gegen die von der Ukraine groß angekündigte "Drohnenlinie" gefunden hat. Und ausgerechnet an einem solchen Punkt stehen zu bleiben, eine solche Erfahrung nicht angemessen zu reflektieren, sie somit über Soll zu vereinfachen und auf äußerliche, halbrituelle Erscheinungen zu reduzieren, wäre nicht nur frustrierend, sondern auch verschwenderisch und ineffektiv. Und bei der Effektivität in bewaffneten Konflikten geht es immer in erster Linie um Menschenleben.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

Timur Schehrsad ist Kriegsberichterstatter, Analytiker und Kolumnist beim russischen militärisch-patriotischen Sender Swesda und beim Businessblatt Wsgljad.

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