Meinung

Der Elefant im Raum bei der Debatte um die Besetzung des Verfassungsgerichts

Brosius-Gersdorf wird es nun also nicht, aber ist das ein Grund, die Debatte zu beenden? Eher nicht, denn da gibt es weit mehr Unausgesprochenes als Gesagtes, und im Hintergrund steht das Versagen des Verfassungsgerichts, über das gesprochen werden muss.
Der Elefant im Raum bei der Debatte um die Besetzung des VerfassungsgerichtsQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Zoonar.com/Zoonar.com/zoon

Von Dagmar Henn

Kennen Sie noch die Geschichte vom Kreidekreis? Stritten sich zwei Frauen um ein Kind; jede behauptete, es sei das ihre. Der Streit kam vor Salomo als Richter. Der befahl, einen Kreidekreis auf den Boden zu malen, stellte das Kind in die Mitte und sagte, die Frau, die es auf ihre Seite ziehe, sei die Mutter. Als es darum ging, am Kind zu ziehen, ließ eine der beiden jedoch los. Woraufhin Salomo erklärte, sie sei die wahre Mutter des Kindes – weil ihr das Wohl des Kindes wichtiger sei als der Sieg in diesem Rechtsstreit.

Es ist eine Geschichte, an der sich viele Vorstellungen zeigen lassen, die man idealerweise mit der Gestalt des Richters verbindet. Der Raum, in dem Salomo in dieser Geschichte agiert, ist der zwischen dem abstrakten Prozess und der tieferen menschlichen Wahrheit, und interessanterweise nutzt er die Macht über den Prozess gegen sie selbst, denn er als der Herr des Verfahrens behauptet eine Regel, deren Gegenteil er meint und letztlich umsetzt. Was ihn als Idealbild des guten Richters erscheinen lässt, ist sein Bestreben, die tiefere menschliche Wahrheit zu finden.

Und nun zu Brosius-Gersdorf, die jetzt ihre Kandidatur fürs Bundesverfassungsgericht zurückgezogen hat. Wobei das entscheidende Argument in ihrer Erklärung zu diesem Rückzug wohl in diesem Satz steht:

"Zudem droht ein Aufschnüren des 'Gesamtpakets‘ für die Richterwahl, was die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gefährdet, die ich schützen möchte."

Man könnte das auch anders formulieren. Ihr Rückzug ist ein Mittel, das vielleicht die Debatte ausbremst, die in der Auseinandersetzung um ihre Person langsam in den Vordergrund zu rücken drohte. Der Elefant im Raum, die Frage, die plötzlich der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts so viel mehr Aufmerksamkeit verlieh als je zuvor; die Frage, die sich letztlich hinter den offener angesprochenen Themen, der Qualität ihrer Doktorarbeit wie ihrer Position zur Abtreibung, verbirgt: das Elend der Corona-Jahre.

Brosius-Gersdorf hatte auch hier Stellung bezogen, für eine Impfpflicht, für eine finanzielle Belastung Ungeimpfter; die Berliner Zeitung hat diese Aussagen erst jüngst wieder in Erinnerung gerufen. Der Kommentator verweist freundlicherweise sogar darauf, dass Brosius-Gersdorf zumindest in einer Talkshow von Lanz erklärt hat, sie käme heute vielleicht zu anderen Positionen. Ist das Einsicht? Vor allem ist das Einsicht in einem Maß, das ihre radikale Linientreue damals kompensiert?

Es ist schwer, ihr zuzusehen; ihre Mimik ist eigenartig starr, und wenn sie spricht, fehlen die kleinen Momente des Zögerns, die auf ein Abwägen hinweisen. Man wartet auf einen Augenblick der Selbstironie wie auf eine Erlösung, die aber nie eintritt. Oder auf ein erkennbares Gefühl, zumindest. Nicht, dass diese ins Roboterhafte gehende Unpersönlichkeit ein Merkmal wäre, das nur Brosius-Gersdorf auszeichnet, das ist schon fast eine Mode der Zeit, sofern es die politischen Eliten in der EU betrifft; aber dennoch – das ist vermutlich der Grund, warum mir die Geschichte vom Kreidekreis durch den Kopf geht, jedes Mal, wenn ich sie sehe.

Wenn der Verlauf der Auseinandersetzung um ihre Kandidatur eines belegt hat, dann, wie tief die Wunden immer noch gehen, die Corona in der Gesellschaft geschlagen hat, und wie stark nach wie vor die Sprechverbote dazu wirken. Denn das deutlichste Argument, sie nicht in der Rolle der Verfassungsrichterin sehen zu wollen, ist ihre Haltung in der Corona-Zeit. Die damalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die diktatorischen Maßnahmen der Bundesregierung und das Infektionsschutzgesetz für rechtens erklärte, hat tatsächlich einen tiefen Bruch hinterlassen, weil die Institution Verfassungsgericht dadurch ihr Ansehen bei einem größeren Teil der Bevölkerung völlig verspielt hat. Umso stärker, je größer die jeweils in dieses Verfahren gesetzten Hoffnungen waren. Genau dieser Moment ist der Grund, warum derzeit die Besetzung dieses Gerichts so viel mehr Aufmerksamkeit erhält als in all den Jahren davor, und im Gegensatz zu der Erzählung in den deutschen Leitmedien ist das mitnichten eine Frage von links oder rechts.

Tatsächlich machte sie sich in der Lanz-Sendung vom 15. Juli Sorgen um "das Ansehen und die Arbeitsfähigkeit unseres Bundesverfassungsgerichts" – wegen der Debatte um ihre Person. Wodurch sichtbar wird, dass sie nicht imstande ist, zu begreifen, dass das Verhältnis gerade andersherum ist: Die Debatte ist eine Konsequenz dessen, dass das Ansehen dieses Gerichts schwer geschädigt wurde, weshalb vermutlich auch ihr persönlicher Rückzug an dieser Debatte nichts ändern wird. Denn es gibt ein tiefes gesellschaftliches Bedürfnis, die Verletzungen, die durch die Corona-Maßnahmen unzähligen Bürgern zugefügt wurden, zumindest offen aussprechen zu können. Und auch ein Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass das höchste deutsche Gericht seine damalige Entscheidung nicht wiederholt.

Das ist nicht einfach, denn ein Blick auf das Verhalten der übrigen Justiz beweist, dass hier noch an vielen anderen Punkten ein willfähriges Personal zur Verfügung steht, dessen Hemmungen in Bezug auf die Rechte zumindest der eingeborenen Bevölkerung sehr begrenzt sind. Für absurde Showaktionen wie zum Rollatorputsch (dessen komplett scheiterndes Gerichtsverfahren jetzt durch eine zweite Folge aufpoliert werden musste) und für Hausdurchsuchungen zum Schwachkopftag braucht es nicht nur willfährige Staatsanwälte (denen ist die Willfährigkeit dank der Weisungsbefugnis der Justizminister fest eingebaut), sondern auch willfährige Richter, die bereit sind, noch so absurde Durchsuchungsbefehle zu unterzeichnen. Es gibt nachweislich genug Richter in Deutschland, deren Vorstellung von Meinungsfreiheit deutlich enger ist als ihr Krawattenknoten, die aber andererseits dem gemeinen Volk gegenüber eine Erwartung von Gehorsam hegen, die mit "wilhelminisch" noch freundlich bezeichnet ist.

Wie formulierte das einst Ludwig Thoma? "Er war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstand." Der Text, den Thoma (von Beruf selbst Jurist) damals schrieb, enthält auch einen weiteren Satz, der auf Brosius-Gersdorf zuzutreffen scheint: "Er bekam im Staatsexamen einen Brucheinser und damit für jede Dummheit einen Freibrief im rechtsrheinischen Bayern." Noch treffender ist allerdings dieser Satz: "Er kümmerte sich nicht um das Wesen der Dinge, sondern ausschließlich darum, unter welchen rechtlichen Begriffen dieselben zu subsumieren waren."

Nun ist Abstraktionsfähigkeit eine Voraussetzung der Juristerei, die Logik ist wichtiger als das Gefühl, und letztlich ist auch das Studium in diesem Fach weniger auf das Ziel der Gerechtigkeit ausgerichtet als auf Anpassung an das abstrakte System des gegebenen Rechts. Allerdings bleibt die konkrete, fleischliche Wirklichkeit samt ihrem emotionalen Wert dennoch präsent, oder sollte es zumindest sein, vor allem an den zwei Polen, die gewissermaßen Anfang und Ende dieses Systems repräsentieren: die gesetzgebende Körperschaft, also das Parlament, und dann die höheren Instanzen der Gerichtsbarkeit, primär das Verfassungsgericht. Deren Aufgabe besteht darin, die Verselbstständigung dieses abstrakten Systems zu zügeln und es wieder etwas in Übereinklang mit der realen Welt zu bringen.

Zugegeben, der Bundestag erfüllt diese Aufgabe auch nicht gerade mit Bravour, und so wichtig es wäre, nach all dem Zwang, den Beschimpfungen, den Demütigungen der Corona-Zeit an den Punkt zu gelangen, an dem es möglich ist, die inzwischen erfolgten Klarstellungen zu verarbeiten und zwischen den beiden Seiten zumindest eine gewisse Verständigung zu ermöglichen, auch davon ist der Bundestag noch weit entfernt. Wie weit die Medien davon entfernt sind, belegte erst vor wenigen Tagen eine Reportage in der Frankfurter Rundschau über eine Selbsthilfegruppe "der Angehörigen von Corona-Leugnern". Ein Text, der schwer in Versuchung führt, ihn in der Akte "Täter-Opfer-Umkehr" abzulegen.

Dennoch wird kein Weg daran vorbeiführen, sich dieser Teilung, den Traumatisierungen, ja, den verbrecherischen Lügen dieser Zeit zu stellen, auch und gerade im und durch das Verfassungsgericht, wenngleich das derzeitige "Angebot" der Nachbesetzungen nicht gerade danach aussieht, sondern vielmehr nach einem "weiter so". Da ist schließlich noch Ann-Katrin Kaufhold, die andere SPD-Kandidatin, deren Vorstellung, Gerichte seien "zunächst einmal besser, unpopuläre Maßnahmen anzuordnen", ebenfalls nicht gerade den Eindruck erweckt, sie könnte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Corona-Eingriffe hegen, und die doch die Frage aufwirft, wer denn ihrer Meinung nach anstelle des Souveräns das Recht hätte, die Grundlinien der Politik zu entscheiden, die dann ebendiesem Souverän als "unpopuläre Maßnahme" verabreicht wird. Denn trotz der unvollständigen Legitimation des Grundgesetzes gilt eine Verfassung doch als der zu einem abstrakten Text geronnene Wille des Souveräns, und auch die Tätigkeit eines Verfassungsgerichts leitet ihre Rechtfertigung von ebendiesem ab.

Bezogen auf den stets gegenwärtigen Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit das, was die Menschen erwarten, und das Recht ist das, was an ihrer Stelle entsteht. Der Widerspruch zwischen beiden ist unauflöslich (auch, weil er auf jenem zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten beruht) und immer nur näherungsweise und vorübergehend aufzuheben. Doch Voraussetzung dafür ist, sich dieses Widerspruchs bewusst zu sein – wie er in der jahrtausendealten Erzählung vom Kreidekreis dargestellt und ausagiert wird.

Aber die derzeitige Rechtswissenschaft erzeugt deutlich mehr Personen wie den königlichen Landgerichtsrat Alois Eschenberger, der sich "nicht um das Wesen der Dinge" kümmerte, auch wenn sie in weiblicher Gestalt antreten, bar der Behäbigkeit, die man bei Eschenberger voraussetzt, so, wie ihn Thoma beschrieben hat. Schlimmer noch – das sind diejenigen, die in der Geschichte vom Kreidekreis das Kind der Frau zusprechen würden, die stärker zieht –, oder ganz auf die Mühsal verzichten, die Mutterschaft zu klären, da sie ohnehin überzeugt sind, sich im Besitz der Wahrheit zu befinden.

Auf jeden Fall wäre zu wünschen, dass mit dem Rücktritt dieser einen Kandidatin die Debatte nicht endet, sondern dass sie sich langsam, aber zielstrebig vorarbeitet auf die klaffende Wunde der Corona-Jahre, die ohne Gerechtigkeit nicht zu heilen vermag.

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