Meinung

Der "Geist von Helsinki" – was ist nach 50 Jahren davon übrig geblieben?

Der Begriff "europäische Sicherheit", der dem Helsinki-Prozess zugrunde lag, existiert nicht mehr. Während die USA sich gen Asien wenden, ist Europa nur noch sich selbst wichtig. Einen neuen Platz, nicht länger im Mittelpunkt, muss es erst finden.
Der "Geist von Helsinki" – was ist nach 50 Jahren davon übrig geblieben?Quelle: Gettyimages.ru © Getty Images

Von Fjodor Lukjanow

Am 1. August jährte sich zum 50. Mal ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte Europas. Damals versammelten sich die Staatsoberhäupter von 35 europäischen Staaten, der USA und Kanadas in Helsinki, um die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zu unterzeichnen. Im Dokument kulminierten jahrelange Verhandlungen über die friedliche Koexistenz zweier ideologischer Systeme, deren Kampf die geopolitische Landschaft der Alten Welt und des gesamten Planeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hatte. Diese Schlussakte legte – so glaubte man damals – endgültig den Status quo nach dem Zweiten Weltkrieg fest: die Staatsgrenzen (vor allem die der beiden deutschen Staaten, Polens und der UdSSR) und die Einflussbereiche der Supermächte durch die Teilung Europas.

50 Jahre später erweist sich die Erbschaft von Helsinki als paradox. Einerseits appelliert man trotz aller veränderten Umstände weiterhin an diese Vereinbarungen als Grundlage des europäischen Zusammenlebens, als Sammlung universeller Prinzipien. Tatsächlich wurde in der Schlussakte ein Idealmodell für die zwischenstaatliche Koexistenz beschrieben: gegenseitige Achtung, Verzicht auf Gewalt, Lösung von Konflikten ausschließlich mit diplomatischen Mitteln, Verzicht auf Grenzänderungen, Zusammenarbeit zum Wohle aller. Wer würde dem widersprechen?

Andererseits sollten die beschriebenen Prinzipien nicht in einem Vakuum umgesetzt werden: Ihre relative Einhaltung wurde durch gegenseitige Beschränkungen und das Kräftegleichgewicht zwischen den Militärblöcken gewährleistet. Eigentlich entstand der Kalte Krieg als Folge des Zweiten Weltkriegs, dessen Lehren 1975 noch frisch und aktuell waren. Die heutige OSZE als Nachfolgerin dieser Konferenz stützt sich nominell auf die nach 1945 geschaffene und 1975 erneut bekräftigte Weltordnung. Tatsächlich existiert diese jedoch nicht mehr. Über die ganze Welt schwappt eine Welle des Umdenkens über die Folgen des Zweiten Weltkriegs (auf unterschiedliche Weise, aber überall). Dies erschüttert die bisherigen Fundamente noch mehr.

Gibt es noch Bedarf für eine europaweite Sicherheitsorganisation? Betrachtet man die OSZE rein theoretisch, ausgehend von ihren erklärten Funktionsaufgaben, könnte eine solche Struktur durchaus sinnvoll sein. Es besteht nach wie vor ein Bedarf an paneuropäischer Zusammenarbeit. Aufgrund der rasanten Veränderungen auf der Weltbühne, die das "klassische" Europa in eine zunehmend komplexe, gefährliche und verwundbare Lage bringen, ist dieser Bedarf sogar noch gestiegen.

Doch diese Relevanz der OSZE besteht nur in der Theorie. Das Ziel des Helsinki-Prozesses war die Stabilisierung der Systemkonfrontation und deren Strukturierung. Derzeit existiert ein solches System nicht und wird es auch nicht geben – die Prozesse sind ungeordnet, gehen in verschiedene Richtungen, es gibt zahlreiche Gegner, die sich nicht im Gleichgewicht befinden. Dieses Gleichgewicht wurde 1991 zerstört, ohne dass ein Raum mit allgemein anerkannten Regeln geschaffen wurde. Nach 1990 (Charta von Paris für ein neues Europa) wurde eine Zeit lang versucht, einen solchen Raum zu imitieren, aber ohne Erfolg. Die OSZE spielte eine Rolle als Instrument zur Durchsetzung der westlichen Ordnung gegenüber anderen Ländern, jedoch nur für einen kurzen Zeitraum am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht ist es seltsam, von etwas Gemeineuropäischem zu sprechen, es sei denn, man setzt Europa mit den euroatlantischen Institutionen gleich, was viele nach wie vor gerne tun. Die Situation dieser Institutionen ist jedoch längst nicht mehr so klar wie noch vor 15 oder 20 Jahren.

Anlässlich des Jubiläums wird viel über die Notwendigkeit diskutiert werden, der OSZE ihre Funktion als Vermittlerin in politischen Konflikten erneut zu übertragen. Aber ist eine Reform dieser Organisation und ihre Anpassung an die neuen Bedingungen überhaupt möglich? Aktuelle Erfahrungen mit Institutionen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, lassen dies bezweifeln. In einem veränderten Umfeld verlieren sie an Wirksamkeit und Bedeutung. Dies betrifft derzeit sogar so unerschütterliche Säulen der westlichen Gemeinschaft wie die NATO und die Europäische Union, auch wenn diese das Gegenteil behaupten. Möglicherweise werden sie mit der Zeit durch andere Institutionen ersetzt, doch dies stellt sich noch als ungewiss dar. Ebenso ungewiss ist, ob künftige Strukturen wirklich allumfassend sein werden – oder ob die Zeit für kompaktere und flexiblere Zusammenschlüsse kommt.

Wichtig ist jedoch, dass der Begriff "europäische Sicherheit" als wertvolles Fundament des Helsinki-Prozesses nicht mehr existiert. Denn Europa stellt nicht mehr das Weltzentrum dar, das es vor einem halben Jahrhundert noch war. Für die USA beispielsweise spielt die Europa-Thematik vor allem im Rahmen ihrer strategischen Konfrontation mit China eine Rolle, das heißt, sie ist eher von untergeordneter Bedeutung. Die Maßnahmen der US-Regierung unter Präsident Donald Trump zielen darauf ab, die Weltwirtschaft in eine für die USA vorteilhafte Richtung umzugestalten. Selbst die gegen Russland angekündigten Sanktionsmaßnahmen zielen direkt auf China und eine Reihe großer Staaten der Weltmehrheit ab, um sie zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen – und das hat mit dem Ukraine-Konflikt wenig zu tun. Europa selbst wird von den USA lediglich als Absatzmarkt und Investitionsquelle betrachtet.

Was die Konflikte betrifft, deren Beilegung der OSZE übertragen werden sollte, gibt es ein anschauliches Beispiel: Der von mehreren US-Vertretern geäußerte Vorschlag eines extraterritorialen Korridors durch Armenien, der von einer privaten US-Militärfirma bewacht werden sollte, lässt sich wohl kaum in dieser Form umsetzen. Er ist jedoch aussagekräftig dafür, wie man in Washington derzeit die Lösung solcher Probleme sieht. Und wie man die Lage aus Washington betrachtet, ist von großer Bedeutung. Die OSZE braucht man hier höchstens, um einen Anschein von Legitimität zu vermitteln, aber auch ohne sie kann man leicht auskommen.

Die Schlussakte von Helsinki war in gewisser Weise der Höhepunkt der geopolitischen Anerkennung Europas – zwar nicht mehr als Akteur, aber noch als zentrale Arena. Nun ist auch das vorbei. Die neuen Realitäten erfordern andere Vereinbarungen mit anderen Beteiligten. Ob solche Vereinbarungen überhaupt zustande kommen, bleibt jedoch abzuwarten.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 30. Juli 2025 zuerst auf der Homepage der Zeitung Rossijskaja Gazeta erschienen.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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