Meinung

Der Europäische Gerichtshof, das Asylrecht und die Demokratie

Wie legitim sind eigentlich all diese EU-Institutionen, die sich so gründlich in das Leben einmischen? Die Frage stellt sich angesichts des heutigen Urteils des EuGH zu den "sicheren Herkunftsstaaten" erneut. Ist noch Entscheidungsspielraum übrig bei der Migration?
Der Europäische Gerichtshof, das Asylrecht und die Demokratie© Gerichtshof der Europäischen Union

Von Dagmar Henn

Nun hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) gleich zweimal zugeschlagen; nicht nur mit einem recht breit wahrgenommenen Urteil zur Frage, wie ein EU-Mitgliedsstaat einen Drittstaat zum sicheren Herkunftsland erklären kann, sondern auch mit einem Urteil, das eine mögliche Haftbarkeit von EU-Staaten behandelt, wenn sie mit der Begründung mangelnder Kapazitäten Asylbewerber nicht unterbringen.

Der EuGH ist dafür bekannt, wenn nicht geradezu berüchtigt, die Rechte von Migranten auszubauen. Dabei hat er seine Zuständigkeit immer weiter ausgedehnt, mit jedem Schritt auf dem Weg von der Montanunion von 1952 bis zur EU. Denn die ursprüngliche Aufgabe bestand darin, die Umsetzung des Vertrags über ebendiese Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wie die Montanunion formell hieß, zu kontrollieren – etwa so, wie auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag für die Auslegung einer durchaus begrenzten Zahl völkerrechtlicher Verträge zuständig ist.

Seit der Unterzeichnung der Lissabon-Verträge agiert dieser Gerichtshof als höchstes Gericht innerhalb der EU. Im EU-Vertrag (EUV) Artikel 19, der seine Aufgabe definiert, heißt es: "Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge." Tatsächlich deutet er aber vielfach Recht, das aus besagtem Vertrag nur abgeleitet ist, wie beispielsweise die EU-Verordnung 2024/1348 vom 14. Mai 2024 "zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens für internationalen Schutz in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU" (die am 12. Juni 2016 in Kraft tritt; bis dahin gilt die alte Verordnung). Der EuGH hält sich für eine Art Verfassungsgericht, das über allen EU-Mitgliedsstaaten steht. Das Problem dabei ist nur: Der EU-Vertrag ist ebenso wenig eine Verfassung, wie das EU-Parlament ein Parlament ist.

Wenn es darum geht, zu beschreiben, wie tief der EuGH in die politischen Entscheidungen einzelner Mitgliedsländer eingreift, ist es wichtig, zu erkennen, auf wie schwacher Grundlage dies geschieht. Der EU-Vertrag sollte ursprünglich mal als europäische Verfassung verabschiedet werden; mehrere Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterten jedoch, woraufhin der ganze Text umgeschrieben und dann nur noch von den Parlamenten verabschiedet wurde.

Was klar bedeutet: Im Verhältnis zu einer echten Verfassung, die mit einem Referendum in Kraft trat (die es in Deutschland nicht gibt), ist der EU-Vertrag ein Recht minderer Legitimation; aber dennoch wird dieser Vertrag genutzt, um ebendiese Verfassungen auszuhebeln, und der EuGH ist eines der wichtigsten Mittel dabei, das "europäische Recht" als höheres Recht durchzusetzen.

Da das EU-Parlament keine vollen parlamentarischen Rechte hat und die EU-Kommission als Exekutive diesem Parlament gegenüber nicht wirklich rechenschaftspflichtig ist, das EU-Recht aber Produkt der Kommission ist, ist die Gesetzesqualität dieses Rechts unvollständig; in Wirklichkeit sind es Verordnungen, keine Gesetze, die aber gegenüber den Gesetzen der einzelnen Mitgliedsländer den Rang eines höherrangigen Gesetzes einnehmen. Unter dem Gesichtspunkt einer demokratischen Legitimation des Rechts ist das ausgesprochen problematisch, auch, weil die die Verordnungen schaffende Exekutive, eben die Kommission, selbst nicht das Ergebnis irgendeiner Wahl ist.

Das Asylrecht ist ein Beispiel für derart übergriffige Rechtsetzung: Die Verordnungen 2013/32/EU und 2024/1348 lassen überhaupt keinen Spielraum mehr für nationales Recht, die einzige Abweichung, die noch möglich ist, besteht darin, "diese Verordnung auf Anträge auf Schutz anzuwenden, auf die die Verordnung keine Anwendung findet", sprich, die Gültigkeit noch zu erweitern. Ansonsten ist das gesamte rechtliche Verfahren bis ins letzte Detail vorgegeben. Das geht bis hin zu medizinischen Verfahren bei der Altersbestimmung unbegleiteter Minderjähriger.

Faktisch ist damit jede Veränderung der Rechtslage in einem einzelnen Mitgliedsland unmöglich, gleich, wie deutlich die Mehrheit dafür wäre; selbst, wenn eine derartige Veränderung über ein Referendum in der Verfassung verankert würde – die EU-Verordnung könnte dieses Recht solange brechen, solange der betroffene Staat Mitglied in der EU bleibt. Zu Beginn der Existenz des EuGH war das für die Bürger der betroffenen Länder noch kein Problem; Regelungen, die Kohle und Stahl betreffen, sind zwar wichtig, beeinflussen den Alltag der meisten jedoch kaum. Inzwischen aber gibt es zwei Ebenen, die sich wechselseitig verstärken, deren Einfluss auf das Alltagsleben der EU-Bürger jedoch massiv ist, eben die Kommission und den EuGH. Und all das ohne demokratische Legitimation.

Wie stark die Kollision ist, zeigte sich zuletzt immer wieder im Handeln der Kommission, die inzwischen meint, Wahlen in Mitgliedsländern bewerten zu dürfen, als sei sie eine irgendwie legitime Regierung. Und es zeigt sich ebenfalls in der Rechtsprechung des EuGH, wie in der aktuellen Entscheidung zum Asylrecht.

Auf den ersten Blick wirkt die Frage unschuldig. Ausgelöst wurde das Gutachten des EuGH durch eine Anfrage des Tribunale ordinario di Roma, also des für Rom zuständigen Gerichts, das eine Klage eines Bürgers von Bangladesh gegen eine Asylentscheidung behandelt. In dieser Anfrage geht es um die Kriterien, nach denen ein Land als sicheres Herkunftsland eingestuft werden darf.

Die "sicheren Herkunftsländer" bilden eine Art Positivliste; eine Ablehnung von Asylanträgen ist deutlich einfacher, und die Fristen sind verkürzt. Allerdings gibt es kaum Staaten, die auf dieser Liste stehen; in Italien umfasst sie, außer den EU-Staaten selbst (bei denen man das inzwischen eigentlich mit gutem Recht bezweifeln kann) 19 Länder von den 170, die es außerhalb der EU gibt, in Deutschland umfasst sie nur zehn. Bangladesch gilt in Italien als "sicheres Herkunftsland".

Das römische Gericht stellte nun diese Fragen, weil im Gesetz vom Oktober 2024, das die italienische Liste zuletzt festlegte, die Quellen nicht angegeben worden seien, auf die sich der Gesetzgeber bei seiner Beurteilung gestützt habe.

Woraufhin der EuGH entschied, dass die Quellen "hinreichend zugänglich" sein müssen. Das Gericht habe außerdem das Recht, eigene Quellen heranzuziehen, und – das ist der weitreichendste Punkt – der EuGH bestimmte, dass "ein Mitgliedsstaat bis zum Inkraftreten einer neuen Verordnung, die die derzeit geltende Richtlinie ersetzen wird, einen Drittstaat nicht als 'sicheren' Herkunftsstaat bestimmen darf, der die materiellen Voraussetzungen für eine solche Bestimmung in Bezug auf bestimmte Personengruppen nicht erfüllt".

Nach der aktuell geltenen Verordnung, 2013/32/EU, ist übrigens das Vorhaben der deutschen Regierungskoalition, die sicheren Herkunftsstaaten nicht per Gesetz, sondern per Verordnung festzulegen, durchaus zulässig. Aber die Formulierung des EuGH, die eine Neueinstufung als "sicheren" Herkunftsstaat mindestens bis Juli 2026 blockiert, ist völlig frei interpretierbar.

Denn welchen Staat gibt es auf der Welt, in dem keine "bestimmte Personengruppe" diskriminiert wird? Die Forderung einer absoluten Diskriminierungsfreiheit (anstelle eines staatlichen Bemühens um Diskriminierungsbeschränkung) ist derart utopisch, dass sie nicht erfüllbar ist. Schließlich kann man nicht einmal bezogen auf die EU-Staaten selbst mit Fug und Recht behaupten, es gebe keine "Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung"; egal, wie die Verfolgungsmaßnahmen innerhalb der EU angepinselt und schöngeredet werden, objektiv gibt es mindestens eine "Gefährdung von Freiheit (...) aus Gründen der politischen Überzeugung".

Was aber ist die Konsequenz, wenn das Kriterium des "sicheren Herkunftsstaats" real unerfüllbar ist? Zuerst einmal, dass die Verfahrensvereinfachung entfällt, die damit einhergeht. Letzten Endes aber, dass im Grunde jeder, gleich aus welchem Land, in die EU kommen und dort Asyl beantragen kann, denn die Liste der "sicheren Herkunftsländer" ist mit dieser Entscheidung im Kern obsolet.

Dass die vorhandenen Listen angefochten werden, ist damit ebenfalls sicher. Schließlich beinhaltet schon die derzeit geltende Verordnung 2013/32/EU eine Sonderregelung (zumindest im Verhältnis zum deutschen Recht), indem ohne jede Einschränkung kostenloser Rechtsbeistand garantiert wird. In Deutschland gibt es ansonsten, also im normalen Rechtsverkehr, zwar Prozesskostenhilfe, aber die hat zwei Voraussetzungen: zum einen eine Prüfung der Bedürftigkeit und zum anderen im Falle einer Klage eine Erfolgsaussicht, die vom selben Gericht beurteilt wird, das später die Verhandlung führen wird. Das zweite Kriterium heißt in der Regel, dass der Anwalt vorab bereits eine Leistung erbringen muss, nämlich die Begründung der Erfolgsaussicht, ehe überhaupt sicher ist, ob er bezahlt wird. Weshalb es nicht einfach ist, beispielsweise im Sozialrecht auf Leistungen zu klagen.

Im Gegensatz dazu ist das Asylrecht eine sichere Bank, selbst ohne zusätzliche Mittel von diversen NGOs. Was logischerweise bedeutet, es braucht, wie im gerade vom EuGH entschiedenen Fall, nur einen oder zwei willige Kläger, den Rest macht der Apparat der Migrationsförderer.

Was im Fall des anderen in diesem Bereich heute entschiedenen Falls eben so gelaufen sein dürfte. Dabei ging es um einen afghanischen und einen indischen Asylbewerber, die in Irland "mehrere Wochen lang unter prekären Bedingungen" leben musten, weil die irischen Behörden unter Verweis auf überfüllte Aufnahmezentren die Unterbringung ablehnten. In Irland, das nur als Information aus der wirklichen Welt, ist die Rede von einer "housing emergency", einem Wohnungsnotstand. Die Probleme sind die gleichen wie fast überall in der EU: explodierende Immobilienpreise und Mieten, Einkommen, die bei Weitem nicht mithalten, und – Migration. Für Irland, jahrhundertelang dank der britischen Herrschaft Hauptauswanderungsland in Europa, ist das ein völlig neues Problem.

Um die Zahlen ins richtige Maß zu setzen: Irland hat 5,38 Millionen Einwohner. Im Jahr 2023 wurden dort 33.000 Anträge auf vorübergehenden Schutz (das sind die Ukrainer) und 13.000 Anträge auf internationalen Schutz (das entspricht den übrigen Asylanträgen) gestellt, in Summe also 46.000 Personen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands entspräche das 713.000 Personen; das ist also kein kleines Problem. Es gab in den letzten Jahren auch immer wieder Berichte, dass Irland Schwierigkeiten habe, diese Menschen unterzubringen. Im Jahr vor der Ankunft der beiden Kläger waren etwa 80.000 Ukrainer nach Irland gekommen (was nach unserer Umrechnung 1,2 Millionen entspricht), was der eigentliche Ursprung dieser Überforderung war.

Der Fall wird vom höchsten irischen Gericht verhandelt, das vom EuGH wissen wollte, ob die beiden Kläger Anspruch auf Schadensersatz hätten. Die beiden hatten etwa zwei Monate lang keine Unterbringung in einem der Aufnahmezentren erhalten können und daher auch die übrigen Leistungen, die damit verknüpft sind, nicht bekommen. Der zuständige irische Minister und der Generalstaatsanwalt argumentierten, Irland sie mit "der plötzlichen Ankunft einer noch nie dagewesenen Zahl von Drittstaatsangehörigen (...) konfrontiert gewesen" und habe daher "alleinstehenden männlichen erwachsenen nicht schutzbedürftigen Antragstellern auf internationalen Schutz in Irland über einen Zeitraum von viereinhalb Monaten keine Unterkünfte angeboten"; man habe sich aber darum bemüht, sie dennoch unterzubringen.

Was dem EuGH aber nicht genügte, der darauf bestand, die beiden Männer hätten dann eben in privaten Unterkünften untergebracht werden oder man habe Unterkünfte errichten müssen, denn der Anspruch eines beliebigen Antragstellers auf angemessenen Lebensunterhalt sei nicht einzuschränken.

Nun ist das eine juristische Formulierung, die die Realitäten nicht wirklich berücksichtigt, wie beispielsweise die Tatsache, dass ein Verwaltungsapparat, der völlig überfordert ist, noch weniger improvisieren kann, als das Verwaltungen im allgemeinen können (und das ist sehr wenig). Ganz abgesehen davon gibt es genügend Berichte, dass irische Vermieter schon die Ukrainer nicht haben wollen; da ist die Annahme des Gerichts, es habe verfügbare Alternativen gegeben, erst einmal nur genau das: eine Annahme. Was aber auf jeden Fall bleibt, ist die Entscheidung, Asylbewerber, die nicht sofort alle Leistungen erhalten, hätten einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Staat, in dem sie sich befinden.

Allerdings, im irischen Verfahren war ein Punkt unstrittig: Das Problem war nicht fehlendes Geld. Das hat auch das irische Ministerium eingestanden. Ob es ähnliche Ansprüche gäbe, wenn die Mittel für eine Unterbringung nicht vorhanden sind, wurde nicht geklärt. Das ist jedoch eine Frage, die sich zunehmend stellen wird.

Beide Fälle haben durchaus finanzielle Folgen. Der EuGH verringert nicht nur den Spielraum nationaler Regierungen im Umgang mit Migration weiter, er greift auch in die Haushalte der Mitgliedsländer ein, die zu Leistungen für Drittstaatsbürger verurteilt werden, ohne dies in ihrem eigenen politischen Prozess entscheiden zu können. Vom ursprünglich gewollten und auch gerechtfertigten Recht auf politisches Asyl ist das weit entfernt; Schritt für Schritt bewegt sich der EuGH hin auf ein Recht auf Einwanderung, dessen Verbindung mit einer realen Verfolgung oder Notlage immer schwächer wird.

Und während in Deutschland darum gerungen wird, ob man vielleicht die Liste der sicheren Herkunftsländer beispielsweise um Indien erweitern könne, macht die Entscheidung des EuGH den Weg frei, die "sicheren Herkunftsländer" ganz zum Verschwinden zu bringen. Der Bereich, der tatsächlich noch demokratisch entschieden werden kann, wird damit ein weiteres Stückchen kleiner.

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