Meinung

Vielvölkerkindergärten und die Stufen der Ahnungslosigkeit

Der Koalitionsvertrag sieht eine verbindliche Sprachprüfung für Vierjährige mit anschließenden Förderkursen vor, und Bildungswissenschaftler halten dagegen. Eine Lösung von Problemen bietet aber keine der beiden Positionen.
Vielvölkerkindergärten und die Stufen der AhnungslosigkeitQuelle: www.globallookpress.com © Frank Hoermann/SVEN SIMON

Von Dagmar Henn

Deutsche Kindergärten sehen vielerorts längst ganz anders aus als vor dreißig Jahren. Sie sind auch weniger geeignet, Kindern, die kein Deutsch können, diese Sprache zu vermitteln; die Grundschulen können es aber auch nicht – eine Qualifikation in der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache ist nach wie vor kein verbindlicher Teil der Ausbildung von Grundschullehrern.

Die Bundesregierung meint nun laut Koalitionsvertrag, verbindliche Sprachtests für Vierjährige und darauf folgend eventuell getrennte Sprachförderung könnten das Problem lösen. Das ist ohnehin ein schwieriger Punkt, da Bildung Ländersache ist, die Entscheidungsmöglichkeiten auf Bundesebene also begrenzt sind. Inzwischen gibt es eine Stellungnahme einer Reihe von Bildungswissenschaftlern, die dies für den falschen Weg halten; aber an der Wirklichkeit in den Kindertagesstätten gehen beide Positionen vorbei.

Tatsächlich sind gerade in großen Städten Kindergärten mit nicht nur einer Mehrheit von Kindern mit Migrationshintergrund, sondern sogar einer Mehrheit ausländischer Kinder keine Ausnahme. Und im Gegensatz zur eigenartigen Klischeebildung, die von wohlsortierten Gruppen von Deutschen und Ausländern ausgeht, handelt es sich dabei um Kindern, die zu Hause viele verschiedene Sprachen sprechen. Das ist keine ganz neue Entwicklung – schon der Kindergarten meiner inzwischen erwachsenen Zwillinge brachte es auf zwanzig verschiedene Nationalitäten. Aber es ist eine Entwicklung, auf die es nach wie vor keine überzeugende Antwort gibt.

In ihrem Papier reagieren die Wissenschaftler mit Migrationsromantik: Es brauche "keine separierenden Sondermaßnahmen, sondern gut ausgebildete Fachkräfte, vertrauensvolle Beziehungen zu den Familien und ein Bildungssystem, das Vielfalt als Ressource begreift". Mit den "separierenden Sondermaßnahmen" sind die "geeigneten, verpflichtenden Fördermaßnahmen" gemeint, die sich die Bundesregierung vorstellt. Der böse Witz daran ist, dass es in vielen Städten gar nicht die ausländischen Kinder sind, die da separiert würden – sondern nur jener Teil der deutschen Minderheit, der selbst gute Sprachkenntnisse besitzt und noch nicht von den Eltern in konfessionelle Kindergärten oder ähnliche Fluchtstrukturen für die Kinder Wohlhabender verfrachtet wurde.

Was beide Seiten offenkundig gar nicht im Blick haben, ist, dass vielerorts gar keine festen Kindergartengruppen mehr existieren, sondern man zu dem Prinzip übergegangen ist, die Kinder sollten sich in den Räumen frei bewegen und ihren Vorlieben folgen. Keine wirklich gute Idee, wenn man es mit vielen unterschiedlichen Sprachgruppen zu tun hat – die naheliegende Konsequenz ist nämlich, dass sich die Kinder nach Sprache separieren, weil es immer den Wunsch einer Gruppe gleichaltriger Freunde gibt und die Kommunikation in einer solchen Gruppe viel einfacher ist.

Die ganz traditionelle Form der Kindergartenerziehung in einer festen Gruppe und mit einem weitgehend festen Programm schafft viel mehr Sprechanlässe und sorgt eher dafür, der Tendenz zur Aufteilung entgegenzuwirken – gilt aber als nicht modern genug. Dahinter könnte allerdings auch der einfache Wunsch stehen, mit dem vorhandenen Personal besser auszukommen. Der Betreuungsschlüssel ist mit im bundesweiten Schnitt 7,8 Kindern pro Betreuer besser, als er vor zwanzig Jahren war (wobei die ärmeren östlichen Bundesländer nur 1:10 oder gar 1:11,9 bieten), aber die Anforderungen sind in derselben Zeit deutlich stärker gestiegen. Schon allein dadurch, dass die Voraussetzungen für "vertrauensvolle Beziehungen zu den Familien" längst nicht mehr nur durch Bereitschaft zur Kommunikation geschaffen werden können, sondern immer auch die Klippe der sprachlichen Probleme umschifft werden muss.

"Die aktuelle bildungspolitische Stoßrichtung folgt einer defizitorientierten Logik, die Kinder mit Migrationshintergrund oder geringen Deutschkenntnissen als 'förderbedürftig' etikettiert. (...) Sprachstandserhebungen dieser Art sind in der Regel an einsprachig aufwachsenden Kindern normiert und bergen das Risiko, den Spracherwerb von Kindern vorschnell als defizitär einzuordnen, obwohl dieser im Kontext mehrsprachigen Aufwachsens und damit verbundenen Phänomenen bilingualen Sprechens altersangemessen verläuft."

So wieder die Stellungnahme der Wissenschaftler. Das ist an sich ein Argument; sofern es sich um echte Zweisprachigkeit handelt. Allerdings hat hier der Bildungsstand der Eltern einen gewaltigen Einfluss, und die Erfahrung beispielsweise mit der zweiten Generation der türkischen Migranten lehrt, dass häufig die Kinder nicht zwei Sprachen, sondern letztlich bestenfalls jeweils eine halbe beherrschten. Die Erwartung, dass zu Hause eine Heimatsprache auf Hochsprachenniveau gesprochen wird, dürfte in vielen Fällen täuschen. Syrische Analphabeten sprechen kein Hocharabisch.

Grundsätzlich ließe sich das auch durch Unterricht in der Familiensprache korrigieren, wenn verstanden wird, dass zumindest eine Sprache gut beherrscht werden muss; aber der Aufwand, gleich zwanzig, dreißig verschiedene Sprachen zu bieten, ist letztlich zu hoch. Es hat einen nüchternen Grund, warum alle Vielvölkergemische auf der Grundlage einer "Lingua franca" funktionierten: Anders ist es praktisch nicht machbar. Oder bestenfalls, wenn es geografisch klar definierte Siedlungsgebiete bestimmter Minderheiten gibt.

Die Notwendigkeit einer entsprechenden Gestaltung des Erziehungsalltags ist jedenfalls noch nicht angekommen, selbst wenn möglicherweise die Erzieherinnen die einzigen Personen sind, die in der Kindertagesstätte überhaupt noch Deutsch sprechen. Dafür ist die Bezahlung dieses mit immer mehr Aufgaben belasteten Berufs nach wie vor nicht überzeugend – auch wenn inzwischen immer die Notwendigkeit früher Bildung betont wird, erreicht das Gehalt einer ausgebildeten Erzieherin nach dem Lohnspiegel der Hans-Böckler-Stiftung erst nach 20 Berufsjahren jenen Betrag, den jüngst das Statistische Bundesamt als Medianverdienst von Frauen in Deutschland angab (also das Einkommen, das die Gesamtmenge genau in zwei Hälften teilt), 3.777 Euro brutto. Das entspricht dem Einstiegsgehalt von Grundschullehrern, bei Anforderungen, die durchaus mithalten können.

Nicht, dass die Vorstellungen der Bildungswissenschaftler diese Aufgabe erleichtern würden. Ganz im Gegenteil – sie betonen, wie bewährt doch "prozessorientierte Verfahren" seien, die sprachlichen Kompetenzen mit "Beobachtungsverfahren wie 'BaSiK' oder 'SELDAK' [zu] beobachten und kommentieren". In der Praxis heißt das: An die Stelle eines einmaligen Tests tritt eine kontinuierliche Beobachtung mit entsprechenden Aufzeichnungen, was die Belastung der Erzieherinnen durch administrative Aufgaben noch einmal erhöht. Zusammen mit der durch Sprachbarrieren erschwerten Kommunikation mit den Eltern frisst das mühelos die Verbesserung im Betreuungsschlüssel der letzten beiden Jahrzehnte auf.

"Die Diskussion um 'Schulfähigkeit' muss umgekehrt werden: Nicht das Kind muss sich an ein defizitär ausgestaltetes Bildungssystem anpassen, sondern Bildungseinrichtungen müssen kindfähig und diversitätssensibel gestaltet sein. Dies schließt die Gestaltung einer sprachlich anregenden Umgebung in allen Familiensprachen ebenso ein wie Empowerment-Ansätze für Familien und elternbegleitende Maßnahmen."

Wie gesagt, 20 bis 30. Nichts, was man von einzelnen Erzieherinnen erwarten könnte, vor allem, weil in diesem Alter Sprache noch nicht in Schriftform aufgenommen wird, was bedeutet, sie müsste sogar richtig ausgesprochen werden ... Sicher, da lässt sich einiges machen, aber nur unter Einsatz zentraler Ressourcen, günstigenfalls auf Ebene der Bundesländer; doch derzeit wird eher überall gespart, um das Geld für die Aufrüstung zu beschaffen.

Aber das ist ja Wirklichkeit. Genauso, wie in Wirklichkeit sich Dutzende durchaus unterschiedlicher Kulturen eher selten zu einem harmonischen Ganzen fügen, sondern nur die Zahl möglicher Konflikte vervielfachen. Und die Antworten, die derzeit in Deutschland gegeben werden, neigen zur Absurdität – einheimische Feiertage und Sitten zu streichen, wie das Laternengehen im November, um nicht zu "verletzen", oder nur noch Geflügelfleisch anzubieten, angeblich, weil es mit keiner Glaubensrichtung kollidiert, tatsächlich aber, weil es das billigste ist ...

Das macht es gerade Kindern nicht leichter, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden; es sorgt nur dafür, dass die dennoch als fremd erlebte Umgebung unberechenbar wirkt. Wenn im Kindergarten kein Weihnachten gefeiert wird, aber die Stadt drum herum in Weihnachtsdekoration prangt, dann wird das mitnichten als "inklusiv" wahrgenommen, sondern eher als Ausschluss.

Mal sehen, wann die erste Studie erscheint, die den Einfluss des elterlichen Bildungsniveaus auf die Bildungskarriere der Migratenkinder erster Generation untersucht. Es ist schließlich schon lange bekannt, dass das deutsche Bildungssystem vor allem in einem gut ist: in einer Reproduktion des elterlichen Status. Irgendwann wird man verblüfft feststellen, dass das auch für Einwanderer gilt, und zwar noch ausgeprägter; weil die gesamte Abfolge deutscher Bildungseinrichtungen von der Kinderkrippe bis zur Sekundarschule nicht wirklich gut in der Sprachvermittlung ist, aber der Bildungsstand der Eltern über das Niveau der Muttersprache entscheidet.

Letztendlich sind auch die Methoden, die von den Wissenschaftlern vorgeschlagen wurden, nur der hilflose Versuch, ein System, das unter ganz anderen Voraussetzungen entwickelt wurde, irgendwie an die neuen Bedingungen anzupassen. Was auch damit zu tun hat, dass die Vorstellung von Diskriminierung sich in eine falsche Richtung entwickelt hat.

Sicher ist es nett, wenn man Kindern mit einer anderen Muttersprache Situationen erspart, in denen sie das als einen Mangel erleben. Aber das ist keine Verhinderung von Diskriminierung. Die wirkliche Diskriminierung besteht nämlich darin, diese Kinder zu einem Leben als Fahrradkuriere zu verdammen und ihnen die Möglichkeiten zu verweigern, ihr Potenzial auszuschöpfen. Man kann die extremen Auswüchse in den USA betrachten, in denen inzwischen Mathematikprüfungen zur Diskriminierung erklärt wurden, statt das Niveau der Schulen in schwarzen Vierteln zu heben.

Das deutsche Schulsystem, auf das diese Kindergartenkinder treffen werden, betreibt eine erbarmungslose Auslese, und diese Auslese beruht vor allem auf Sprache. So sehr, dass auch deutsche Kinder ohne akademische Abkunft vielfach durchs Raster fallen. Bürokratie und Rechtssystem verschärfen das Ganze noch einmal; inzwischen gibt es unzählige Formulare, Vorschriften und Gesetze, an denen selbst jene scheitern, die das Deutsche als Muttersprache gut beherrschen (wer es nicht glaubt, mag gerne einen Blick auf das Gebäudeenergiegesetz werfen oder auf den Klassiker, die Abgabenordnung).

Dazu kommt, dass auch in den Kindergärten schon allein aus Finanz- und Personalgründen viele Möglichkeiten unerreichbar sind, die einen wesentlich besseren Spracherwerb ermöglichten. Ausflüge beispielsweise, und wenn das Ziel darin besteht, dass jedes Kind eine Semmel beim Bäcker kauft. Oder Gärten. Jeder Mensch kann sich Worte und auch Grammatik besser merken, wenn sie einen praktischen Nutzen besitzen, ganz unabhängig vom Alter (das Höchste der Gefühle im Vorschlag der Wissenschaftler ist Vorlesen mit Nachfragen). Aber die aktuelle Mode der Kindergartenpädagogik, die der freien Gruppenwahl, lässt selbst die Möglichkeiten verschwinden, die in der traditionellen Form zumindest noch beim Basteln oder bei jahreszeitlichen Aktivitäten geboten wurden.

Doch zwischen diesen beiden Polen, dem administrativen Ansatz, der letztlich den Kindergarten verschult (und damit das Problem des zu abstrakten Spracherwerbs nicht aufhebt), und dem Multikultiansatz, der die wirklichen Beschränkungen nicht einmal wahrnimmt und die Diskriminierung in der Alltagskommunikation, aber nicht in den Lebenschancen sieht, liegt einfach nichts. Und das ist die schlechteste aller denkbaren Situationen.

Denn eines ist klar: Wenn diese Kinder, die jetzt im Kindergarten kein oder sehr wenig Deutsch lernen, als Jugendliche erkennen, dass sie am Rand stehen, wird das zu einem echten Problem. Die zweite Generation hat nämlich nicht selbst die Entscheidung getroffen, zu migrieren, stellt aber dann entsetzt fest, zwischen allen Stühlen zu sitzen – und wird mit Zorn reagieren. Woran alles vermeintlich diskriminierungsfreie Eiteitei auf dem Weg dahin nichts ändern würde.

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