Meinung

Eltern von Kiews Oberbefehlshaber Syrski leben unbehelligt in Russland – andersherum unmöglich

Auch im Krieg dürfen die Grenzen der Menschlichkeit nicht überschritten werden. Diesbezügliche Unterschiede zwischen den Seiten des Ukraine-Konflikts werden von einem jüngsten Nachrichtenanlass eindrucksvoll vorgeführt.
Eltern von Kiews Oberbefehlshaber Syrski leben unbehelligt in Russland – andersherum unmöglich© Prawda

Von Marina Achmedowa

Russische und ukrainische Medien berichten, dass der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Alexander Syrski, die Behandlung seines schwer kranken Vaters Stanislaw Syrski finanziert – genauer: ihm das Geld dafür nach Russland überwiesen hat. Dieser lebt nämlich im Gebiet Wladimir, wo auch Syrski selbst geboren wurde. Nach einer COVID-19-Erkrankung habe sich die Gehirnerkrankung des Vaters verschlimmert. Er liege in einer Moskauer Klinik – und eine einmonatige Behandlung seiner Krankheit dort koste eine Million Rubel (ungefähr 10.000 Euro, je nach Wechselkurs, und in etwa die Summe, die der ukrainische General überwiesen hat).

Nach dieser Nachricht stellten sich viele in Russland die naheliegende Frage: Wie hat Syrski überhaupt dieses Geld überweisen können? Bekannte der Familie berichteten jedoch, dass der 86-jährige Stanislaw Syrski bereits seit langem krank ist und bereits vor der Ernennung seines Sohnes zum Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte seine schwere Erkrankung bekannt gewesen sei. Das Geld könnte somit bereits damals überwiesen worden sein.

Das aber bedeutet: Als Syrski bereit war, den Posten des militärischen Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte zu übernehmen, wusste er bereits, dass sein Vater pflegebedürftig war und er, ab nun Kommandeur einer gegenüber Russland feindlichen Armee, ihn wohl nie mehr wiedersehen würde. – Nur mal so, als ein Detail, ein Strich im Porträt von Alexander Syrski.

Zeitungsartikel mit dieser Überweisung als Nachrichtenanlass enthüllten dann das ganze Ausmaß der Tragödie in seiner Familie – der Bruder des Oberbefehlshabers, der 52-jährige Oleg Syrski, wie die Eltern ebenfalls im Gebiet Wladimir wohnhaft, sah sich nämlich gezwungen, die Veröffentlichungen zu kommentieren: Er erklärte, dass ihm das Geld seines Bruders egal ist, dass er jedoch wegen der Position, die Alexander Syrski in der Ukraine bekleidet, aus einem Wladimirer Werk entlassen worden sei, das Komponenten für russische Autoteile herstellt. Dabei habe er "immer zusätzliche Schichten gekloppt, um die Wohnung und die Behandlung seiner Eltern zu bezahlen".

Er schilderte, dem 86-jährigen Vater geht es gesundheitlich miserabel, die Mutter sei derweil dabei, ihr Gehör zu verlieren – und zudem würden seine Eltern ihr Leben wohl mit dem Stigma als Verräter beenden müssen, obwohl sie stets prorussisch gewesen und auch zum Tag des Sieges am 9. Mai mit dem "Unsterblichen Regiment" marschiert seien. Auch kommunizieren sie nicht mehr mit seinem Bruder, und Oleg selbst sei bereit, lautstark und hörbar vor laufender Kamera von ihm Abstand zu nehmen. Hauptsache, der Rest der Familie werde nicht als Feinde bezeichnet.

Reaktionen des Publikums auf die Enthüllungen des Bruders waren eindeutig gestimmt:

"Was hetzen die gegen den Mann?!"

"Vater und Mutter sind nicht für die Sünden ihres Sohnes verantwortlich! Sie tun mir sehr leid."

"Sie sind alle Bürger Russlands."

Sprich: Russen versuchten, die Familie des militärischen Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte zu schützen, obwohl sie, wenn überhaupt, doch eher gegen die Drohnenangriffe zu schützen wäre, die der in Kiews Diensten stehende Sohn dieser alten Leute gegen sie und gegen uns alle in Russland schickt. 

Hingegen mögen manche sagen: "Wir schicken doch auch Drohnen in die Ukraine." Dazu die Anmerkung der Redaktion: 

"Drohnenangriffe des ukrainischen Militärs gegen Russlands Hinterland nehmen absichtlich Wohnhäuser und Zivilisten mindestens genauso häufig wie militärisch relevante Ziele ins Visier – wohingegen Opfer unter ukrainischen Zivilisten oder Schäden an Wohngebäuden infolge analoger russischer Angriffe stets entweder auf unkluge Dislozierung der ukrainischen Luftabwehr oder auf die Verwendung der Taktik menschlicher Schutzschilde durch das ukrainische Militär zurückzuführen sind. Überdies sind diese deutlich weniger zahlreich beziehungsweise häufig. Auch Angriffe unter falscher Flagge seitens der ukrainischen Truppen kamen in der Vergangenheit vor."

Jedoch wohnen die Eltern der meisten von uns nicht im gegnerischen Staat – die von Alexander Syrski aus seiner Sicht hingegen schon: Seine Eltern leben in Russland, und dennoch kämpft er gegen dieses Land, das ihm das Leben geschenkt hat.

Eine solche Situation wäre in der Ukraine kaum vorstellbar: dass die Eltern eines russischen Militärkommandanten dort so lange friedlich leben könnten, ohne dass sie "besucht", mit oder ohne Anklage und Ermittlung zum SBU verschleppt und zum Tausch gegen Militärpersonal – ukrainische Kriegsgefangene – angeboten worden wären. In der Ukraine, wo der Bürgermeister von Lwow noch versucht, selbst die Überreste sowjetischer Soldaten – Gefallener im Großen Vaterländischen Krieg – gegen lebendige Gefangene auszutauschen? Und noch lange vor solchen Aktionen seitens des offiziellen Kiewer Regimes hätten ukrainische "Aktivisten" das Haus oder die Wohnung der alten Leute abgebrannt.

Hier zeigt die russische Welt, die den Humanismus als Grundlage hat, einmal mehr ihren Unterschied zur Ukraine (zu welcher Welt auch immer diese sich zählt). Auch Syrski selbst kennt diesen Humanismus gut, er ist Russe – und nahm die Ernennung zum Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte daher gelassen an, wohl wissend, dass deswegen niemand seinen Eltern in Russland etwas zuleide tun würde.

Syrskis Bruder Oleg beklagt zwar, dass er und seine Eltern nun als Verräter gebrandmarkt werden – doch mir scheint, dass sich die beiden unglücklichen alten Herrschaften in ihrer tragischen Lage jedes Mal, wenn Drohnen des ukrainischen Militärs Russlands Städte anfliegen oder fünfjährige Jungen ihr Leben lassen, um mit dem eigenen Körper die Mama zu schützen, vor allem selbst mit diesem Brandmal sengen. Für Syrskis Eltern ist vollkommen klar, dass ihr Sohn für all das mitverantwortlich ist.

Und auch wenn die Landsleute ihnen mehrmals täglich sagen: "Ihr seid nicht für ihn verantwortlich", geben sie sich dennoch die Mitschuld, denn es ist ihre Familie, in der ein derartiger Sohn aufgewachsen ist. Jemand wird sagen: "Ja gut, er lebt aber schon lange in der Ukraine, dort ist sein Land." Doch in der Entscheidung des Einzelnen selbst liegt nicht nur, wo man lebt, sondern auch, wer man ist und mit wem und gegen wen man kämpft. Und dieser Einzelne – nun ja, den haben sie erzogen.

Als Syrski sich bereit erklärt hat, die ukrainischen Streitkräfte anzuführen, war ihm vollkommen klar, dass er, wenn er seine Waffe in die Richtung des Landes seines Vaters richtet, damit wortwörtlich zum Vaterlandsverräter wird und er nicht von seinem Vater wird Abschied nehmen können. Er hat Status, er hat Geld. Er hat eine ganze Armee unter seinem Kommando. Jedoch hat er solch eine Kleinigkeit wie die Möglichkeit, die Hand seines Vaters an dessen Sterbebett zu halten, seitdem nicht mehr – und wird sie nie mehr haben. Doch nur Kleinigkeiten wie diese machen den Menschen glücklich.

Übersetzt aus dem Russischen.

Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegram-Kanal nachlesen. Diesen Kommentar verfasste sie exklusiv für RT.

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