
Deutschland jenseits des Kipppunkts? – Teil 2: Staatshandeln und politische Veränderung

Von Dagmar Henn
Teil 1 finden Sie hier.
Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang ist, ab wann dieser Prozess unumkehrbar ist. Dabei spielt nicht nur das Vorhandensein von Anlagen eine Rolle, oder ob für hergestellte Produkte noch ein Markt vorhanden ist (was innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit zum Problem werden kann, wenn es starke Konkurrenz gibt, da bleibt keine Leerstelle, die darauf wartet, wieder von demselben Hersteller besetzt zu werden); weitaus schwerer zu kalkulieren ist der Verlust an informellem Wissen, all jene Kenntnisse, die eben nicht in Handbüchern niedergelegt werden oder sich notfalls aus irgendwelchen Akten ziehen lassen. Gerade angesichts der Tatsache, dass der Altersdurchschnitt in vielen Berufen vergleichsweise hoch ist, dürfte selbst eine vorübergehende massive Unterbrechung dazu führen, dass überproportional viel dieser informellen Kenntnisse verloren ist.

Ab wann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem sich die Bewegung abwärts selbsttätig beschleunigt? Die Auslastungszahlen, die in diesem Schreiben genannt werden, sind ein Alarmsignal. Auch das ist ein Punkt, an dem die Information "ein Betrieb arbeitet noch" täuscht, denn wirklich stabil arbeitet er nur, wenn die Auslastung über der erforderlichen Schwelle liegt. Das sind aber Informationen, die nicht öffentlich verfügbar sind. Eine wirkliche Bewertung, wie nahe der Punkt ist, an dem ein großflächiger Zusammenbruch erfolgt, ist also nur schwer möglich. Bleibt nur festzuhalten, dass das Sichtbare tatsächlich nur die Spitze des Eisbergs ist.
Warum erfolgt so wenig Gegenwehr aus der Industrie? Dass die ganzen aberwitzigen Pläne wie "grüner Stahl" eine ohnehin prekäre Situation noch prekärer machen und die "Energiewende" nicht aufgehen kann, ist jedem klar, der rechnen kann. Trotzdem sind es, wie oben erwähnt, immer nur kurze Momente, in denen Protest geäußert wird, der dann Anzeichen einer tiefen Verzweiflung trägt.
Zwei mögliche Begründungen sind denkbar. Die eine: Es ist klar, dass es in der Politik kein Gegenüber mehr gibt, das diese Argumentation auch nur versteht. Das ist vorstellbar, aber irgendwie nicht ausreichend, um zu erklären, warum eine gesellschaftliche Gruppe, die früher imstande war, auf ein Fingerschnipsen die Politik in die von ihr gewünschte Richtung zu wenden, sich verhält, als wäre sie plötzlich taubstumm. Die andere: Zumindest in den größeren Konzernen ist der Einfluss von Strukturen wie BlackRock inzwischen so stark, dass deren kurzfristiges Renditeinteresse selbst Notwendigkeiten für die fortgesetzte Existenz überlagert; also das Personal in den Vorständen sehr wohl weiß, dass die Perspektiven finster sind und gegengesteuert werden müsste, aber die Letztentscheider nun einmal die großen Anteilseigner sind, deren Interesse anders gelagert ist, die aber ihre Kontrolle erst zu dem Zeitpunkt preisgeben, an dem sie mit vollen Geldkoffern wieder abrücken. Oder für die – man denke an den alten Spruch über Siemens als "Bank mit angeschlossenem Elektroladen" – längst die Erträge aus Rohstoffspekulationen oder Ähnlichem wichtiger sind als die materielle Produktion.
Wobei auch diese Geschäfte nicht mehr so gut laufen. Dafür sind zumindest die finanziellen Raubzüge ein starkes Indiz. Die Corona-"Impfungen" waren zwar nicht heilsam, aber zumindest ein erfolgreiches Schema, um weitere Milliarden aus der Gesellschaft zu saugen. Die Aufrüstungsprogramme erwecken den starken Eindruck, letztlich eine weitere Variante desselben Spiels zu sein, möglichst wenig Dinge gegen möglichst viel Geld zu tauschen.
Die langfristige Strategie dieser Akteure kennt derzeit nur ein Ziel: Die westliche Hegemonie mit allen Mitteln und um jeden Preis zu erhalten. Denn daran hängen nicht nur die umfangreichen Einnahmen aus "geistigem Eigentum" (und hier reden wir von Summen im zweistelligen Prozentbereich, bezogen auf das BIP), sondern auch jene, die aus den vielen alten oder auch neu geschaffenen Spekulationsmärkten gezogen werden, die rund um den Rohstoffhandel bestehen. Die bringen ebenfalls nur unter der Voraussetzung Gewinne, wenn die Rohstoffe insgesamt, wenn sie auf diesem Markt auftauchen, so günstig wie möglich sind, weil jedes Prozent, das in den Herkunftsländern verbleibt, den Spielraum verringert.
Die produzierende Industrie, wäre sie tatsächlich mehr als ein Anhängsel dieser Finanzblase, könnte aus einer veränderten globalen Machtstruktur sogar Nutzen ziehen – der letzte Markt mit großem Entwicklungspotenzial heißt Afrika. Der kann aber nur dann eine Rolle als Wachstumsmotor übernehmen, wenn die Infrastruktur ausreichend entwickelt ist; eines der chinesischen Kernprojekte. Die langfristigen Strategien beider Gruppen, wenn man denn annimmt, dass sie sich in irgendeiner Weise verkörpern, sind nicht miteinander kompatibel.
Die Aufrüstungspläne, die derzeit mit solcher Verve durchgepeitscht werden, sind keinesfalls ein Ersatz für die wegbrechende Industrieproduktion, erst recht nicht, weil die Produkte extrem überteuert sind – die deutschen sogar noch mehr als die US-amerikanischen. Schließlich drehte sich die Entwicklung der ganzen letzten Jahrzehnte in diesem Bereich darum, Monopolstrukturen zu schaffen, also sicherzustellen, dass es Gegenstand X nur bei jeweils einem Hersteller gibt. Die Ergebnisse der vergangenen drei Jahre, in denen im gesamten Westen versucht wurde, die Produktion von so vergleichsweise einfachen Dingen wie 155mm-Granaten hochzufahren, sind kläglich – die USA sollen inzwischen gerade mal auf 40.000 Granaten im Monat kommen (während gleichzeitig Meldungen über die russischen Truppen aktuell wieder von bis zu 30.000 verfeuerten Granaten am Tag berichten).
Deshalb geht es mit hoher Wahrscheinlichkeit nur auf den ersten Blick darum, Waffen zu produzieren, sondern vielmehr darum, weitere Beträge aus den Staatshaushalten auf den Konten von BlackRock & Co. landen zu lassen. Nicht zu vergessen, dass die Schuldenaufnahme im Zusammenhang mit diesem politischen Kurs so hoch ist, dass im Falle eines grundsätzlicheren politischen Kurswechsels die Möglichkeit genommen wird, ihn über Schulden zu finanzieren. Durch diesen Schritt wird sozusagen die politische Zukunft in Geiselhaft genommen (während man sich mittlerweile durchaus fragen kann, ob die ganze Schuldenbremse nur ein Trick war, um die Regierungen an einer Kreditaufnahme in dem Zeitraum zu hindern, in dem insbesondere der deutsche Staat für seine Bereitschaft, das Geld zu nehmen, noch Zinsen bekommen hätte, weil dieses Geld nicht aus den Kapitalmärkten abfließen sollte).
Die politische Klasse in Deutschland hat sich in großer Mehrheit erfolgreich in die Ecke manövriert. Die Liste der Probleme, die sich mit dem vorhandenen Personal nicht lösen lassen, ist beträchtlich, weil selbst die geopolitische Konfrontationspolitik und die Energiefrage nur Punkte auf der Liste sind. Kann man diese Politiker dazu bringen, vom Klimaglauben zu lassen? Oder sich gegen die EU und die NATO zu stellen (die sich inzwischen zu einer Art bösartigem Brüsseler siamesischem Zwilling entwickelt haben)? Das Aufrüstungsprogramm und die dazugehörige Kriegshysterie dürften ein Hindernis bleiben, auch wenn sich die Erkenntnis durchsetzte, dass ohne günstige russische Kohlenwasserstoffe die Lebenserhaltung der deutschen Industrie nicht möglich ist; schließlich wäre Russland nicht verpflichtet, das Rohmaterial für die Sprengstoffe zu liefern, mit denen dann gegen Russland gerichtete Munition erzeugt wird …
Je weiter die Gleichschaltung voranschreitet – und die Erosion der NATO-Gegnerschaft in der AfD lässt erahnen, dass sie noch nicht an ihrem Ende angekommen ist –, desto schwieriger wird selbst eine kleine Korrektur innerhalb des bestehenden Systems. An diesem Punkt liegt die Entwicklung der politischen Landschaft in Deutschland noch etwas hinter jener in Großbritannien, wo die beiden traditionellen Regierungsparteien Labour und Konservative sich zum einen in Bezug auf entscheidende Punkte (wie Ukraine) nicht im Mindesten unterscheiden, und zum anderen in neueren Umfragen beide keine Mehrheit mehr zustande bringen könnten – nicht einmal mehr miteinander, weil jede Partei nur noch bei rund 15 Prozent liegt. Dummerweise gibt es aber keinerlei Alternative, die ein Programm hätte …
Nicht, dass das Angebot in Deutschland wesentlich überzeugender wäre. Die AfD ist zwar weniger neoliberal als die CDU (insbesondere, was die Daseinsvorsorge betrifft), aber mitnichten frei von dieser Ideologie. Und das BSW? Leidet im günstigsten Fall unter Klimaglauben. Der Rest ist hundertprozentig auf Linie. Das betrifft jetzt nur den Punkt, ob Strukturen bestehen, die überhaupt eine Umkehr tragen könnten.
Was aber noch lange nicht das Ende vom Lied ist, denn die gesamte öffentliche Verwaltung wurde 30 Jahre lang auf neoliberal getrimmt – bis in die letzte Prozedur, was im Kern bedeutet, es bräuchte unter normalen Bedingungen etwa die gleiche Zeit, um diese Entwicklung wieder umzukehren. Diese Zeit ist aber nicht vorhanden. Denn wenn die Grundvoraussetzung für jedes erfolgreiche Agieren gegen die angelaufene Deindustrialisierung eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Agieren des Staates ist – notwendigerweise auf allen Ebenen bis zur Gemeinde –, dann ist bis zu dem Moment, in dem wirkliche Handlungsfähigkeit wiederhergestellt ist, der Deindustrialisierungsprozess längst abgeschlossen.
Man kann das Problembereich für Problembereich durchspielen. Ob es sich um den Energiesektor handelt, der auf jeden Fall zusätzliche Kraftwerke bräuchte, um die Wohnungsfrage, die nur mit massivem staatlichem Eingriff zu lösen ist (von gesetzlichen Mietobergrenzen bis zu öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften) oder die Bahn. An keinem dieser Punkte sind die jetzt schon vorhandenen Schäden innerhalb des aktuellen Rahmens zu beheben. Aber ein Bruch, der sich von der geopolitischen Position bis zur Anforderung an öffentliche Aufträge zieht, bräuchte eine politische Wucht, die nicht in Sicht ist; nicht im parlamentarischen Rahmen, aber auch nicht außerhalb. Man kann das mit einem einfachen Bild fassbar machen: Je tiefer ein Fahrzeug im Dreck steckt, desto mehr Kraft benötigt man, um es wieder herauszuziehen.
Das ließe sich vermutlich sogar als Gleichung formulieren, gäbe es denn die vollständigen Daten. Entscheidend ist, dass eine politische Kehrtwende schon einige Kernpunkte geklärt haben müsste – wie die Wiederherstellung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit des Staates, also die Lösung von der EU –, ehe die Deindustrialisierung jenen Punkt erreicht, ab dem sie unumkehrbar ist und das rohstoffarme Deutschland irgendein völlig neues Existenzmodell aus dem Ärmel ziehen muss. Leider ist der einzige Faktor, der sowohl den Zeitrahmen einer Veränderung verkürzen als auch ihre Durchdringungstiefe erhöhen kann, eine politische Mobilisierung der Bevölkerung. Die aber ist aktuell an einem Tiefpunkt politischer Aktivität. Das, was Aktivität zu sein scheint, wie die Demonstrationen "gegen Rechts", sind in Wirklichkeit nur die aktuelle Gehorsamsbekundung der üblichen Mitläufer.
Aber selbst wenn der stetig steigende Konformitätsdruck, der durch Dauerpropaganda, Strafverfolgung und Freundlichkeiten wie "Debanking" erzeugt wird, andeutet, dass es im Apparat Sorgen gibt, die Passivität könnte enden, fehlt im Grunde alles, was nötig wäre, um eine solche Aktivierung zu tragen. Gleichzeitig hat der gesamte gleichgeschaltete Teil der politischen Szenerie sich derart tief in die Kriegspropaganda verstrickt, dass sie, sofern sie nicht – was kaum vorstellbar ist – freiwillig die Bühne räumen wollte, trotz fehlender materieller Voraussetzungen letztlich gar nicht mehr anders kann, als den angekündigten Krieg dann auch zu führen. Und sei es nur, um vom fortschreitenden Desaster im Hinterland abzulenken.
Keine erfreuliche Perspektive, und in diesem Spiel ist es nur der Joker, der gewinnt: Innerhalb des gegebenen politischen Rahmens wurde der Zeitpunkt, an dem eine auf parlamentarischem Weg eingeleitete Kehrtwende vor dem Moment, an dem die Deindustrialisierung unumkehrbar wird, Erfolg haben kann, bereits überschritten. Zwischen dem Land und der Zerstörung seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlagen steht nur die unwahrscheinlich wirkende politische Mobilisierung der Bevölkerung.
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