Meinung

Captain America und das Imperium der Lügen

US-Filme sind ein wichtiger Zweig der Soft Power. Wie funktioniert die Selbstdarstellung "Uncle Sams" in seiner global projizierten Traumfabrik? Um dem auf den Grund zu gehen, besuchen wir die Filme seines Cousins – des Superhelden Captain America.
Captain America und das Imperium der Lügen© Gage Skidmore from Surprise, AZ, United States of America, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Von Elem Chintsky

Das erste, was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit. So lautet die oft wiederholte Maxime in Zeiten des eskalierenden Konfliktes. Ironischerweise wird sie oft von denen bedient, die der Lüge am meisten Viralität verleihen. Die politische Lüge ist oft das Verschweigen von Tatsachen, deren verkürzte Darstellung, und erst im äußersten Fall die offen verzerrte oder vollkommen umgekehrte Interpretation derselben. Eine forensisch schwer nachzuweisende Lüge ist die, die parallel zur Realität ausgerollt wird. Denn bei anklagender Nachfrage kann man immer behaupten, man habe ein Märchen auf wahren oder teils wahren Begebenheiten kreiert – ohne Anspruch auf Realitätsnähe oder Faktentreue.

Der österreichische Filmregisseur Michael Haneke sagte einmal "ein Film ist 24 Lügen pro Sekunde, aber vielleicht im Dienste der Wahrheit." Hier sollte die Betonung schwer auf "vielleicht" liegen, womit Haneke weitaus aufrichtiger oder zumindest weniger naiv ist, als sein Schweizer Fachkollege von dem er das Zitat übernommen und modifiziert hat (Jean-Luc Godard: "Film ist 24 Mal Wahrheit pro Sekunde."). Diese Aussage ist eigentlich gar nicht so abgeklärt, wie sie anfangs wirkt. Sie besagt lediglich, dass das Medium Film eine Parallelwelt darstellt – eine, in der ähnliche oder andere Regeln und vereinfachte Gesetzmäßigkeiten bedient werden. Sofern es immer noch die Kunst ist, die die Wirklichkeit nachahmt, und nicht andersherum. Denn moderne Technologie und ihre unmittelbare Nähe zu den Köpfen von uns als empfangenden Menschenmassen hat durchaus eine Umkehrung des Prinzips erzwungen: Die künstlich gebauten Narrative in den reproduzierbaren, digitalen Medien bestimmen, was der Konsument glaubt über die wahre Welt zu wissen. Die Wirklichkeit ahmt die Filmkunst nach, da hunderte Millionen Zuschauer die Art, wie sie auf die Welt blicken, davon abhängig machen, was sie auf dem Bildschirm zu entdecken glauben.

Ein zeitgenössisches Beispiel, das diesbezüglich der näheren Betrachtung wert ist, ist der Superheld "Captain America" – mit bürgerlichem Namen: Steve Rogers. Die literarische Figur ist als Filmheld seit dem Entstehen des Marvel Cinematic Universe (MCU) in den Jahren 2008–2011 einem breiteren, globalen Kino-Publikum zugänglich geworden. Davor war Captain Americas Bekanntheitsgrad eher gebunden an die Comicheft-Serien des US-Verlags Marvel und seiner Vorgänger, in denen seine Abenteuer ursprünglich publiziert wurden.

Rogers war ein kleinwüchsiger, kränklicher junger Mann, der ein großes, mutiges Herz hatte. Um am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen, erklärte er sich bereit, ein hoch experimentelles Serum zu empfangen, das ihn in einen Supersoldaten verwandelte. Bei seiner letzten Mission stürzte er in der Arktis ab, galt seither als verstorben, lag jedoch nur in einem Kälteschlaf, der nahezu 70 Jahre später – in unserer Gegenwart – mit der Entdeckung seines Wracks endete. Ohne auch nur einen Tag gealtert zu sein, setzt er sein Superheldendasein fort, wird Mitglied der militärischen US-Sicherheitsbehörde S.H.I.E.L.D und später der Superhelden-Gruppe Avengers (zu Deutsch: die Rächer). Obwohl Rogers (gespielt von Chris Evans) bisher in insgesamt zehn MCU-Filmen auftaucht, umspannt diese Analyse grob die ersten beiden Filmtitel, Captain America: The First Avenger (2011), und ganz besonders Captain America: The Winter Soldier (2014).

Seit seinem ersten Erscheinen während des Zweiten Weltkriegs (1940) hat die Figur alle hegemonialen Phasen des amerikanischen Imperiums miterlebt – sogar die soziologische Antikriegsphase rund um den Vietnamkrieg (1965–1973). Denn während der Comicheld den US-Nichtinterventionismus im Zweiten Weltkrieg noch effektiv auflockern konnte, waren die Marvel-Autoren während des Vietnamkriegs ratlos, wie ausgerechnet die patriotisch aufgeladene Figur des Captain America erneut für Abhilfe sorgen könnte. Zwar blieb er seinen Grundwerten Selbstlosigkeit, Pflichtbewusstsein und Mut treu, aber seine Persona begann sich im Kontrast zur machtpolitischen Außenwelt zu verändern – hin zu einer Anti-Establishment-Figur, die zu ihrem persönlichen Ungehorsam, aufgrund des tief im Herzen gehegten moralischen Imperativs, kompromisslos steht – selbst wenn dies heißt, die ganze Welt (oder eben den US-Staatsapparat) gegen sich zu haben. Wobei aber gleichzeitig die Symbole des amerikanischen Patriotismus, der Nationalflagge, nie den Körper des Helden verlassen. Genau diese Entwicklung von Steve Rogers' Weltanschauung ist relevant, denn nicht sie entwickelt sich, sondern die Welt um ihn herum. Sie bietet einen eindrucksvollen Einblick in die amerikanische Soft-Power-Strategie und deren globale Projektion. Sie wurde ebenfalls zu einem impliziten, womöglich unbewussten Eingeständnis, dass irgendjemand dort hinter dem großen Teich durchaus den Unterschied versteht zwischen dem, was das amerikanische Imperium sein sollte und was es eigentlich ist. Und dass beides sehr weit voneinander entfernt liegt. Ein fiktiver Held wird mit größter Mühe projiziert, während ebendieser Held in der wahren Welt geächtet und verfolgt würde.

Die leise Vermutung, dass wahrer Patriotismus durch kompromisslose Befehlsverweigerung zustande kommt, wird im zweiten Teil, Captain America: The Winter Soldier (2014), zum Leitmotiv – nach dem Prinzip "verborgen in aller Öffentlichkeit". Zwar ist der offizielle Bösewicht der "Winter Soldier", der einerseits Steve Rogers' bester Freund aus seiner Jugend ist, andererseits ein US-Soldat, der von einem fiktiven sowjetischen Geheimdienst zu einer willenlosen Superwaffe ohne Gedächtnis und somit ohne Vergangenheit gemacht wurde. 

Wer ist aber der eigentliche Antagonist Captain Americas? Es ist der präventive US-Überwachungsstaat, der nicht nur ein Gewaltmonopol hat, sondern auch eine erhabene und schier absolute Vorherrschaft bei der technischen Anwendung dieser Gewalt entwickelt hat. Ein Staat samt seinen Dienern, der die mahnenden Worte von einem seiner Gründungsväter (Thomas Jefferson: "We need a revolution every 20 years just to keep government honest", zu Deutsch: "Alle 20 Jahre brauchen wir eine Revolution, nur um die Aufrichtigkeit der Regierung zu wahren") alles andere als berücksichtigt hat. In der Filmhandlung ist der US-Staat zumindest an der technokratischen Schwelle, die, wenn überschritten, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Captain Americas Befehlshaber, Nick Fury, präsentiert ihm das nahezu fertige "Project Insight" (zu Deutsch, "Projekt Einsicht"), welches ein voll militarisiertes Überwachungsprogramm ist, das Zugang zum gesamten Internet hat, wodurch jeder Mensch auf der Erde komplett und in Echtzeit erfasst wird und bei Bedarf umgebracht werden kann. Der Zweck der absoluten Sicherheit heiligt die technischen Mittel der Freiheitsberaubung. Der Protagonist (und das personifizierte Gewissen der längst vergangenen amerikanischen Republik), Captain America, erwidert darauf "I thought the punishment came after the crime?" (zu Deutsch, "Ich dachte, die Strafe kommt nach dem Verbrechen?"). Steve Rogers bekräftigt erneut sein Missfallen und, dass dies nichts mit Freiheit, sondern mit Furcht zu tun hat. Mit diesem Dialog positioniert sich Captain America in der soziopolitischen Dichotomie zwischen Freiheit und Sicherheit klar beim Ersteren – und wir mit ihm.

Sein Vorgesetzter Fury argumentiert, dass der US-Staat die Welt so nimmt, wie sie ist, nicht so, wie er sie gerne hätte. Diese scheinbar realpolitische Aussage ist auf einer Ebene der Metaanalyse durchaus ironisch, besonders, wenn man die weiter oben von mir aufgestellte Gegenthese noch einmal verinnerlicht: Nämlich was in der realen Welt den Unterschied ausmacht zwischen dem, was das amerikanische Imperium sein sollte und was es eigentlich ist. Was behauptet dieses Imperium von sich und wovon sprechen seine Taten? Dass es diesbezüglich nicht nur Verwirrung gibt, sondern diese gestiftete Verwirrung auch System hat.

Denn Filme dieser Art zeigen nicht, wie die Welt ist, sondern wie die Verantwortlichen und Macher wollen, dass die Zuschauer sie sehen und empfinden: Ein hyper-moralisches Amerika, das in seinen Institutionen und tiefsten Machtstrukturen grundlegend unkorrumpierbar bleibt und nah an den Prinzipien seiner Verfassung ist. Später suggeriert die Filmhandlung, dass jegliche Ungereimtheiten oder Machtmissbrauch stets als subversiver – ultimativ: fremder – Einfluss daherkommen und nicht aus dem ursprünglichen Wertekatalog der USA entnommen wurden. 

Der Zuschauer wird mehrere Male daran erinnert, dass Captain Americas Gewissenskonflikt sich sichtlich verstärkt. Seit er zurückdenken könne, wolle er "einfach nur das Richtige tun." Die Gespräche, die er hierzu führt, deuten darauf hin, dass die heutige Welt in moralischer Ambivalenz gefangen sei – viel mehr als in der übersichtlichen Schwarzweiß-Epoche des Zweiten Weltkrieges. Captain America ist ein idealisiertes Relikt längst vergangener Zeiten, verweigert sich aber der modernen Reform, die besagt, alles sei relativ und zum eigenen Vorteil auszuschlachten.

Was Captain America: The Winter Soldier letztendlich zu einem Märchen macht (abgesehen vom offensichtlichen Superhelden-Genre), ist, dass all die Vorarbeit, die geleistet wird, Captain America glaubhaft gegen einen feindlich gewordenen US-Staat antreten zu lassen, wie durch Zauberhand all seiner Ernsthaftigkeit beraubt wird. In einer plötzlichen Kehrtwende stellt sich heraus, dass der US-Staat (beziehungsweise seine militärische Geheimbehörde S.H.I.E.L.D) von einem Nazi-Geheimbund namens HYDRA infiltriert wurde. Es wird erklärt, dass dies letztendlich der einzige Grund für den gesamten Wertekonflikt gewesen sei, obwohl der Streit um den moralischen Imperativ zwischen Captain America und seinem Vorgesetzten Fury im ersten Film-Akt nicht wirklich gelöst wird. Selbst mit der neutralisierten Gefahr des "inneren Feindes" (die Nazis von HYDRA) bleibt die ethische Gabelung zwischen Freiheit und Sicherheit bestehen und ist aktuell. Captain America sei der Massenmedien-Beweis, dass das Gewissen der amerikanischen Republik als "unabdingbare Nation" weiterhin intakt ist – beziehungsweise vorgibt, intakt zu sein. Dieses ethisch invertierte Lichtbild wird in unsere Wirklichkeit hineinprojiziert, um den Kampf um die Deutungshoheit und Wahrnehmung der Massen täglich für sich zu gewinnen.

Aber die US-Medienstrategie hat in anderen Bereichen auch bewusst andere Ansätze, wie in der Bourne-Filmreihe gezeigt wird. Die Helden dort sind kompromittierter als Captain America, da sie die moralische Schwelle, Unschuldige professionell für den US-Staat zu morden, überschritten haben und erst danach auf ihren Pfad des moralischen Ungehorsams und der Befehlsverweigerung treten. Darin liegt auch die bisherige Überlegenheit des US-Kinos insgesamt: Die Fähigkeit zu diversifizieren zwischen Filmprodukten, die offen die Gewalt des Imperiums verherrlichen und romantisieren ("American Sniper"), teilweise Selbstkritik zulassen ("Captain America") oder sogar ungewöhnlich offen sind mit den soziopathischen Zügen der politischen und geheimdienstlichen US-Eliten (die "Bourne"-Filmreihe oder die TV-Serie "House of Cards"). Die Dosis macht das Gift und seine Wirkung. 

Eine der wichtigsten Regeln des visuellen Geschichtenerzählens lautet eigentlich: "Zeigen, nicht erzählen" (zu Englisch, "Show, don't tell"). Das US-Imperium hat in dem Sinne einen genialen Schachzug vollbracht, indem es diese beiden Bereiche voneinander etwas trennte: Das viel wirkungsvollere "Zeigen" wurde an die fähigsten Geschichtenerzähler der Filmindustrie ausgelagert – die die Freiheit haben, den amerikanischen Mythos zu erweitern. Dadurch entsteht immer mehr die vorher erwähnte Verwirrung zwischen dem "Erzählten" oder "Behaupteten" sowie dem "Gezeigten" oder "wahrhaftig Scheinenden oder Stattfindenden". Das erklärende, stiefväterliche "Erzählen" ist das, was oft im Neusprech der New York Times, der Newsweek, der Pressekonferenz des US-Präsidenten oder des US-Gesandten im UN-Sicherheitsrat, als "Fakten" zu irgendeinem Thema festgelegt werden. So wie US-Außenminister Colin Powell 2003 von irakischen Massenvernichtungswaffen "erzählte", die sich als erlogen erwiesen haben.

Deswegen, als wir dank Julian Assange und Wikileaks 2010 "gezeigt bekommen haben", was US-Streitkräfte in Irak und Afghanistan für Verbrechen begangen haben, begann die sich bis dahin erprobte globale US-Medien-Strategie in eine erste Erschütterung zu begeben. Normalerweise haben uns einst nahezu exklusiv die Systemmedien "davon erzählt", wie die USA selbstlos die liberale Demokratie exportieren. Falls dabei doch "vermeintliche Zivilisten" starben, wurde journalistisch dafür gesorgt, dass auch das im richtigen Framing landet. Den Rest "zeigte" Hollywood mit fürsorglicher Unterstützung des Pentagons. Dissidenten gab es immer, auch zu analogeren Zeiten. Aber die Einsätze heute beim digitalen Informationskrieg sind sehr viel höher – die Effekte von staatlich nicht genehmigten und nicht genehmen Fakten potenziell viel schädlicher für den Status quo.

In der wahren Welt hat sich der US-Staat weder für sein globales Überwachungsprogramm PRISM entschuldigt, noch sich völkerrechtlich bindend dazu verpflichtet, dieses aufzugeben oder zurückzufahren. Stattdessen rief der ehemalige CIA-Direktor und US-Außenminister Mike Pompeo dazu auf, Edward Snowden in die USA zurückverfrachten zu lassen, um ihn dort für Landesverrat hinzurichten. Das fiktive "Projekt Insight" aus dem zweiten Teil der Captain America-Filmreihe ist eine Metapher für das reale PRISM-Programm. Die Rolle, die Captain America dort verkörpert, ähnelt der, die Edward Snowden in der realen Welt übernahm – nur dass der fiktive Superheld noch im selben Film rehabilitiert wird und der Held aus der echten Welt im Exil lebt und um sein Leben bangt. 

Es scheint demnach fast zu symbolisch und genehm, als dass es ein Zufall sein könnte, dass "Captain America – The Winter Soldier" im März 2014 herauskam – nur neun Monate nach der NSA-Affäre im Juni 2013, die, wie Wikipedia es nennt, "eine kulturelle Diskussion über nationale Sicherheit und individuelle Privatsphäre" auslöste. Was sagte US-Präsidentschaftskandidat Obama nur wenige Jahre zuvor (2008) öffentlich über Whistleblower, die nach ihrem guten Gewissen handelten?

"Whistleblower in der Regierung sind Teil einer gesunden Demokratie und müssen vor Repressalien geschützt werden."

Mit Obama als US-Präsident jedoch folgte die bis dahin schwerste Epoche für Whistleblower in den Vereinigten Staaten. Eines der vielen Beispiele von einem projizierten Ideal, das sich später auf unbarmherzige Weise als Umkehrung entblößt.

In den Filmen Captain Americas gibt es eine Auflösung, eine Demontage der Systemübergriffigkeit und eine Rückbesinnung auf die staatlich und verfassungsrechtlich gewährleistete Tugend der bürgerlichen Freiheit – etwas, dass immer bedeutungsschwanger mit vorausgesetzt wird, wenn man in liberalen westlichen Demokratien von der "freien Welt" fabuliert. In der echten Welt gibt es diese Rückbesinnung faktisch nicht – weder beim Hegemon selbst, noch bei anderen. Deshalb entpuppt sich dieses öffentliche Behaupten in den Pressekonferenzen der EU oder der USA – einem religiösen Mantra gleich – als Schall und Rauch. Es ist dasselbe "Davon-erzählen", ohne es wirklich mehr zu zeigen, geschweige dass der aufmerksame Bürger fähig ist, es um sich herum zu erkennen. Wenn das gewünschte Narrativ aber oft genug in unserem digitalen Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit als "rasche Kunst" modifiziert und abgeändert gezeigt wird, bleibt diese Spaltung vorerst lebendig. 

"Gottes gerechter Mann" – diesen spöttisch gemeinten Kommentar richtete die abtrünnige Superschurken-KI namens Ultron im Marvel-Ensemblefilm "Avengers – Age of Ultron" (2015) an Steve Rogers. Es gibt also Ähnlichkeiten mit den biblischen Propheten Elia oder Enoch – sogar mit Jesus Christus. Was sagt Platon in der Politeia im Dialog mit Sokrates? (Buch II, 361e–362a) 

"Denke nicht, Sokrates, ich spreche so, sondern diejenigen, die das Unrecht über das Recht preisen. Sie werden sagen: Der Gerechte müsse bei dieser Gesinnung Peitsche, Folter, Ketten und das Brandeisen in den Augen ertragen und werde schließlich, nach allen Leiden, gekreuzigt werden. So werde er lernen, dass wir nicht danach streben sollen, gerecht zu sein, sondern gerecht zu scheinen."

Verfasst wurde diese Schrift von Platon ganze 375 Jahre vor Christus. Auch der russische Schriftsteller Dostojewski spekulierte im 19. Jhr., wie genau eine Rückkehr Jesu in unsere heutige Welt aussehen würde ("Die Brüder Karamasow"; "Der Großinquisitor"). Hier wird ebenfalls der Freiheitsbegriff stark umkämpft: der römisch-katholische Großinquisitor erklärt dem zurückgekehrten Jesus, dass er umsonst zurückgekehrt sei. Die absolute Kontrolle der Kirche über ihre Subjekte sei mittlerweile selbstausreichend – die (hier geistige) "Sicherheit" sei vollends gewährleistet, es gebe keinen Bedarf für "Freiheit". Jesus wird sogar der Vorwurf gemacht, er habe den Menschen eine Art Freiheit gegeben, mit der sie ohnehin nichts anzufangen wüssten. Demnach ist das zu lösende Zerwürfnis zwischen "Freiheit" und "Sicherheit" ultimativ gebunden an ein höheres, ewiges Gut – eine Rechtschaffenheit als anzustrebendes Ideal –, statt an eine durch Macht oder Gewalt forcierte und über Massenmedien propagierte Norm. Aber genau dieses "höhere Gut" wird in der Hauptfigur des Captain America vom Imperium der Lügen und seiner Massenmedien gerissen behauptet und dreist für sich vereinnahmt. Mit Hilfe von Platon und Sokrates könnte die US-Medienstrategie in aller Kürze zusammengefasst werden als ein Gefäß, ein Verteiler oder eine industrialisierte und kommerzialisierte Camera obscura für die "Noble Lüge" – den US-Mythos nämlich, verkörpert von Figuren wie Captain America.

Eine Frage wäre, ob ein in unsere Welt versetzter Captain America enthusiastisch, Seite an Seite mit den israelischen IDF-Soldaten in Gaza morden und die Routen für die Hilfsgüter nach Gaza blockieren würde? Oder würde er an Norman Finkelsteins, Julian Assanges, Hans Zimmers (seinen den Genozid in Gaza verurteilenden X-Post hat er "auf besonderen Druck hin" wieder gelöscht), Edward Snowdens, Ilan Pappes Seite stehen – sowie an der vieler anderer einfacher Menschen weltweit – und die offensichtliche Ungerechtigkeit und die Kriegsverbrechen Israels verurteilen? Würde er gerecht sein oder nur gerecht scheinen wollen? Manch andere würden vielleicht fragen, wo ein solcher wahrhaft rechtschaffener Mann den Startpunkt für den Ukrainekonflikt setzen würde? Etwa pünktlich am 24. Februar 2022? Wohl kaum. 

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit "RT DE" besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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