Meinung

Compact-Urteil: Bestenfalls ein halber Sieg

Ja, man würde sich gerne ausgiebig über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts freuen, das Nancy Faesers "Compact"-Verbot für rechtswidrig erklärt. Aber schon die Presseerklärung des Gerichts belegt, dass an Pferdefüßen und Wermutstropfen kein Mangel besteht.
Compact-Urteil: Bestenfalls ein halber SiegQuelle: www.globallookpress.com © Hendrik Schmidt

Von Dagmar Henn

Die Schnur wurde wieder verknotet, aber das Damoklesschwert ist geblieben – so ließe sich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum von der ehemaligen Bundesinnenministerin Nancy Faeser verhängten Compact-Verbot zusammenfassen.

Denn was tatsächlich erfolgte, war ein Urteil in einem Einzelverfahren, das zur Frage der Anwendbarkeit des Vereinsrechts auf Veröffentlichungen keinerlei Fortschritt brachte. Im Gegenteil wurde genau dieser rechtliche Schritt bestätigt, wie der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu entnehmen ist. Das ist zwar noch nicht die Urteilsbegründung, aber in der Regel enthalten diese Erklärungen die Kernsätze des Urteils.

"Die Anwendung des Vereinsgesetzes auf die Klägerin erweist sich schließlich auch mit Blick auf den Gesetzeszweck als gerechtfertigt. Denn bei der Klägerin, die uneingeschränkt den Schutz der grundrechtlichen Medienfreiheiten genießt, handelt es sich nicht nur um ein Presse- und Medienunternehmen. Vielmehr verfolgt der maßgebliche Personenzusammenschluss nach seinem eigenen Selbstverständnis eine politische Agenda, organisiert Veranstaltungen sowie Kampagnen und versteht sich als Teil einer Bewegung, für die er auf eine Machtperspektive hinarbeitet. […] In der Gesamtwürdigung erreichen die verbotsrelevanten Äußerungen und Aktivitäten noch nicht die Schwelle der Prägung."

Übersetzt in die Sprache gewöhnlicher Sterblicher heißt das, dass das Konstrukt, über das Vereinsrecht zu agieren, in Ordnung ist, aber auf der Strichliste sind bei Compact einfach noch nicht genug Striche, um ein Verbot zu rechtfertigen. Was den Geschäftsbetrieb für Compact wieder ermöglicht, gleichzeitig aber andeutet, dass die Strichliste weitergeführt wird, und der Kunstgriff des Vereinsrechts jederzeit und bei jedermann wieder angewandt werden kann.

Nun findet sich in der bundesdeutschen Geschichte gerade ein Präzedenzfall in dieser Richtung – das ist das Verbot von linksunten.indymedia von 2020. Auch in diesem Fall wurde eine Publikation, eine Webseite, zum Verein erklärt; allerdings auf Grundlage völlig anderer Strukturen. Und was aus dem Urteil deutlich herauszulesen ist, ist, dass die Kläger schon allein deshalb eine schlechte Ausgangsposition hatten, weil die Klageführende, den anarchistischen Grundsätzen der Struktur folgend, nicht einmal bereit war, sich als Mitglied dieser wie auch immer gebildeten Organisation zu erkennen zu geben.

Allerdings: Indymedia war ein anderer Sachverhalt, nicht nur, weil es sich dabei um ein "linksextremes" Medium handelte, sondern vor allem, weil es im Kern eine Plattform war, die anonyme Beiträge transportierte. Die, was bei dem kulturell-politischen Umfeld nicht überrascht, öfter tatsächlich strafbar waren, also unter den Bedingungen "normaler" Veröffentlichung, in einem gedruckten Medium oder auf einer nicht anonymen Plattform, zu Strafverfahren gegen die Verfasser wie auch die Herausgeber geführt hätten. Ohne diese anonymisierte Struktur wären also dem Indymedia-Verbot zahlreiche Strafverfahren vorausgegangen. Wie es in anarchistischen Kreisen nicht ungewöhnlich ist, waren offene Aufrufe zu Gewalt, auch gegen konkrete Personen, Teil des Angebots.

Man kann also in diesem Fall den Griff zum Vereinsrecht noch halbwegs nachvollziehen, weil die normalerweise übliche Verantwortung eines Verfassers für seinen Text ebenso wenig durchsetzbar war wie die Verantwortung von Herausgebern für das, was sie veröffentlichen. In dieser Hinsicht sind die Voraussetzungen bei Compact jedoch vollkommen anders, da das Magazin sämtliche Vorgaben des Medienrechts erfüllt und im Falle strafbarer Inhalte eine Strafverfolgung möglich wäre.

Ein handfester Unterschied, dem aber das Bundesverwaltungsgericht keine Rechnung trägt. Genauso wenig wie der Tatsache, dass eine umfängliche Anwendung der verwendeten Definition von Verein, die bisher eher bei exotischen Einzelfällen genutzt wurde (ein anderer Fall betrifft beispielsweise eine Hilfsorganisation für Holocaust-Leugner, die über einen Verein ihre Vermögenswerte dem Zugriff entziehen wollte) letztlich eine unkontrollierbare Bandbreite von Einsatzmöglichkeiten liefert. Manche davon hätten durchaus ihren Reiz – wenn man beispielsweise die am Cum-Ex-Skandal beteiligten Banken ebenfalls zu Vereinen erklären und sie damit jenseits des Kreditwirtschaftsgesetzes verbieten könnte.

Denn das, was sich als Definition von Verein ergibt – diesbezüglich ist gerade das Indymedia-Urteil interessant – lautet: Eine beliebig strukturierte Gruppe von Menschen gelangt auf eine ebenso beliebige Weise zu einer gemeinsamen Willensbildung, die zumindest auf eine gewisse Dauer angelegt ist. Dabei ist weder relevant, ob die Gruppe in ihrer Zusammensetzung Kontinuität aufweist oder gänzlich zufällig ist, noch, ob ihre Entscheidungsfindung demokratisch, hierarchisch oder chaotisch ist. Geradezu, als wolle man das alte Sprichwort "Drei Deutsche sind ein Verein" völlig ad absurdum führen.

Dass es hier, trotz des halben Freispruchs für Compact, um eine weitere Verschiebung der staatlichen Eingriffsschwelle nach vorn geht, belegt auch dieser Satz in der Pressemitteilung:

"Auch wenn die die Grundüberzeugung der Vereinigung zum Ausdruck bringenden Äußerungen als solche weder strafbar noch rechtswidrig sind, können sie als Indizien für ein Vereinsverbot herangezogen werden. Dieses Instrument des präventiven Verfassungsschutzes dient dazu, frühzeitig – und ohne strafbares Handeln abwarten zu müssen – tätig werden zu können."

Wenn man behauptet, ein solches Denken sei eine Konsequenz aus der Machtübergabe an die Nazis im Jahr 1933, dann beweist man nur elementare Unkenntnis der Geschichte. Es wäre für die Weimarer Justiz durchaus möglich gewesen, die NSDAP zu verbieten. Die Weimarer Justiz hatte nur viel zu ausgeprägte Sympathien, um selbst angesichts unbestreitbarer Straftaten gegen diese Partei vorzugehen. Ernst Ottwalt hatte diese Zustände bereits 1931 umfassend dargestellt, einschließlich des sehr einseitigen Umgangs dieser Justiz mit politischen Morden. Allerdings, vermutlich würde man die Richter des BVerwG überfordern, wollte man von ihnen erwarten, die Rolle der eigenen Zunft bei der Etablierung der Naziherrschaft im Blick zu haben.

Wenn man einen solchen Satz liest, der ein staatliches Eingreifen maximaler Wirkung (ein Vereinsverbot beendet schließlich die Existenz des Vereins) bei "weder strafbar noch rechtswidrig" zu bewertendem Verhalten geradezu fordert, erkennt man wieder einmal, dass es die Bundesrepublik nie zu einer ganz normalen bürgerlichen Demokratie geschafft hat. Eher zu einer Art Demokratiesimulation, ein Spiel im Klassenzimmer, das der Lehrer jederzeit beenden kann. Es mag in anderen Ländern dem deutschen Verfassungsschutz ähnliche Strukturen geben, die mehr oder weniger schamhaft im Umfeld von Polizei und Geheimdiensten verborgen werden; als formelle Institution, deren einziger Zweck in der ständigen Beaufsichtigung und Bewertung des politischen Handelns der Bürger besteht, gibt es sie nur in Deutschland.

Was auch erklärt, warum die Leichtigkeit, mit der in Deutschland die Redefreiheit beschränkt wird, unter Verweis auf Erkenntnisse ebendieser Sonderinstitution, in anderen Ländern eine Mischung aus Verblüffung und Entsetzen auslösen kann – sogar wenn über den Umweg der EU inzwischen ähnliche Vorstellungen auch anderen Ländern aufgezwungen werden. In normaleren Staaten sind derartige Angriffe eine Ausnahme, auf die oft mit Schauder zurückgeblickt wird, wie auf die Aktivitäten des Komitees für unamerikanische Umtriebe eines Joseph McCarthy.

"Weder strafbar noch rechtswidrig" würde unter den Bedingungen einer gewöhnlichen demokratischen Verfassung bedeuten, es geht die Justiz und den Staatsapparat einen feuchten Kehricht an. Allerdings hat sich Deutschland in den vergangenen Jahren zu einem Staat entwickelt, in dem wieder die Regel der wilhelminischen Obrigkeit in Kraft gesetzt wurde: "Alles, was nicht erlaubt ist, ist verboten", während das, was zu erwarten wäre, gerade, wenn stetig betont wird, wie offen und tolerant man doch sei, heißt "alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt".

Sobald man berücksichtigt, wie der konkrete Sachverhalt rund um das einzige vorhergehende Verfahren gegen eine Publikation, in diesem Fall linksunten.indymedia, aussah, und wie er sich bei Compact darstellt, wird klar, dass das "gerade noch" dieses Urteils zwar der Empörung gegen das überaus dreiste Vorgehen gegen Compact die Spitze nimmt und dem Magazin zumindest vorerst das weitere Erscheinen ermöglicht, aber im rechtlichen Detail eine weitere Verschärfung liefert.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Vorwurf der "politischen Agenda":

"Denn bei der Klägerin, die uneingeschränkt den Schutz der grundrechtlichen Medienfreiheiten genießt, handelt es sich nicht nur um ein Presse- und Medienunternehmen. Vielmehr verfolgt der maßgebliche Personenzusammenschluss nach seinem eigenen Selbstverständnis eine politische Agenda, organisiert Veranstaltungen sowie Kampagnen und versteht sich als Teil einer Bewegung, für die er auf eine Machtperspektive hinarbeitet."

Eine Formulierung, die unter anderem bei der Jungen Welt sämtliche Alarmzeichen aufleuchten lassen müsste; aber auch bei anderen alternativen Medien wie den NachDenkSeiten. Der Begriff des "Presse- und Medienunternehmens" ist hier extrem eng gefasst und verleugnet, dass Publizistik jeder Art originär politisch und die rein kommerziell orientierte Variante eine historische wie statistische Ausnahme darstellt. Eine "politische Agenda" stellt beispielsweise auch das Redaktionsstatut der Springerpresse dar. Es dürfte ausgesprochen mühsam sein, überhaupt ein Medium zu finden, das sich mit politischen Themen befasst und nicht zumindest an seinem Ursprung eine "politische Agenda" hatte. Selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk, folgte er seinem gesetzlichen Auftrag (was er nicht tut), hätte immer noch eine politische Agenda, die in diesem Fall hieße, dem Publikum die vorhandenen politischen Positionen möglichst vollständig und ausgewogen zu übermitteln.

Was im Falle von Compact zum Vorwurf wird, "organisiert Veranstaltungen sowie Kampagnen", ist außerdem eine Tätigkeit, die sich andersherum wieder auch als Marketing und Förderung der Leser-Blatt-Bindung lesen lässt. Viele Medien organisieren Veranstaltungen, bis hin zu großen internationalen Kongressen. Auch Kampagnen. Und besäßen die Richter des Bundesverwaltungsgerichts ein wenig medienhistorische Kompetenz, wäre ihnen klar, dass nicht nur die Hugenberg-Presse eminent politisch war, sondern ihre eigenartige Form von "ist ja nicht richtig eine Publikation, weil zu politisch" auch all jene Medien trifft, in denen die Texte der bekanntesten klassischen deutschen Journalisten veröffentlicht wurden wie die Weltbühne.

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich einfach eine vollkommen irreale Form von Presse- und Medienunternehmen geschaffen, eine Art Ken (den geschlechtslosen Begleiter der Barbie-Puppe) der Medienwelt, ein Konstrukt, das ungefähr so wirklichkeitsnah ist wie ein fußballloser Fußballverein.

Aber dieses Konstrukt ermöglicht es, den Konflikt mit dem Artikel 5.1 Grundgesetz zu minimieren, denn schließlich geht es irgendwie nicht um ein "richtiges" Presse- und Medienunternehmen, sondern um irgendeine gedruckte Form von schmuddeligem politischem Aktivismus. Was ganz nebenbei übrigens auch anklingen lässt, was die Damen und Herren des BVerwG eigentlich wirklich von Demokratie halten: ziemlich wenig. Denn eigenartigerweise lebt Demokratie vom Engagement, von gerade jener Schmuddelecke, in der aus Überzeugung gehandelt wird und nicht aus Gewinnstreben, was ihnen, wie die Verwendung des Begriffs der "politischen Agenda" belegt, zutiefst suspekt ist. Weit vor dem Strafbaren oder Rechtswidrigen.

Was am Ende übrig bleibt von diesem Urteil, ist eine Umkehrung der Echternacher Sprungprozession: ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Oder unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit und der Zukunftsperspektiven unangepasster deutscher Medien: ein Sieg im Konkreten, aber eine Niederlage im Abstrakten.

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