
Fjodor Lukjanow: So hat der Westen den israelisch-iranischen Krieg ermöglicht

Von Fjodor Lukjanow
Israels Angriff auf Iran, der am vergangenen Freitag begann, stellt den Höhepunkt von fast 25 Jahren unerbittlicher Transformation in ganz Westasien dar. Dieser Krieg ist nicht über Nacht entstanden, und er lässt sich auch nicht mit simplen moralischen Kategorien erklären. Was wir jetzt sehen, ist das natürliche Ergebnis einer Reihe von Fehleinschätzungen, falsch verstandenen Ambitionen und Machtvakuen.

Aus dem letzten Vierteljahrhundert lassen sich keine klaren Lehren ziehen. Die Ereignisse waren zu unzusammenhängend, die Folgen zu widersprüchlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie jeder Logik entbehrten. Wenn überhaupt, dann ist das sich entfaltende Chaos der schlüssigste Beweis dafür, wohin westlicher Interventionismus, ideologische Naivität und geopolitische Arroganz geführt haben.
Zusammenbruch des Rahmens
Während eines Großteils des 20. Jahrhunderts wurde der Nahe Osten innerhalb eines fragilen, aber funktionierenden Rahmens gehalten, der weitgehend durch die Dynamik des Kalten Krieges bestimmt war. Die Supermächte stützten lokale Regime, und das Gleichgewicht war – wenn auch keineswegs friedlich – in seiner Vorhersehbarkeit stabil.
Das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung der Sowjetunion haben diese Regeln jedoch außer Kraft gesetzt. In den folgenden 25 Jahren standen die Vereinigten Staaten in der Region unangefochten da. Der ideologische Kampf zwischen "Sozialismus" und "freier Welt" verschwand und hinterließ ein Vakuum, das neue Kräfte schnell zu füllen suchten.
Washington versuchte, die Werte der westlichen liberalen Demokratie als universelle Wahrheiten durchzusetzen. Gleichzeitig entstanden zwei weitere Trends: der politische Islam, der von reformistischen bis radikalen Strömungen reichte; und die Wiedererstarkung autoritärer säkularer Regime als Bollwerke gegen den Zusammenbruch. Paradoxerweise stand der Islamismus – obwohl ideologisch dem Westen entgegenstehend – in seinem Widerstand gegen Autokratie dem Liberalismus näher. Unterdessen wurden eben diese Autokratien oft als das kleinere Übel gegenüber dem Extremismus begrüßt.
Zusammenbruch des Gleichgewichts
Nach dem 11. September 2001 hat sich alles verändert. Die Terroranschläge haben nicht nur eine militärische Reaktion hervorgerufen, sondern auch einen ideologischen Kreuzzug ausgelöst. Washington hat seinen sogenannten Krieg gegen den Terror begonnen, zunächst in Afghanistan, wenig später auch im Irak.
Hier fasste die neokonservative Fantasie Fuß, dass Demokratie mit Gewalt exportiert werden könne. Das Ergebnis war katastrophal. Die Invasion des Irak zerstörte einen zentralen Pfeiler des regionalen Gleichgewichts. In den Trümmern blühte der Sektierertum auf und religiöser Extremismus verbreitete sich wie ein Krebsgeschwür. Aus diesem Chaos entstand der Islamische Staat.
Mit dem Zerfall des Irak stieg Iran auf. Nicht mehr eingekreist, dehnte Teheran seinen Einflussbereich aus – nach Bagdad, Damaskus und Beirut. Auch die Türkei belebte unter Erdoğan ihre imperialen Reflexe wieder. Die Golfstaaten begannen unterdessen, mit größerem Selbstbewusstsein ihren Reichtum und ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Die USA, Architekt dieses chaotischen Zustandes, sahen sich in endlose, aussichtslose Kriegen verstrickt.
Diese Entwicklung setzte sich mit den von den USA erzwungenen Wahlen in Palästina fort, die zu einer Spaltung der palästinensischen Gebiete führten und die Hamas stärkten. Dann kam der Arabische Frühling, der in den westlichen Hauptstädten als demokratisches Erwachen gefeiert wurde. In Wahrheit beschleunigte er jedoch den Zusammenbruch bereits brüchiger Staaten. Libyen wurde zerschlagen. Syrien versank in einem Stellvertreterkrieg. Der Jemen wurde zu einer humanitären Katastrophe. Der unter externem Druck entstandene Südsudan geriet schnell in eine Funktionskrise. All dies bedeutete das Ende des regionalen Gleichgewichts.
Zusammenbruch der Ränder
Das Ende des Autoritarismus im Nahen Osten hat keine liberale Demokratie gebracht. Stattdessen kam der politische Islam auf, der für eine Weile die einzige strukturierte Form der politischen Teilhabe war. Das wiederum hat Versuche ausgelöst, die alten Regime wiederherzustellen, die jetzt von vielen als das kleinere Übel angesehen werden.
Ägypten und Tunesien haben wieder eine säkulare Ordnung eingeführt. Libyen und Irak hingegen sind weiterhin staatenlose Zonen geblieben. Der Weg Syriens ist aufschlussreich: Das Land entwickelte sich von einer Diktatur zu einem islamistischen Chaos und strebt nun eine von ausländischen Schutzmächten zusammengehaltene Autokratie an. Die Intervention Russlands im Jahr 2015 stabilisierte die Lage vorübergehend, doch Syrien driftet nun in Richtung einer nichtstaatlichen Einheit, deren Souveränität unklar und deren Grenzen ungewiss sind.
Inmitten dieses Zusammenbruchs ist es kein Zufall, dass die wichtigsten Mächte im Nahen Osten heute nicht arabisch sind: Iran, Türkei und Israel. Die arabischen Staaten sind zwar lautstark, haben sich aber für Vorsicht entschieden. Im Gegensatz dazu vertreten diese drei Länder jeweils unterschiedliche politische Modelle – eine islamische Theokratie mit pluralistischen Zügen (Iran), eine militarisierte Demokratie (Türkei) und eine westlich geprägte Demokratie, die zunehmend von religiösem Nationalismus geprägt ist (Israel).
Trotz ihrer Unterschiede haben diese Staaten eines gemeinsam: Ihre Innenpolitik ist untrennbar mit ihrer Außenpolitik verbunden. Der Expansionismus Irans ist mit dem wirtschaftlichen und ideologischen Einfluss der Revolutionsgarde verbunden. Erdoğans außenpolitische Eskapaden nähren sein innenpolitisches Narrativ vom Wiederaufstieg der Türkei. Israels Sicherheitsdoktrin hat sich von der Verteidigung hin zur aktiven Transformation der Region verschoben.
Zusammenbruch der Illusionen
Das bringt uns zur Gegenwart. Die liberale Ordnung, die um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt erreichte, strebte eine Reform des Nahen Ostens durch Marktwirtschaft, Wahlen und Zivilgesellschaft an. Sie scheiterte. Nicht nur, dass sie das Alte zerlegte, ohne etwas Neues aufzubauen, sondern gerade die Kräfte, die die Demokratie verbreiten sollten, stärkten oft Sektierertum und Gewalt.
Nun ist der Appetit auf Transformation im Westen versiegt, und mit ihm die liberale Ordnung selbst. An ihre Stelle tritt eine Annäherung von Systemen, die einst als unvereinbar galten. Israel beispielsweise ist nicht mehr ein liberaler Vorposten, umgeben von autoritären Relikten. Sein politisches System ist zunehmend illiberal geworden, seine Regierungsführung militarisiert und sein Nationalismus unverhohlener.
Die Regierung Netanjahu ist der deutlichste Ausdruck dieses Wandels. Man könnte argumentieren, dass der Krieg solche Maßnahmen rechtfertigt – insbesondere nach den Angriffen der Hamas im Oktober 2023. Aber diese Veränderungen haben schon früher begonnen. Der Krieg hat lediglich bereits bestehende Tendenzen beschleunigt.
Mit dem Rückgang des Liberalismus tritt eine neue Art von Utopie an seine Stelle – nicht demokratisch und inklusiv, sondern auf Transaktion ausgerichtet und mit Gewalt durchgesetzt. Trump, die israelische Rechte und ihre Verbündeten am Golf stellen sich einen Nahen Osten vor, der durch militärische Dominanz, Wirtschaftsabkommen und eine strategische Normalisierung befriedet wird. Die Abraham-Abkommen, die als Frieden dargestellt werden, sind Teil dieser Vision. Aber ein Frieden, der auf Gewalt aufgebaut ist, ist kein Frieden.
Wir sehen das Ergebnis. Der Krieg zwischen Iran und Israel kommt nicht aus heiterem Himmel. Er ist die direkte Folge von zwei Jahrzehnten, in denen Normen außer Kraft gesetzt wurden, Ambitionen ungebremst blieben und ein tiefes Missverständnis der politischen Verhältnisse in der Region herrschte. Und wie immer im Nahen Osten sind es die Menschen, die den Preis zahlen, wenn Utopien scheitern.
Übersetzt aus dem Englischen.
Fjodor Lukjanow ist einer der renommiertesten russischen Experten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen und Außenpolitik. Er ist seit 1990 als Journalist tätig und Autor zahlreicher Publikationen zu modernen internationalen Beziehungen und russischer Außenpolitik.
Seit 2002 ist er Chefredakteur von "Russia in Global Affairs". Im Jahr 2012 wurde er zum Vorsitzenden des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands gewählt. Seit 2015 ist er Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai. Lukjanow ist zudem Forschungsprofessor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Globale Politik der Nationalen Forschungsuniversität "Hochschule für Wirtschaft".
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