
"Nationales Erbe" auf Umwegen: Gazprom auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht

Von Gleb Prostakow
Die faktische Ablehnung des Projekts eines Gas-Hubs in der Türkei durch Gazprom und die ungewissen Aussichten für die Pipeline Power of Siberia 2 lassen auf grundlegende Veränderungen in der Strategie des Gasriesen schließen. Die Ära des extensiven Wachstums, das sich auf die Unerschütterlichkeit des europäischen Marktes stützte, scheint vorbei zu sein. Diese Situation hinterlässt eine Menge Fragen und die Notwendigkeit einer schmerzhaften Neubewertung der Rolle des als "nationalen Erbes" bezeichneten Unternehmens in der neuen geoökonomischen Realität.
Die Idee eines türkischen Umschlagplatzes, die 2023 entstand und bei der russisches Gas mit Lieferungen aus Aserbaidschan, Iran und möglicherweise anderen Quellen gemischt und anschließend über einen Börsenmechanismus auf dem europäischen Markt verkauft werden sollte, erschien vor ein paar Jahren noch durchaus logisch. Die Rechnung war einfach: Die Ukraine-Krise würde früher oder später enden, und die europäische Wirtschaft würde trotz aller politischen Erklärungen nicht sofort auf russisches Gas verzichten können. Die zerstörten Nord-Stream-Pipelines und der blockierte Transit durch die Ukraine erforderten alternative Routen, und die Türkei schien mit ihrer geostrategischen Lage und den Ambitionen Recep Erdoğans der ideale Kandidat für die Rolle des südlichen Gastransitlandes Europas zu sein.

Aber die harte Realität hat ihre Korrekturen vorgenommen. Erstens wäre da die berüchtigte mangelnde Verhandlungsfähigkeit des türkischen Staatschefs in Fragen der Preisgestaltung auf dem Hub. Ankara rechnete offensichtlich mit erheblichen Rabatten und Präferenzen, da es sich nicht nur als Transitland, sondern als wichtiger Akteur sah, der die Bedingungen diktiert. Gazprom, das bereits in anderen Bereichen mit Preisdruck konfrontiert war, war kaum bereit, erhebliche Zugeständnisse zu machen, die das Projekt von einem kommerziellen zu einem rein politischen Vorhaben mit zweifelhafter Rentabilität gemacht hätten.
Zweitens, und das ist wohl das Wichtigste, ist da die eiserne Haltung von Brüssel. Europa redet nicht nur davon, die Abhängigkeit zu verringern, sondern setzt sich ein konkretes Ziel: bis 2027 komplett auf russisches Gas zu verzichten. In diesem Paradigma erscheinen alle Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur für russisches Gas absurd. Damit der Gas-Hub in der Türkei seine volle Kapazität erreichen kann, reicht es nicht aus, zusätzliche Leitungen für die TurkStream-Pipelines zu bauen. Griechenland oder Bulgarien müssten ihrerseits neue Pipelines verlegen, um die gestiegenen Mengen aufnehmen zu können. Nur ein unverbesserlicher Optimist kann glauben, dass Brüssel Sofia oder Athen derartige Investitionen im Interesse von Gazprom genehmigen wird. Die Hoffnungen auf "business as usual" sind endgültig begraben.
Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist auch der Wandel in der Rhetorik einiger europäischer Staats- und Regierungschefs, die zuvor als relativ loyal gegenüber Moskau galten. Die jüngste Äußerung von Viktor Orbán, dass "Russland nur die Sprache der Stärke versteht", ist nicht nur eine Redewendung. Die ungarische Wirtschaft ist in hohem Maße von Finanzspritzen aus der EU abhängig, und Budapest sieht sich angesichts der Einschränkung der europäischen Gasambitionen Russlands gezwungen, seine Position anzupassen. Ohne stabile Lieferungen von russischem Gas über vorhersehbare Routen wird Ungarn Flüssigerdgas importieren müssen, wahrscheinlich über die Häfen jener Länder, die Orbán als Enfant terrible der europäischen Politik betrachten. Dies wird unweigerlich seine Verhandlungsposition schwächen und seine Abhängigkeit von Brüssel verstärken.
Nicht weniger unklar sind die Aussichten für die Ostausrichtung in ihrer derzeitigen Form. Die Pipeline Power of Siberia 2 über die Mongolei nach China steht weiterhin auf der Tagesordnung, aber die Verhandlungen über Mengen und vor allem Preise verlaufen schwierig. Peking ist sich seiner quasi monopolistischen Position als Käufer in dieser Richtung bewusst und lässt sich mit seiner Zustimmung zu den Bedingungen Moskaus Zeit. Zusätzliche Unsicherheit bringen die Gefahr einer neuen globalen Wirtschaftskrise sowie die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China mit sich. Unter solchen Bedingungen ist eine stabile, vorhersehbare Nachfrage nach Gas nicht zu garantieren, und ohne sie sind milliardenschwere Investitionen in den Infrastrukturausbau ein Glücksspiel mit hohen Einsätzen.
All dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Gazprom – einst das Aushängeschild des russischen Aktienmarktes – seit drei Jahren keine Dividenden mehr an seine Aktionäre auszahlt. Angesichts des Gewichts des Unternehmens im Moskauer Börsenindex (etwa elf Prozent) wirkt sich diese Situation zwangsläufig auf das Investitionsklima im Land aus, bremst die Entwicklung des Aktienmarktes und untergräbt das Vertrauen privater Anleger. Das "nationale Erbe" wird zu einer immer größeren Belastung für den Haushalt und die Aktionäre. Und seit kurzem auch für die Bürger: Die jüngste Entscheidung der Regierung, die Gastarife zweimal jährlich zu überprüfen, trägt zusätzlich zur Inflation des Unternehmens bei.
Wie sieht also die Zukunft des Gasriesen aus? Derzeit gibt es zwei Hauptrichtungen. Die erste ist die tiefgehende Verarbeitung von Gas und die Entwicklung der Gaschemie. Der Bau der Amur-Gasaufbereitungsanlage ist ein anschauliches Beispiel für diesen Weg. Die Herstellung von Produkten mit hoher Wertschöpfung anstelle des Exports von Rohstoffen ist ein logischer und längst überfälliger Schritt.
Die zweite Richtung ist Flüssigerdgas (LNG). Hier eröffnen sich Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit einem weiteren wichtigen Akteur auf dem russischen Gasmarkt – Nowatek. Theoretisch könnte die Synergie zwischen der Ressourcenbasis von Gazprom und den LNG-Exportkapazitäten von Nowatek (Terminals und Flotte) einen starken Impuls für die Entwicklung dieses Bereichs geben. Eine solche Zusammenarbeit würde jedoch nicht nur enorme Kapitalinvestitionen erfordern, um die Förderanlagen mit den Verflüssigungsanlagen und der Exportinfrastruktur zu verbinden. Auch die Lösung komplexer Fragen der Unternehmensführung und Gewinnverteilung wären nötig. Wie eine solche Partnerschaft ausgestaltet würde, falls sie überhaupt zustande kommt, ist noch offen.
Gazprom findet sich im Zentrum eines geopolitischen Sturms wieder, der die Landschaft des globalen Energiemarktes grundlegend verändert. Nun wird die über Jahrzehnte aufgebaute Exportstrategie des Unternehmens infrage gestellt. Der Verlust des europäischen Premiummarktes bedeutet nicht nur einen Rückgang der Verkaufszahlen, sondern den Zusammenbruch eines ganzen Geschäftsmodells, auf dem das Wohlergehen des Monopols beruhte.
Das Letzte, was noch zu erwähnen ist, ist die "Wildcard" in Gestalt des ebenso unternehmungslustigen wie unberechenbaren Donald Trump. Die Idee, Nord Stream aufzukaufen und den Transit von russischem Gas durch Polen freizugeben, schwebt immer noch in der Luft. Der Wunsch, mit dem Export fremden Gases Geld zu verdienen und den europäischen Energiemarkt aufzuteilen, entspricht ganz dem Geiste Trumps. Eine andere Frage ist, wie interessant dies für Russland sein könnte. Denn die Logik des US-amerikanischen Präsidenten, "wegzunehmen, zurückzugehen und zu verdienen", passt nicht immer zur Logik der geopolitischen Konfrontation, in der das große Gasgeschäft nach wie vor eine wichtige Rolle spielt.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 17. Juni 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Gleb Prostakow ist ein russischer Wirtschaftsanalyst.
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